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Die Macht der Wahrnehmung - Wie unser Gehirn uns täuscht und wie uns das zu mehr Erfolg und stabileren Beziehungen verhilft. Über die faszinierende Welt der Selbsttäuschung

Die Macht der Wahrnehmung - Wie unser Gehirn uns täuscht und wie uns das zu mehr Erfolg und stabileren Beziehungen verhilft. Über die faszinierende Welt der Selbsttäuschung

Shankar Vedantam, Bill Mesler

 

Verlag riva Verlag, 2022

ISBN 9783745317510 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR

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Mehr zum Inhalt

Die Macht der Wahrnehmung - Wie unser Gehirn uns täuscht und wie uns das zu mehr Erfolg und stabileren Beziehungen verhilft. Über die faszinierende Welt der Selbsttäuschung


 

2
Es wird schon alles gut gehen


»Nichts erklärt, warum

selbst weit fern von Einsamkeit

es immer noch schwieriger wird

Worte zu finden, zugleich wahr und gütig,

oder zumindest nicht falsch und nicht bösartig.«

Philip Larkin, Talking in Bed

Der deutsche Philosoph Immanuel Kant verabscheute die Lüge. Und das in einem Ausmaß, dass er forderte, man müsse selbst einem Mörder, der uns nach dem Aufenthaltsort seines nächsten Opfers fragt, wahrheitsgemäß Auskunft geben. »Weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehen werden muss«, so Kant. Nur wenige würden wohl so weit gehen, einem Mörder zu verraten, wo sich sein künftiges Opfer versteckt. Die meisten Menschen aber stimmen Kant darin zu, dass Lügen schlecht sind, die Wahrheit aber gut. Ehrlichkeit ist eine der am höchsten geschätzten Tugenden. Umfragen zeigen, dass Amerikaner Ehrlichkeit als das Kriterium nennen, das ihre Entscheidung bei Präsidentenwahlen am stärksten beeinflusst. Mehr als Führungsqualitäten oder Intelligenz jedenfalls. (Obwohl die Resultate einiger vergangener Wahlen den Schluss nahelegen, dass die Amerikaner hier einem gewissen Selbstbetrug unterliegen.)

Doch aller vorgeblichen Liebe zur Ehrlichkeit zum Trotz erzählen alle Eltern ihren Kindern um die Weihnachtszeit herum, dass ein dicker Herr mit weißem Bart und rotem Anzug mit ihren Geschenken durch den Schornstein kommt. Und das ist keineswegs eine Höflichkeitslüge, wie wir sie im letzten Abschnitt hatten, sondern vielmehr das nächste Kapitel unserer Geschichte. Diese Lügen beruhen auf einer Komplizenschaft zwischen Täuschung und Selbstbetrug, die tiefer Liebe und Güte entspringt.

Als meine Tochter vier Jahre alt war, fragte sie mich aus heiterem Himmel: »Ist Rudolph, das Rentier mit der roten Nase, eigentlich echt?« Wir saßen im Auto und ich musste mich auf den Verkehr konzentrieren, also antwortete ich ohne groß nachzudenken: »Ich glaube nicht, mein Schatz.« Doch ein Blick in den Rückspiegel zu meiner Tochter hinten auf dem Rücksitz zeigte mir sogleich, dass das ein Fehler gewesen war. Kein echter Fehler, vielmehr eine Art menschliches Versagen – als Vater. Der Gesichtsausdruck meiner Tochter – die immer schon sehr diplomatisch war – ließ keinen Zweifel, dass ihr meine Antwort missfiel und sie nach Argumenten suchte, sie zu widerlegen. (Sie besitzt ganz offensichtlich mehr emotionale Intelligenz als ich.) Schließlich platzte sie nach mehreren Minuten angestrengten Nachdenkens heraus: »Das kann nicht stimmen, denn wenn es Rudolph nicht gäbe, wer zieht dann den Schlitten vom Weihnachtsmann?« An diesem Punkt zeigte ich genug Verstand und pflichtete ihr bei: »Weißt du, da hast du vermutlich recht.«

Eine ganze Reihe von Studien zeigen, dass Eltern mehr Zeit darauf verwenden, ihre Kinder zur Ehrlichkeit zu erziehen als zu irgendeiner anderen Tugend. Gleichzeitig belegen andere Forschungsarbeiten, dass Lügen für Eltern ein wichtiges Instrument der Erziehung sind. Die Sache mit dem Weihnachtsmann ist da nur der Anfang. Denken Sie nur mal an die Geschichte von George Washington und dem Kirschbaum. Vermutlich haben Sie diese schon mal irgendwo gelesen:

Als Amerikas künftiger erster Präsident noch ein Junge war, fällte er den liebsten Kirschbaum seines Vaters. Als der am Abend nach Hause kam und den Baum da liegen sah, war er stockwütend. Er wollte wissen, wer das getan hatte. »Ich darf keine Lügen erzählen, Papa«, antwortete der junge George. »Ich habe den Baum gefällt.« Der Vater bestrafte seinen Sohn daraufhin nicht etwa, sondern umarmte ihn, weil er nicht gelogen hatte. Die Moral von der Geschicht‘ ist, dass wir keine Lügen erzählen sollten, selbst wenn die Wahrheit schwierig ist. Dabei ist die Geschichte von George Washington und dem Kirschbaum als solche eine Lüge, ersonnen von einem zweifelhaften Charakter namens Mason Weems. Dieser versuchte um 1800 herum, die Begeisterung der Amerikaner für Washington zu Geld zu machen. Er verfasste eine weitgehend fiktionale Biografie, über die einer seiner Zeitgenossen schrieb: »80 Seiten unterhaltsamer und erbaulicher Literatur, wie sie in den Annalen des Fanatismus und der Absurdität nicht ihresgleichen hat.« Doch diese erfundene Geschichte lebt fort als apokryphe Lektion über Ehrlichkeit. Aus welchem Grund? Nun, sie ist recht praktisch, wenn man kleinen Kindern etwas beibringen will.

Eltern schwindeln ihren Kindern auch häufig etwas vor, um sie zu ermutigen: »Deine Zeichnung ist toll!« Oder: »Du warst die Beste in dem ganzen Stück.« Und sie lügen, um ihre Kinder vor Schaden zu bewahren. In Märchen heißt es immer wieder, dass Kinder von der Hexe geschnappt werden, wenn sie nicht brav schnurstracks nach Hause gehen oder den Eltern nicht gehorchen. Als ich in der Mittelstufe war, warnten die Lehrer uns vor den Gefahren von Heroin. Sie überzeugten mich, dass schon ein Milligramm Straßendrogen genügte, um mich hoffnungslos süchtig zu machen. Ich weiß noch, wie ich stets einen großen Bogen um den Park machte, in dem angeblich Drogen verkauft wurden. Ich hatte Riesenangst, mich dort irgendwie mit einer tödlichen Drogensucht anzustecken. Dass Eltern ihre Kinder mit Lügen schützen wollen, ist ein Phänomen, das auch aus anderen Kulturen bekannt ist. Eine klassische Studie beschäftigte sich mit den Tzeltal sprechenden Mayas, die im südlichen Mexiko Mais anbauen.

Der Aufsatz mit dem Titel »Everyone Has to Lie in Tzeltal« schließt an Sacks ursprüngliche Studie an und zählt in enzyklopädischer Breite auf, welche Lügen die Eltern erzählen, um die Kinder im Zaum zu halten und vor Gefahren von außen zu schützen. In vielen dieser Lügen wurde etwa mit Strafen oder Folgen gedroht, die sich in Wirklichkeit nie einstellen.

Der Hund/der Käfer/die Wespe wird dich beißen.

Geh bloß nicht dorthin, dort gibt es tollwütige Hunde!

Ich bringe dich ins Krankenhaus, da bekommst du eine Spritze.

Nie tritt der Widerspruch zwischen unserer angeblichen Liebe zur Ehrlichkeit und unserer faktischen Unehrlichkeit deutlicher zutage als alljährlich zur Weihnachtszeit. Das hat mit einem Phänomen zu tun, das Psychologen als »Paradigma der unerwünschten Geschenke« bezeichnen. Sie müssen versichern, dass Sie sich freuen über die Geschenke, die Sie bekommen. Vor allem wenn nahe Verwandte viel Zeit und Mühe (und Geld) darauf verwendet haben, Ihnen etwas zu schenken, das ebenso ausgefallen wie geschmacklos ist. Nicht, dass wir unsere Kinder zu Heuchlern erziehen möchten. Wir lehren sie nur einfach eine tiefere Wahrheit: Manchmal müssen wir lügen, um nett zu sein.

Mit kranken oder alten Menschen verfahren wir ja genauso. Es würde Sie wohl kaum jemand verurteilen, wenn Sie Ihren Eltern oder Großeltern vorlügen, dass das Auto kaputt ist, wenn diese damit fahren möchten, obwohl sie es aus verschiedenen Gründen nicht sollen. Schließlich wollen Sie ja nur Ihre betagte Mama vor einem Unfall bewahren. Die Mitarbeiter in Altenheimen werden in dieser Art Verhalten regelrecht geschult, wenn es um den Umgang mit Demenzkranken geht. Die Pfleger lassen sich auf die Fantasien der alten Leute ein, die immer noch glauben, in der Welt ihrer Jugend zu leben. Es gibt sogar ganze Einrichtungen, die Orten nachgestaltet sind, an denen die Patienten in ihrer Jugend lebten. Ein Seniorenpflegeheim in Erfurt bietet den Bewohnern ein Umfeld mit Möbeln und Gebräuchen, das an die einstige DDR erinnert. Diese Täuschungsmanöver, die erregte Patienten beruhigen sollen, sind doch sicher besser als Fixiergurte, Zwangsjacken und Medikamente?

Allerdings sind Lügen schon schwieriger zu rechtfertigen, wenn es um geistig gesunde Erwachsene geht. Und doch tun wir auch das für Menschen, insbesondere für jene, die sich verletzlich fühlen. Wir lügen mitunter, damit Freunde sich einer Herausforderung stellen können. Beim Football gibt es den Spruch: »an jedem Sonntag«. Das heißt, dass jedes Team an jedem Spieltag die Chance hat, ein anderes zu schlagen. Es ist der Lieblingsspruch von Trainern, die ihren chancenlosen Teams die Illusion vermitteln wollen, dass auch sie es schaffen können. Und tatsächlich bewirkt diese Illusion bessere Leistungen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die ihre Ziele als realisierbar betrachten, bessere Leistungen erbringen als jene, die das nicht tun.

Tatsächlich erzählen Trainer ihren Sportlern haufenweise Lügen, um sie zu Bestleistungen zu motivieren. Manche dieser Lügen sind in der Sportwelt zu Klischees geworden. So heißt es: »Niemand hat seinen Platz gepachtet. Wettbewerb gibt es auf jeder Position.« In Wirklichkeit heißt das: »Wir wollen, dass jeder sich im Training anstrengt, damit wir die Spieler herausfinden, die im Moment am besten sind. Aber der Innenverteidiger, der Mittelstürmer und der Torhüter, denen wir ein Jahresgehalt in Millionenhöhe zahlen, spielen auf jeden Fall!« Wenn der Trainer meint: »Wir richten unsere Aufmerksamkeit ganz auf das Spiel nächste Woche«, dann sagt er in Wirklichkeit: »Ich möchte, dass ihr euch auf das nächste Spiel konzentriert. Dann gewinnen wir vielleicht. Denn wenn ich an die ganze Saison denke, dann mache ich mir Sorgen, meinen Job zu verlieren, wenn wir nicht endlich anfangen zu gewinnen.« Der ebenfalls beliebte Spruch »Wir haben alles, was wir brauchen. Wir müssen es nur abrufen.« heißt übersetzt nichts anderes als: »Wir sind Pfeifen, aber das ist sowieso klar. Warum also auf ein totes Pferd einprügeln?« An allen Arbeitsplätzen der Welt belügen die Manager ihre Mitarbeiter. Und gerade die geschicktesten Lügner sind oft die beliebtesten Vorgesetzten. Manchmal bestehen die Lügen...