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Blickrichtungswechsel - Lernen mit und von Menschen mit Demenz

Blickrichtungswechsel - Lernen mit und von Menschen mit Demenz

Brigitta Schröder

 

Verlag Kohlhammer Verlag, 2021

ISBN 9783170371569 , 140 Seiten

4. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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16,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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Blickrichtungswechsel - Lernen mit und von Menschen mit Demenz


 

2          Miteinander auf dem Weg sein


 

 

 

80 % der Menschen mit Demenz leben zu Hause und werden von ihren Angehörigen versorgt. Die Diagnose »Demenz« kann eine Reihe von widersprüchlichen Gefühlen hervorrufen. Auf der einen Seite bewirkt das Untersuchungsergebnis oft einen Schock, gleichzeitig löst es Erleichterung aus, denn viele alltägliche, irritierende Gegebenheiten und Verhaltensweisen, die bislang unverständlich gewesen sind, finden eine Erklärung.

Im häuslichen Bereich ist es sinnvoll, die Umgebung frühzeitig angemessen einzurichten, um Unfälle, Selbst- und Fremdgefährdungen zu vermeiden. Das beginnt mit den einfachen Vorkehrungen, wie Teppiche und Kabel entfernen, um Sturzgefahr zu verhindern, sowie Putzmittel und Medikamente wegzuschließen. Im Baulichen sind Veränderungen vorzunehmen. Das bedeutet Schwellen entfernen, Handgriffe anbringen, Treppenlift oder Scalamobil einsetzen, um Stufen zu überwinden. Weitere Schritte sind Energiezufuhr ausschalten, um Betroffene sowie Fremde nicht zu gefährden und um Brandgefahr zu vermeiden. Auch Elektrogeräte, Bügeleisen, spitze Gegenstände etc. sind zu entfernen. Schränke sind teilweise zu verriegeln. Fenster und Balkontüren sind zu sichern. Dies alles sind Maßnahmen, die mühselig umzusetzen sind, schließlich aber zu Erleichterungen führen, da sie ein konfliktfreieres Zusammenleben schaffen.

Der Alltag ist neu zu planen, zu strukturieren und mit organisatorischen Hilfsmitteln zu versehen. Das können Dokumentationen, eine Aufstellung der Trinkmenge und Kalorienzufuhr, Notizen über die Tagesbefindlichkeit und markante Erlebnisse oder eine »Ideenbörse« zur Förderung von Kreativität und Fantasie sein. Dieses Vorgehen bietet Orientierung und unterstützt das Miteinander.

Malen und Spielen sind oft beglückende Tätigkeiten, die zweckfrei ausgeübt werden sollen, wie auch rhythmische, tänzerische Bewegungen und ritualisierte Spaziergänge. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.

Bei allen Tätigkeiten sollte man sich auf die Gefühlsebene, die Ebene von Menschen mit Demenz, begeben, fernab von Funktionalität und Konventionen. Die Mitarbeit im Haushalt, die handlungsorientiert ist und keine Ziele beinhaltet, ist oft zeitaufwendig aber dennoch lohnenswert, weil sie gegen die empfundene Sinnlosigkeit des Daseins wirkt. Wer sich Zeit nimmt, gewinnt Zeit. Die Betroffenen werden durch die Beteiligung integriert. Sie haben die Chance, sich in ihrem Sosein zu erproben und zu erleben.

Wichtig für die Begleitenden ist, sich immer wieder vom Betroffenen abzugrenzen und gut für sich selbst zu sorgen, zum Beispiel durch Mittagsruhe oder Lesezeiten. Diese Pausen sind wie Oasen, in denen neue Kraft geschöpft wird.

Bei allen Belastungen ist das Lachen nicht zu vergessen. Lachen entspannt, ist die beste Medizin und sogar kostenlos. Menschen, die wenig zu lachen haben, sollten dies umso mehr tun. Lachen fördert die Lebensenergie, stärkt das Immunsystem sowie das Selbstbewusstsein und verringert Stress. Die Aussage »Nimm das Leben mit Humor, vieles kommt dir leichter vor« ist entlastend. An Stelle von Schuldgefühlen, Korrekturen, Anweisungen oder Niedergeschlagenheit, weil es nicht mehr so ist wie früher, können kreative Ansätze zur Entspannung führen. Das bedeutet, neue ungewohnte Wege des Miteinanders zu suchen und zu finden. Das Lachen ist gesundheitsfördernd, entspannt, regt den Kreislauf an und wirkt wie eine Sauerstoffdusche. Der indische Arzt Dr. Madan Kataria hat das weltweit verbreitete »Lachyoga« entwickelt. Solche Lachübungen schützen vor Energieverlust und Depressionen, sind gesundheitsfördernd und bewahren vor »Ausbrennen«.

Hanns Dieter Hüsch schreibt:

»Lachen und Weinen

Halten den Menschen am Leben

Und halten ihn nicht nur am Leben

Sondern bewegen ihn auch

Nicht aufzugeben

Nicht bitter zu werden

Erfinderisch zu sein

Andere verstehen zu lernen …«

2.1       Herausfordernder Rollenwechsel


Entwickelt ein Familienmitglied eine Demenz, werden die vorhandenen Familienstrukturen durcheinandergewirbelt. Die Beziehungen verändern sich. Für viele Familienmitglieder ist es erforderlich, einen Rollenwechsel zu vollziehen.

Die Eltern-Kind-Beziehung verkehrt sich ins Gegenteil: Kinder übernehmen die Rolle der Eltern, Eltern werden abhängig und schutzbedürftig.

Die Ehebeziehung verschiebt sich: Partner sind nicht mehr gleichberechtigt. Sie sind noch verheiratet und sind es doch nicht mehr.

Es sind große psychische Anpassungsleistungen der Nahestehenden erforderlich, um die tiefgehende Persönlichkeitsveränderung von Menschen mit Demenz zu verarbeiten und anzunehmen. Dieser anstrengende Rollenwechsel braucht Zeit, ist schmerzhaft und ohne Begleitung und Beratung kaum zu bewältigen. Bei Kontakten mit Selbsthilfegruppen, Treffen mit Angehörigen oder in professionellen Gesprächen werden Wege der Bejahung aufgezeigt.

Wer Gefühle wie Wut, Schuld und Angst annimmt und ausdrückt, kann diese Energien positiv umwandeln, statt der Verdrängung und der Verneinung Raum zu geben. Sich einzugestehen, dass die neuen Wege steinig und steil sind, unterstützt, diese Herausforderungen getroster anzugehen. Fehler, Selbstmitleid und Selbstzweifel gehören zum Prozess der Veränderung. Gelassenheit ist angesagt!

»Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen,

die ich nicht ändern kann,

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,

und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«

Reinhold Niebuhr

Mit dem Tag der feststehenden Diagnose beginnt die Phase des sich Verabschiedens. Bewusst oder unbewusst findet eine vorweggelebte Trauer statt. Betroffene und Angehörige ahnen den unvermeidlichen, schmerzhaften Abschied. Auch in dieser Situation sind Annahme und Verarbeitung eine kraftzehrende Arbeit.

2.2       Selbstfürsorge und Selbstschutz


Das Anerkennen und die Bewahrung der eigenen Autonomie bedeutet, Räume für sich zu entdecken und zu gestalten. Die ständige Bereitschaft, sich immer wieder selbst zu reflektieren, das stetige Einüben von Selbstliebe und eigener Wertschätzung, gibt Kraft, diesen oft beschwerlichen, hindernisreichen Weg souverän zu gehen. Ausdrucksformen wie Malen, Singen, Musizieren, lautes Stöhnen, Seufzen oder Bewegung wirken entlastend.

Bei mühsam organisierten Freiräumen sollte beim Verlassen des Hauses die Tür bewusst geschlossen werden, um die belastenden Schwierigkeiten abzulegen. Auf diese Weise wird der Augenblick gelebt. Energie zu tanken wird leichter und die begrenzte freie Zeit wird ausgekostet.

Ein Notizbuch anzulegen, um erfreuliche, bereichernde Erlebnisse zu notieren, kann in schwierigen Zeiten inspirierend wirken und ist wie eine stille Reserve.

Begleitende, insbesondere Angehörige, die mit dementen Menschen zusammen in einer Wohnung leben, brauchen Ermutigung und Unterstützung, damit sie lernen, gut für sich selbst zu sorgen. Ist die Selbstfürsorge gegeben, ist auch für das Gegenüber gut gesorgt.

In jedem Menschen ist ein »heiliger Raum«, wo das Transzendentale, der innerste Kern, das Göttliche, zu Hause ist. Das Bewusstwerden dieses Ortes spendet Kraft, überwindet Mattigkeit und schenkt im richtigen Moment das Richtige.

Dem Innendruck – gemeint sind damit angestaute Emotionen – einen Ausdruck geben, entlastet und befreit. Dadurch entsteht Raum, um Unerwartetes, das zum Staunen führt, aufzunehmen und sich daran zu erfreuen. Zeitfenster sind immer wieder zu entdecken, um aufatmen zu können, sich zu bewegen und Belastungen bewusst abzustreifen. Das ist keine Frage der Zeit, sondern eine Frage der Haltung. Sich selber wertschätzen, sich loben, Oasen gestalten, sich ganzheitlich pflegen, all das sind Vorgehensweisen, die entlasten und Kraftquellen sind. Bei Ärger oder Enttäuschung ist es eine Entlastung, auch diesen oft als negativ bewerteten Gefühlen Ausdruck zu geben.

Erinnerungen auffrischen, sich in die Zeit der Verliebtheit versetzen, Geburten der Kinder oder andere wohltuende Ereignisse sich bewusst machen, wirkt unterstützend. Bei Tagesanfang kann ein Text, ein Lied oder ein Vers ein Tagesbegleiter sein, der belebt und ermutigt. Ähnlich wie für einen Bergsteiger, Höhlenwanderer oder Gipfelstürmer, der sich auf eine anstrengende Zeit vorbereitet, ist es sinnvoll, für bevorstehende, schwierige Situationen eine gute Ausrüstung mit wenig Gepäck zu...