Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Eingefroren am Nordpol - Das Logbuch von der »Polarstern«. Die größte Arktisexpedition aller Zeiten - Der Expeditionsbericht

Eingefroren am Nordpol - Das Logbuch von der »Polarstern«. Die größte Arktisexpedition aller Zeiten - Der Expeditionsbericht

Markus Rex

 

Verlag C. Bertelsmann, 2020

ISBN 9783641262099 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

19,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Eingefroren am Nordpol - Das Logbuch von der »Polarstern«. Die größte Arktisexpedition aller Zeiten - Der Expeditionsbericht


 

Kapitel 1


Es beginnt

20.9.2019, Tag 1


Die Polarstern liegt erhaben an der Pier von Tromsø, ihr gewaltiger Rumpf in der anbrechenden Dunkelheit erleuchtet von einer Lichtinstallation zu unserem festlichen Abschied. Es ist so weit! Ich stehe an Bord und schaue auf die feiernde Menge an Land. Die Decks auf Steuerbord, unserer Landseite, sind voll mit Leuten. Wir: Das sind die etwa 100 Wissenschaftler, Techniker und Mitglieder der Schiffscrew, die das Wagnis eingehen, sich monatelang im Eis einfrieren zu lassen – allein am Ende der Welt, auf der größten Arktis-Expedition jemals.

Ich blicke nach unten. Zur Feier unserer Abfahrt haben Künstler eine bewegliche Eisscholle aus Licht auf den Beton des Piers projiziert, im Abenddunkel leuchtet das Festzelt auf der Werft. Hier haben uns Bundesforschungsministerin Anja Karliczek, der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft Otmar Wiestler und die Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) Antje Boetius mit Reden verabschiedet, eine Ehrung für uns und unser Vorhaben – und ein Zeichen dafür, wie wichtig das Thema Arktis und Erderwärmung für Politik und Gesellschaft geworden ist. Viel Presse ist gekommen. Eben noch haben wir unten angestoßen, uns besonders herzlich von unserer AWI-Direktorin verabschiedet, die sich viele Jahre so nachdrücklich für unsere Expedition eingesetzt, vieles mitgeplant und ermöglicht hat – und nun allzu gerne selbst mit uns mitfahren würde. Sehe ich da eine kleine Träne? Das muss am steifen Wind in Tromsø liegen! Auch Uwe Nixdorf, Leiter unserer Logistikabteilung und Mastermind hinter dem Logistikkonzept der Expedition, und Klaus Dethloff, Vater der MOSAiC-Idee, stehen unten und sehen mit Stolz, wie unsere Pläne nun Wirklichkeit werden. Eine Expedition wie unsere kann kein Land und keine Institution allein stemmen; viele, viele Menschen haben lange dafür gearbeitet und gekämpft – jetzt teilen wir die große Freude, dass sich all das gelohnt hat. Die Gäste unserer Abschiedsfeier halten ihre Gläser zum Zuprosten in die Luft – denn zwischen uns und ihnen liegt jetzt meterhoch der Schiffsrumpf der Polarstern. Unten winken Freunde und Familie, darunter meine Frau, meine beiden Söhne. Auch wir winken. Viele Augenpaare suchen ein letztes Mal den Blick ihrer Liebsten. Aber die Stimmung ist zu ausgelassen für Tränen, und wehmütige Gedanken haben gar keinen Platz.

Denn: Es geht los! Die Band spielt, die Gangway hebt sich, die Leinen werden eingeholt, und mit einem langen Tuten des Schiffshorns setzt sich Polarstern gemächlich in Bewegung. Schon bald können wir die Menschen im Hafen nicht mehr ausmachen. Unsere Freunde verschwinden im Dunkel, die Musik der Feier verschluckt der Wind.

Ich bleibe noch lange an Deck stehen und blicke über den Fjord. In der Dunkelheit ziehen die Lichter der Küste und später die der norwegischen Inseln vorbei. Heimeliges Leuchten in gemütlichen norwegischen Häusern. Ganz so wie in dem Häuschen, in dem ich mit meiner Familie wohne, im fast dörflichen Kern von Potsdam-Babelsberg. Lange werde ich diesen Ort nicht mehr sehen. Während dort an Land für die Menschen und ihre Familien gerade ein normaler Tag zu Ende geht, werden wir an Bord auf lange Zeit keine normalen Tage mehr haben, unsere Familien nicht treffen. Was wird uns wohl die nächsten Monate erwarten?

Die letzten Wochen vor der Expedition fühlen sich im Rückblick fast irreal an, so flirrend voll mit den letzten Vorbereitungen waren sie. In meinem Haus sah es aus wie in einem Expeditionsvorbereitungslager, überall türmten sich Haufen mit Dingen zum Packen. Vor allem aber wurde die verbleibende Zeit mit meiner Familie von Tag zu Tag wertvoller. Langsam ist es in unser aller Bewusstsein gesickert: Im nächsten Jahr werden wir uns insgesamt neun Monate nicht sehen, Weihnachten, Neujahr und alle unsere Geburtstage getrennt feiern. Trotzdem sind meine beiden Söhne, neun und elf Jahre alt, begeistert von der Expedition. Sie wissen alles darüber und fiebern mit. Das macht es einfacher für mich und tröstet etwas über die lange Trennung hinweg. Meine Frau kennt mich nicht anders – ich bin schon immer auf langen Expeditionen gewesen –, und auch sie teilt meine Begeisterung dafür. Wenigstens können wir uns während der Expedition Nachrichten schicken, anders als frühere Generationen von Polarforschern.

Am 23. September begrüßt die Arktis uns mit einem prachtvollen Polarlicht.

© Markus Rex

Ich bin in diesen Tagen in Gedanken oft bei Fridtjof Nansen und seinem Team, die vor 126 Jahren zu einer ganz ähnlichen Forschungsreise aufgebrochen sind – und in einer gewaltigen Pionierleistung mit ihrem hölzernen Segelschiff, der Fram, gezeigt haben, dass so eine Expedition überhaupt funktioniert. Sie brachen damals ins komplett Unbekannte auf, ohne jede Kommunikation zur Außenwelt und ohne zu wissen, ob sie jemals lebend zurückkommen würden. Wie mag es ihnen damals in den Tagen vor dem Aufbruch ergangen sein, was hat sie bewegt? Welche bangen Gefühle müssen diese Männer (ja, damals waren es nur Männer, das ist heute anders) und ihre Familien bei ihrem Abschied gehabt haben – und um wie viel besser haben wir es heute!

Und jetzt sind wir wirklich unterwegs! Das Kielwasser, das Polarstern aufwirbelt, schlägt erst schaumige Wellen und wird dann immer kleiner, bis es schließlich im Meer aufgeht und seine Bahn ganz verschwindet. Es tut gut, dabei zuzusehen. Als ob auch die Jahre der Planung und die letzten stressigen Tage im Hafen von Tromsø sich immer weiter von uns entfernen.

Sosehr uns die Eindrücke der letzten Tage an Land überflutet haben, geben sie jetzt der Ruhe Platz, die jeder auf einem Schiff empfindet, das durch den Ozean langsam und beständig seinem Ziel entgegengleitet. Besonders, wenn man dabei beobachtet, wie das Kielwasser im dunklen Nichts des nächtlichen Meeres verschwindet.

Langsam macht sich bei mir die Erkenntnis breit, dass wir tatsächlich unterwegs sind, dass wir ab jetzt auf uns gestellt sind. Was für die eigenen Socken, Stirnlampe und Wollmütze gilt, trifft auch auf Ausrüstung und Proviant für die Expedition zu: Wir sind jetzt auf Gedeih und Verderb auf das angewiesen, was wir dabeihaben. Unterwegs kaufen geht nicht. Nachsenden funktioniert nicht. Hilfe von außen können wir nicht mehr erwarten.

INFO

Polarstern


Seit 1982 fährt die Polarstern in die entlegensten Winkel der Erde. Sie hat viele Aufgaben. Zum einen versorgt sie die deutsche Forschungsstation in der Antarktis: die Neumayer-III-Station auf dem Ekström-Schelfeis nahe der Atka-Bucht. Außerdem ist das Schiff nahezu permanent im Forschungseinsatz in den Polargebieten, wo es Eis, Meer und das Leben darin, biogeochemische Prozesse, die Atmosphäre und das Klima erforscht. So verbringt Polarstern im Schnitt 310 Tage des Jahres fernab ihrer Heimat Bremerhaven.

Polarstern ist einer der fähigsten Forschungseisbrecher weltweit: Das Schiff besitzt eine starke doppelte Wand und den typischen abgerundeten Rumpf, mit dem es ohne Probleme durch 1,5 Meter dickes Eis brechen kann. 20 000 PS geben ihm genug Kraft, um sich auch durch massiveres Eis zu rammen.

Der Eisbrecher ist eine schwimmende Forschungseinrichtung: In seinem Innern befinden sich neun Labore mit hochspezialisierten Instrumenten. Für MOSAiC wurde das Schiff unter anderem mit einem neuen wissenschaftlichen Containerdeck im Bug ausgestattet.

Paradoxerweise ist das eine beruhigende Erkenntnis. Die Welt ist mit einem Mal ganz klein. Es mangelt an Möglichkeiten und Handlungsoptionen, aber gerade das ist seltsam entspannend. Hektisch kreisende Gedanken, was unbedingt noch auf den letzten Drücker erledigt oder besorgt werden muss, werden sinnlos. Vor dem Ablegen haben wir in immer kürzer werdenden Zeiteinheiten gedacht, zuletzt in Stunden und Minuten – jetzt haben wir alle Zeit der Welt. Die Expedition dauert ein Jahr. Sie ist kein Sprint, sie ist ein Marathon. Und den geht man mit Ruhe und Gelassenheit an. Ich packe noch ein paar meiner vielen Kisten aus, dann gehe ich ins Bett und schlafe ab der ersten Minute wie ein Stein. Das Schiff wiegt einen wunderbar in den Schlaf, da ist Verlass auf Polarstern.

21.9.2019, Tag 2


Der erste Morgen auf See. Noch sehen wir aus dem wolkenverhangenen Himmel einige norwegische Inseln am Horizont hervorblitzen, bis sie gegen Mittag ganz verschwinden. Gleichzeitig setzt das Handynetz aus. Die Funkwellen der Zivilisation erreichen uns nicht mehr. Wacker stampft die Polarstern durch die recht aufgewühlte See. Wir umrunden gegen elf Uhr vormittags das skandinavische Nordkap und nehmen Kurs auf Nordosten, hinein in die Barentssee, die spätsommerlich eisfrei und offen vor uns liegt.

Es ist gut, die Bewegung des Schiffes zu spüren, das so vertraute Rollen und Stampfen, mit dem Polarstern unterwegs ist. Mich zieht es auf das Peildeck, das höchste Deck oberhalb der Schiffsbrücke, in den steifen Wind, das stampfende Schiff unter mir, der Blick ringsum frei bis zum Horizont. Es ist einer meiner Lieblingsplätze auf der Polarstern.

22.9.2019, Tag 3


Wir machen im offenen Wasser sehr gute Fortschritte entlang der Nordostpassage und laufen mit gut 13 Knoten gegen den Wind. Der frischt im Laufe des Tages auf, und in vier Metern mittlerer Wellenhöhe rollt Polarstern munter...