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NOVA 32 - Magazin für spekulative Literatur
Team NOVA
Verlag p.machinery, 2023
ISBN 9783957657947 , 228 Seiten
Format ePUB
Kopierschutz Wasserzeichen
Thomas Grüter: Auf eigene Gefahr
Zugegeben, es ist keine neue Idee, als Tourist in die Vergangenheit zu reisen, um historischen Ereignissen – vorzugsweise der Kreuzigung Jesu – beizuwohnen. Das bekannteste Werk dieser Art dürfte Michael Moorcocks Novelle »Behold the Man« (1967, später zum Roman erweitert) sein. Nicht selten werden Zeittouristen unversehens enger in das historische Geschehen verwickelt, als ihnen lieb ist, oder führen es auf kuriosem Wege selbst herbei. Gegen solche Zeitreisegeschichten und ihren allzu platten Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität hat Alfred Bester mit seiner berühmten Kurzgeschichte »The Men Who Murdered Mohammed« (1958) einen geradezu ketzerischen Angriff unternommen. Der verwirrte Professor in dieser Geschichte, der einen Nebenbuhler ausgerechnet mit einer Zeitmaschine ausschalten will, stellt fest, dass seine immer dramatischeren Eingriffe in die Vergangenheit in der Gegenwart ohne Folgen geblieben sind, außer dass sie seine eigene Verankerung in der Zeit auflösen. Gegen ähnliche Auflösungserscheinungen von temporärer und kausaler Ordnung durch das Treiben von Zeitreisenden wurden in Thomas Grüters neuer Geschichte drastische Gegenmaßnahmen ergriffen. Ein amerikanisches Ehepaar, das nach Ankunft in der Antike feststellt, dass es den falschen Versprechungen einer Zeitreiseagentur aufgesessen ist, sieht nun zwar einem zweifelhaften Schicksal entgegen, aber immerhin ist ihm ein kleiner, nicht unbedeutender Beitrag zur Weltgeschichte vergönnt.
Thomas Grüter
Auf eigene Gefahr
(1) Der Veranstalter der Zeitreise bemüht sich nach Kräften, die Vertragspartner am vereinbarten Ort und zur vereinbarten Zeit abzusetzen und wieder aufzunehmen, soweit physikalisch möglich und gesetzlich erlaubt.
(2) Der Veranstalter haftet nicht für die körperliche und geistige Unversehrtheit der Vertragspartner während der Reise.
(3) Der Vertragspartner trägt allein die Folgen von Gesetzesverstößen, die er vorsätzlich oder fahrlässig im Rahmen der Reise begeht.
(Auszug aus den AGB von Itinere Temporum/Time Adventures)
Jonas trat ein, als ich an meinen Abrechnungen saß, und verbeugte sich knapp.
»Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich zu stören?«
»Wir haben wieder eine Gruppe zugeteilt bekommen, Herr.«
»Haben sie die Kontrollen passiert?«
»Die CTI haben zwei weitergeleitet, die illegale Dinge einschmuggeln wollten. Den Rest haben sie an uns übergeben.«
»Sehen sie gesund aus?«
»Jung und gesund, Herr. Sie kommen mit Itinere Temporum und wollen die Kreuzigung ihres Religionsstifters miterleben.«
Ich seufzte. Schon die vierte Gruppe in diesem Jahr! Und Itinere Temporum hatte verdammt hohe Provisionen ausgehandelt. Dafür lieferten sie aber auch Qualität.
»Gut. Es sind Paare und Familien, nehme ich an?«
»Ja, Herr, zwei Paare, eine Familie.« Er wartete – nicht aus Unentschlossenheit, sondern weil er nicht handeln durfte, bis ich ihm eine Anweisung gab.
»Schick sie herein, immer ein Paar oder eine Familie zugleich. Und halte dich bereit zum Übersetzen, falls sie nur Aramäisch sprechen.«
Jonas gab dem Türhüter ein Zeichen, dieser wiederum den Wachen. Sie stießen einen Mann in den Raum. Er stolperte zwei Schritte, bevor er sich fing und aufrichtete. Hinter ihm schritt seine Frau herein, steif vor Empörung. Er wirkte trotzig, sie schaffte es irgendwie, zugleich erwartungsvoll und verärgert auszusehen. Ich schätzte beide auf ungefähr dreißig Jahre. Urbane Mittelschicht, helle Hautfarbe, gut genährt, ebenmäßige und gepflegte Zähne, kein überflüssiges Fett. Seine runden Muskeln stammten sicher nicht von harter Arbeit, sondern aus dem Gymnasion, und ihre gepflegten Hände ließen darauf schließen, dass sie die Hausarbeit nicht selbst verrichtete.
Ich winkte sie vor meinen Schreibtisch. Jonas trat neben mich. Er misst vom Scheitel bis zur Sohle sechseinhalb Podes und ist stolz auf seine schwellenden Muskeln. Dies und sein aufmerksamer Blick beruhigen die meisten Menschen, ohne dass er eingreifen muss. Die Frau ergriff das Wort, ohne ihren Mann auch nur anzusehen.
»Wir haben diese Reise gebucht, um die Kreuzigung des HERRN zu bezeugen. Ich will nicht unhöflich sein, aber über den unfreundlichen Empfang hier muss ich mich wirklich wundern.«
Sie sprach ihre seltsame Sprache, die ich inzwischen aber ansatzweise verstand. Offenbar äußerte sie eine Beschwerde. Ich antwortete auf Koine: »Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Aber Sie sind bedauerlicherweise auf einen Betrüger hereingefallen.«
Sie sah ihren Begleiter an und er übersetzte. Dann unterhielten sich die beiden einen Moment lang aufgeregt in ihrer eigenen Sprache. Ich verstand: »… keine Zeitreisen … reingelegt …«
»Schreiben wir das Jahr 2023?«, fragte der Mann auf Koine mit starkem Akzent.
»Nein, diese Zählung kennen wir nicht«, unterrichtete ich ihn. Er blickte mich an. In seinen Augen dämmerte die Erkenntnis, dass ihre hoffnungsvoll begonnene Zeitreise anders verlief, als sie erwartet hatten. Ich sagte betont ruhig: »Jetzt erzählen Sie einfach, wie Sie hierhergekommen sind. Fangen Sie mit Ihrem Namen an und nennen Sie mir dann Ort und Zeit Ihrer Abreise«, sagte ich langsam und betont. Er sah seine Frau kurz an, als wolle er ihre Zustimmung einholen, und antwortete dann: »Ich bin Howard und dies ist meine Frau Cherie. Wir kommen aus einem kleinen Ort in der Nähe von Savannah in Georgia. Aus dem Jahr 2023.« Er machte eine Pause und sah mich an, als ob er darauf wartete, dass ich mich auch vorstellte.
»Reden Sie weiter«, sagte ich.
Er fuhr fort: »Das ist in einem fernen Land, jenseits, hm, … der Säulen des Herakles. Wir sind US-Bürger, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Natürlich wusste ich das. Sie waren ja nicht die Ersten. Mein halbes Leben lang habe ich mich mit anmaßenden Widerlingen herumgeärgert, die als Cives Romani – römische Bürger – eine Vorzugsbehandlung beanspruchen. Ich sagte also nichts. Die Zeit dehnte sich. Howard begann zu begreifen, dass dies keine freundschaftliche Unterhaltung war.
»Also, unsere Geschichte: Da war dieser seltsame Mann, der in unseren Gottesdienst kam, immer wieder. Er erzählte uns, er könne Zeitreisen arrangieren, und wir – oder wenigstens einige von uns – könnten die Kreuzigung des Herrn selbst miterleben. Wir hielten ihn zuerst für verrückt, aber dann kam er mit Beweisen. Drei antike Münzen, aber ganz neu. Zwei Schriftrollen mit aramäischen Zeichen, auch neu. Alle Experten, die wir fragten, meinten, man könnte die Sachen für echt halten, wenn sie nicht so neu wären. Wir fragten unseren Kontaktmann, ob er Fotos oder Filme hätte, aber er sagte, solche Dinge dürfe niemand zurückbringen. Das Gefüge der Zeit würde dadurch geschwächt, und die ›Zeitpolizei‹ würde jeden töten, den sie dabei erwischte. Aber er nahm einen von uns auf eine kostenlose Reise in das ›New York‹ von ›1960‹ mit, nur zehn ›Minuten‹ und im geschlossenen ›Taxi‹, aber das reichte. Wir glaubten ihm.«
Er flocht Worte seiner eigenen Sprache übergangslos in seine Rede ein, wenn er keine Übersetzung dafür wusste.
»Dann verlangte er, dass wir Seminare buchten, richtig teure Seminare. Wir sollten lernen, wie man sich zur Zeit Jesu benimmt, und wir lernten das hellenistische Griechisch, also Koine, und Latein. Aramäisch war uns zu schwer. Wer ›Zahnfüllungen‹ hatte oder ›Schrauben‹ in den Knochen, durfte nicht mit. Auch wer zu fremd aussah, wurde ausgeschlossen. Time Adventures, der Veranstalter, war da ganz rigoros. Ich habe einen entfernten indianischen Vorfahren, aber sie meinten, das würde niemand bemerken. Wir, also meine Frau und ich, wir zahlten zusammen fast zweihundertfünfzigtausend ›Dollar‹ für drei Serien von Seminaren. Die Reise selbst war umsonst – ein Dienst für die Gläubigen, sagte der Kontaktmann.«
Zweihundertfünfzigtausend Dollar, das waren ungefähr zweihundertfünfzig Talente Silber – ein ungeheurer Preis. Dennoch verdienten sie kein Mitleid.
Er fuhr fort: »Ich hätte mir denken können, dass Zeitreisen eigentlich Blödsinn sind, und auch die kurze Reise nach ›New York‹ nur Hokuspokus war. Ich nehme an, Sie sind von der ›Polizei‹, und wenn wir Ihnen helfen können, tun wir das gerne.«
»Tut mir leid, Ihnen Ihre Illusionen nehmen zu müssen«, begann ich, »aber sie sind tatsächlich durch die Zeit gereist. Aus gutem Grund ist die zeitliche und räumliche Umgebung weltgeschichtlicher Ereignisse jedoch für Zeitmaschinen gesperrt. Sie wurden auf einen Stützpunkt der Zeitwache umgeleitet. Sie haben vielleicht den Bronzeschild mit dem Wappen an der Wand des Ankunftsbereichs gesehen.«
»Das C, das in sich ein T und I birgt?«
»Richtig. Es steht für Custodes Temporis Integritatis – die Organisation der Zeitwächter. Und damit Sie Bescheid wissen: Wir schreiben das neunte Jahr des Imperators Caesar Nerva Traianus Augustus, und Sie sind in Damaskus. Die Stadt Hierosolyma ist gesperrt, ebenso die Zeit zwischen dem ersten Jahr von Imperator Caesar Divi filius Augustus bis heute. Ihr Prophet ist vor etwa achtzig Jahren gekreuzigt worden – wenn dieses Ereignis wirklich stattgefunden hat.«
»Aber …«, sagte Howard. Seine Frau unterbrach ihn. »Dominumne non videbimus?«
Sie sprach ein verschliffenes, fast unverständliches Lateinisch. Itinere Temporum hatte wieder einmal die billigsten Lehrer engagiert.
»Sie haben die Situation gut erfasst. Sie werden Ihren Propheten nicht zu Gesicht bekommen«, bestätigte ich ihr.
Howard beugte sich vor. »Wir...