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Geschichte und Region/Storia e regione 30/2 (2021) - Grenzregionen im Kalten Krieg/Regioni di confine nella Guerra fredda

Geschichte und Region/Storia e regione 30/2 (2021) - Grenzregionen im Kalten Krieg/Regioni di confine nella Guerra fredda

Karlo Ruzicic-Kessler

 

Verlag Studienverlag, 2022

ISBN 9783706562232 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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24,99 EUR

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Geschichte und Region/Storia e regione 30/2 (2021) - Grenzregionen im Kalten Krieg/Regioni di confine nella Guerra fredda


 

Editorial


Grenzen und Grenzregionen als Orte der Teilung, der Trennung, des Konfliktes und des Übergangs, der Verbindung, Begegnung, der Kooperation und des Austauschs spielen mindestens seit dem römischen Limes eine zentrale Rolle in der europäischen Geschichte. Die Bedeutung von Grenzen und Grenzregionen und die festen Trennlinien zwischen Staaten und Menschen sind wiederum im Pandemiejahr 2020 für die gesamte Menschheit in den Vordergrund getreten. Gerade auch innerhalb des vereinten Europas und zwischen den Staaten der Europäischen Union traten Phänomene wie Grenzschließungen, Grenzkontrollen und militärische Grenzüberwachung zum Vorschein, die an eine längst vergessene und überwunden geglaubte Zeit erinnerten und der Bevölkerung auf dem Kontinent aufzeigten, wie fragil gewisse Freiheiten sind, die über Jahre als Selbstverständlichkeit angenommen wurden. Insbesondere für Grenzgemeinschaften und -regionen bedeutete die Umstellung auf neue Sicherheits- und Einreiseregulierungen eine völlige Abkehr von der gewohnten Reise- und Arbeitsfreiheit. Nun war es nicht mehr möglich den Nachbarn, die Familie über der Grenze zu besuchen, einen Einkauf im benachbarten Ausland zu erledigen oder einen Aufenthalt im bekannten Gebiet jenseits der Grenze zu planen. Damit rückte die Bedeutung von Grenzen und deren Kontrolle unmittelbar und unerwartet ins kollektive Bewusstsein. Daher erscheint es nur richtig, die Frage nach Grenzen, Grenzregionen, Grenzregimen und Grenzkooperationen in einem historischen Kontext zu betrachten. Hierbei eignet sich wiederum Europa während des Kalten Krieges als ein hervorragendes Anschauungsobjekt für Phänomene wie Inklusion und Exklusion, für den Blick auf die „Anderen“ und die Frage nach Trennung und Annäherung, nach hermetischen und permeablen Linien in Grenzregionen.

Nach 1945 senkte sich über Europa ein „Eiserner Vorhang“, wie es Winston Churchill 1946 auf dramatische Weise beschrieb,1 der den Kontinent für über 40 Jahre in eine westliche, liberale, und eine östliche, kommunistische, Zone trennte – der Bau der Berliner Mauer 1961 steht dabei symbolhaft für eine vermeintlich hermetische Trennlinie zwischen Staaten, Menschen und Systemen. Wie kaum an einem anderen Ort wurde der Kalte Krieg zum Symbol für geopolitische Auseinandersetzungen, neue Grenzen und Grenzräume sowie Konflikte im globalen Ringen um Macht zwischen zwei Systemen. Diese Periode prägte somit Grenzräume in Europa in besonderem Maße, wie es etwa an der deutsch-deutschen Grenze veranschaulicht werden kann. Doch der „Eiserne Vorhang“ war nicht nur eine Trennlinie, sondern auch ein Sehnsuchtsort für Menschen, die den Regimen im Osten entfliehen und ein neues Leben im freien Westen aufbauen wollten. Gleichzeitig bedeuteten neue Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Auflösung gefestigter ökonomischer, politischer und sozialer Verbindungen, eine Trennung, die von verschiedenen Akteuren zu durchbrechen versucht wurde, während die Dynamiken des Kalten Krieges solche Prozesse beschleunigten oder hemmten. Schließlich führte der Kalte Krieg auch abseits des „Eisernen Vorhangs“ zu neuen Konflikten und neuen Herausforderungen für Grenzgemeinschaften und Grenzregionen. Deshalb war diese Epoche der europäischen Geschichte von einer Vielzahl an verschiedenen Phänomenen geprägt, die sich in Grenzregionen manifestierten.

Die Analyse von Grenzen und Grenzregionen hat schließlich in der Zeit seit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende der Ost-West Trennung in Europa eine starke Dynamik erlebt und verschiedene wissenschaftliche Disziplinen miteinander verknüpft. Die Grenzen erschienen einigen ForscherInnen als antiquierte Begriffe in einer globalisierten Welt, in der nicht die Bewegung von Menschen, sondern jene von Gütern und Kapital den Abbau von Grenzen vorgab.2 Gerade in den 1990er Jahren schien das Ende der nationalstaatlichen Grenzziehungen unaufhaltsam zu sein, insbesondere wenn der Blick auf dem europäischen Integrationsprozess verharrte. Seither haben allerdings Phänomenen wie der Konflikt zwischen den Großmächten USA und China, die Verschärfung des Verhältnisses zwischen Europa und Russland und damit einhergehende, kriegerische Auseinandersetzungen in Georgien oder der Ukraine aufgezeigt, dass der Begriff der Grenze als Trennlinie zwischen Staaten und Systemen kaum an Bedeutung eingebüßt hat, sich aber im steten Wandel befindet. Dieser Wandel ist auch auf dem europäischen Kontinent während des Kalten Krieges zu verorten. Neue Studien zum Umgang mit Grenzen und Grenzregionen in Osteuropa betrachten etwa die Bedeutung und Entwicklung von Grenzen und Grenzregionen in einer historischen Langzeitperspektive seit dem Ende des Ersten Weltkrieges.3 In jüngerer Zeit wurden mehr und mehr Grenzräume und Grenzgemeinschaften in den Fokus genommen und diese besondere Erfahrung von Menschen, Regionen und Staaten analysiert.4 Dabei sind Grenzen und Grenzregionen Orte, durch die sich Staaten, Nationen und Gemeinschaften definieren und die nicht nur politische Macht, sondern auch soziale Räume bestimmen. Nationale Regierungen sind dabei entscheidende Akteure, doch bei weitem nicht die einzigen handelnden Elemente, die Grenzräume beeinflussen.5 Trotz des Konfliktes zwischen Ost und West und dem Gefühl einer unüberwindbaren Grenze zwischen zwei gegensätzlichen Ideologien waren Grenzräume während des Kalten Krieges nicht nur Orte der Trennung, sondern auch Treffpunkte und Übergangszonen. So wenig der „Ostblock“ eine monolithische Struktur aufwies und so sehr sich auch verschiedene staatliche Akteure von einer einzigen, gemeinsamen Linie im Verlauf des Kalten Krieges lösten und den Kontakt über die Systemgrenzen hinweg suchten,6 so sehr wurden auch die Grenzen von verschiedenen Phänomenen der Trennung und der Annäherung geprägt und hatten damit ebenfalls Einfluss auf das Leben in Grenzgemeinschaften und auf die politische Landschaft in diesen Räumen sowie den Staaten, in denen sie sich befanden.

Die Teilung Europas während des Kalten Krieges lässt auch die Frage zu, welche Möglichkeiten es in Grenzräumen überhaupt für Kontakte und Austausch gab beziehungsweise welche Phänomene diese ermöglichten und welche For-men diese annahmen. Es gibt eine klare Korrelation zwischen geschlossenen Grenzräumen, Konflikten und Randlage, beziehungsweise offenen Grenzräumen, Kooperation und Kontakt. Dabei sind jede Grenze und jede Grenzregion in ihrem jeweiligen Kontext einzigartig. Die Bedeutung der Grenze und der Grenzregion kann sich über die Zeit und aufgrund von staatlichen Interventionen oder regionalen Entscheidungen dramatisch verändern. Dies gilt dann etwa, wenn Grenzen „geschlossen“ oder „geöffnet“ werden oder wenn wirtschaftliche Entwicklungen dies bedingen. Deshalb müssen Grenzen und die mit ihnen verbundenen Regionen in einer lokalen und regionalen Untersuchung und in einem detaillierten Vergleich erforscht werden.7 Dabei sind Grenzen nicht nur die Linien, die mehr oder weniger willkürlich zwischen Staaten und Gesellschaften gezogen werden, auch jede Gemeinschaft und jedes Individuum erlebt verschiedene Grenzen, die das Leben und die Umwelt regeln, das „Hier“ vom „Dort“ und das „Wir“ vom „Anderen“ trennen.8

Welchen Einfluss hatten neue Grenzen im Europa des Kalten Krieges auf Gemeinschaften und historisch gefestigte ökonomische, soziale und politische Räume? Wie gingen Staaten, Institutionen und Gemeinschaften mit der Situation in Grenzregionen um? Welche Bedeutung hatte der „Eiserne Vorhang“ für Menschen, die aus dem Osten in den Westen ziehen wollten? Welche Möglichkeiten der Kooperation gab es zwischen Regionen in verschiedenen Kontexten des Kalten Krieges? Wie entwickelten sich historische Konflikte und politische Sphären in Grenzregionen auch abseits der Ost-West Teilung? Es sind diese Fragen und weitere Aspekte des Kalten Krieges in europäischen Grenzräumen, die im monographischen Teil des vorliegenden Heftes von Geschichte und Region / Storia e regione analysiert werden. Es beruht auf den Ergebnissen der Tagung Europa der Grenzen. Neue Perspektiven auf Grenzen im Kalten Krieg, die sich im November 2019 in Bozen verschiedenen Aspekten regionaler Grenzsituationen und -phänomenen im geteilten Europa widmete. Hierbei betrachteten die TeilnehmerInnen der Tagung das Thema nicht nur im Hinblick auf die Trennund Teilungslinien zwischen Ost und West, sondern auch in Zusammenhang mit der Begegnung und der Interaktion im geteilten Europa am und abseits des „Eisernen Vorhangs“. Die Beiträge in diesem Heft zeigen sowohl, dass der Begriff der Grenze als Raum der nationalen, politischen und sozialen Trennung angemessen ist, als auch, dass die Grenze in anderen Fällen als Chance und als Verbindungsort in Erscheinung tritt. Besonders spannend ist auch der Vergleich zwischen unterschiedlichen Realitäten des Kalten Krieges. Im Heft wird die scharfe und harte Trennung an der Systemgrenze thematisiert, aber ebenso tritt die Grenze als Übergangsort zwischen den Systemen und als Fluchtort zu Tage. Zudem wird der Frage nach Kooperation in multinationalen Grenzräumen nachgegangen und die Grenzerfahrung abseits der Systemgrenze an einem...