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Der Schauermann - Historischer Thriller

Der Schauermann - Historischer Thriller

Martin Barkawitz

 

Verlag BookRix, 2019

ISBN 9783739630397 , 187 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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3,99 EUR

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Der Schauermann - Historischer Thriller


 

1. Kapitel: Die Brooktorwache



»Wir melden uns ab«, sagte Polizei-Offiziant Lukas Boysen und schob sich ein Stück Kautabak in den Mund. Die Turmuhr von St. Katharinen schlug die zwölfte Nachtstunde, und bisher war der Dienst auf der Brooktorwache eher ruhig gewesen.

»Alles klar, bis später«, gab Constabler Brügge zurück, bevor er die Stahlfeder erneut ins Tintenfass tunkte, um an seinem Bericht weiterzuarbeiten.

Boysen trug als Offiziant die Verantwortung für die Wache mitten auf der Wandrahminsel im Hafen, die mit 20 Constablern besetzt war. Die Vorgesetzten erwarteten von ihm, dass er im Wachlokal hocken blieb wie die Spinne im Netz – Gesäßfleischarbeit. So pflegte Boysen den Stubendienst jedenfalls selbst zu nennen, und er war kein Freund der Tätigkeit am Schreibpult.

Also nutzte er jede Gelegenheit, um höchstpersönlich durch sein Revier zu patrouillieren. In dieser Nacht wollte er gemeinsam mit Constabler Enno Okkinga auf Streife gehen, einem schweigsamen Friesen mit einem langen Pferdegesicht.

Boysen strich seinen dunkelblauen Waffenrock glatt. Er platzierte den hohen Helm mit Kugelspitze, Hamburger Wappen und Polizeistern auf seinem knochigen Schädel. Okkinga folgte seinem Beispiel. Die beiden Ordnungshüter traten aus der Brooktorwache hinaus in die milde Sommernacht. Im Gleichschritt wandten sie sich zunächst nach Osten, Richtung Holländischer Brook. Boysen legte die linke Hand auf die Glocke seines Säbels, den er am schwarzen Koppel trug. Die rechte Hand spielte mit dem Dienststock. Okkinga hingegen hatte beide Hände um seinen Dienststock geklammert und die Arme hinter dem Rücken verschränkt, wie es seine Gewohnheit war. Der Friese ging leicht gebückt, als ob er einen zentnerschweren Kartoffelsack schleppen müsste.

»Bin mal gespannt, wie viele Auswanderer uns heute über den Weg laufen«, meinte Boysen, um etwas zu sagen. Seit Jahren strömten tausende und abertausende von Menschen nach Hamburg, um sich von dort aus nach Amerika einzuschiffen. Die meisten von ihnen kamen aus Russisch-Polen und der Ukraine. Sie sprachen kein Deutsch und wollten so schnell wie möglich Europa verlassen, denn ihr Geld reichte meist nur für die Passage nach New York. Den Aufenthalt in Hamburg konnten sie sich eigentlich gar nicht leisten.

Okkinga erwiderte nichts, aber daran hatte sich Boysen schon gewöhnt. Der pferdegesichtige Friese war unglaublich mundfaul. Aber Boysen ging trotzdem gern mit ihm auf Patrouille, denn er wusste Okkingas Zuverlässigkeit und Genauigkeit zu schätzen. Außerdem erwies sich der stille Mann als ein harter Kämpfer, wenn sie in eine Schlägerei gerieten. Und das kam nicht gerade selten vor.

Am Holländischen Brook gab es noch ein paar düstere Ecken, die von den neuen elektrischen Straßenlampen nicht ausgeleuchtet wurden. Aus der Finsternis tönte den beiden Ordnungshütern ein unterdrücktes Keuchen entgegen.

Boysen griff zu seiner Blendlaterne. Seine andere Hand glitt in die Tasche des Waffenrocks und umfasste den Griff seines Bulldogg-Revolvers. Schusswaffen gehörten eigentlich nicht zur Ausrüstung des Hamburger Constabler Corps. Lediglich die Patrouillen in den ländlichen Außenbezirken der Stadt waren mit Karabinern ausgerüstet. Boysen, der es mit den Dienstvorschriften ohnehin nicht so genau nahm, hatte sich seinen Sechsschüsser privat gekauft. Er wollte sich nicht von irgendeiner zweibeinigen Hafenratte niederknallen lassen, ohne sich wehren zu können.

Der Offiziant ließ den Lichtkegel seiner Blendlaterne langsam in die Richtung wandern, aus der die verdächtigen Geräusche gekommen waren. Seinen Revolver hielt Boysen schussbereit. Doch gleich darauf entspannten sich die beiden Ordnungshüter und begannen zu lachen.

Von dem heftig kopulierenden Pärchen auf den gestapelten Jutesäcken ging ganz gewiss keine Lebensgefahr aus.

»Wenn es am Schönsten ist, soll man aufhören!«, rief Boysen. Er dachte nicht daran, die Blendlaterne von den gespreizten Schenkeln des Mädchens und den stoßenden Hüften des Jünglings abzuwenden. Der Milchbart wandte den beiden Männern sein gerötetes Gesicht zu.

»Verdammte Udels!«, schimpfte er. Aber gleich darauf – ob nun vor Aufregung oder weil die Zeit ohnehin gekommen war – beendete er die lustvolle Vereinigung. Das Mädchen war vielleicht 17 oder 18 Jahre alt. Sie zerrte ihren Rock über ihre weißen Schenkel und blickte beschämt zu Boden.

Der Offiziant kam einen Schritt auf sie zu und hob mit dem Zeigefinger ihr Kinn.

»Schau mir ins Gesicht!«, forderte Boysen. »Hat der Kerl dir Gewalt angetan?«

»He, was soll das? Warum mischt ihr euch ein?«, protestierte der Junge und wollte Boysen angehen. Okkinga packte ihn und drehte ihm die Arme auf den Rücken.

»Nein, ich ... Jan ist mein Verlobter. Wir wollen heiraten«, stammelte die Deern. Boysen nickte langsam. Vor seinem geistigen Auge lief das Leben der beiden jungen Leute ab. Er kannte ihre Schicksalswege genau, weil sie denen von tausenden anderer junger Hamburger zum Verwechseln ähnlich waren. Das Mädchen lebte gewiss bei ihren Eltern, gemeinsam mit mindestens sechs bis acht Geschwistern. Der Junge logierte wahrscheinlich als Schlafbursche bei einer Vermieterin, vermutlich bei einer alten Witwe. Er hatte kein Geld für ein eigenes Zimmer, geschweige denn für eine Wohnung. Daher musste das Liebespaar sich im Freien treffen, wenn es seiner Lust freie Bahn lassen wollte.

Aber irgendwann würde der Jüngling doch ein paar Pfennige mehr Löhnung bekommen, seine blasse Deern ehelichen und mit ihr einen Stall voller Kinder zeugen, die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnten. Das ist der Lauf der Welt, dachte Boysen fatalistisch. Er drehte den Kopf zur Seite und spuckte braunen Tabaksaft auf das Kopfsteinpflaster.

»In Ordnung, ihr dürft gehen. Aber lasst euch heute Nacht nicht noch einmal von uns erwischen. Sonst müssen wir euch wegen öffentlicher Unzucht einsperren.«

Boysen brachte Okkinga durch eine Geste dazu, den jungen Mann loszulassen. Dieser taumelte vorwärts und legte den Arm schützend um die Schultern seiner Freundin. Er murmelte etwas vor sich hin, das gewiss keine Freundlichkeit war.

Der Offiziant beachtete das Pärchen nicht weiter. Die beiden waren im Grunde harmlos, das wusste er selbst. Der Junge und das Mädchen eilten Hand in Hand Richtung Wandrahmsteg davon.

Boysen und Okkinga setzten ihren Rundgang zwischen den Warenspeichern fort.

»Ja, man müsste auch mal wieder ablassen«, sagte der Friese plötzlich. Seine Stimme hatte einen träumerischen Unterton.

Boysen hob eine Augenbraue und warf dem Constabler einen überraschten Seitenblick zu. Okkinga redete kaum, wenn er nicht direkt angesprochen wurde. Da Boysens Untergebener nun sogar freiwillig das Wort ergriff, war das ein Beweis dafür, dass Okkinga einen wirklich starken inneren Druck verspüren musste. Der Anblick des kopulierenden Pärchens hatte den friesischen Ordnungshüter offenbar auf Ideen gebracht. Dafür hatte Boysen vollstes Verständnis.

»Hast Recht, Okkinga«, meinte der Offiziant. »Wir schauen nachher noch bei Frau Lehmkuhl nach dem Rechten.«

Mit dieser Antwort gab sich der Friese einstweilen zufrieden und nickte vor sich hin. Nun erweckte Okkinga wieder den Eindruck, im Gehen zu schlafen. Doch wenig später wurde die Streife mit dem nächsten Problem konfrontiert.

Am St. Annen-Ufer war ein leckes Ruderboot an Land gezogen worden. Es ruhte kieloben direkt an der Kaimauer. Boysen ging in die Knie und leuchtete mit seiner Blendlaterne unter das Boot. Zwischen das Straßenpflaster und die Reling waren große Holzkeile getrieben worden.

»Da liegt einer drunter«, sagte Boysen zu Okkinga. Und er rief laut: »Rauskommen, aber sofort! Hier ist die Polizei!«

Zur Bekräftigung seiner Worte schlug der Offiziant mit seinem Dienststock auf den hölzernen Boden des Wasserfahrzeugs. Nun bemerkten die Ordnungshüter, dass mindestens sechs Personen unter das Boot gekrochen waren, darunter mehrere Kinder. Weinen, Wehklagen und Gejammer erklangen.

»Rauskommen, sonst werde ich ungemütlich!«, drohte Boysen. Er drosch weiter auf den Bootsrumpf ein. Die zerlumpten Schläfer kamen hervorgekrabbelt. Sie redeten wild durcheinander. Die Kleinen klammerten sich zitternd an die Röcke der Mutter, die einen Säugling auf dem Arm trug. Das Gesicht des Mannes war von einem schwarzen Bart zugewuchert. In hündischer Ergebenheit kniete er vor Boysen und duckte sich, als ob er einen Schlag erwartete.

»Poschalsta ... poschalsta«, wimmerte der Bärtige. Das war jedenfalls das einzige von seinen Wörtern, das Boysen verstand. Der Mann war garantiert ein Auswanderer, und er bat die Beamten auf Russisch um irgendetwas. Worum? Boysen wusste es nicht, aber er konnte es sich denken.

»Ihr könnt hier nicht im Freien übernachten«, sagte er lahm. Dabei wusste der Offiziant, dass die zerlumpte Familie ihn nicht verstand. Sie wollten nicht Deutsch lernen, sondern nach Amerika auswandern, wo sie sich ein besseres Leben erhofften. Hamburg war die letzte Station auf ihrer Irrfahrt quer über den europäischen Kontinent. Sie kamen aus den...