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Frühdiagnostik und Frühtherapie bei Autismus-Spektrum-Störungen
Friedrich Voigt
Verlag ERNST REINHARDT VERLAG, 2024
ISBN 9783497618798 , 222 Seiten
Format ePUB
Kopierschutz DRM
2 Entwicklungspsychologie von Autismus-Spektrum-Störungen
Über die Entwicklungspsychologie von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen in den ersten beiden Lebensjahren gibt es erst wenige systematische Befunde. Viele Informationen stützen sich auf restrospektive Beobachtungen und Beschreibungen der Eltern. Eltern achten am ehesten auf das Ausbleiben von sprachlichen Entwicklungsfortschritten. Auffälligkeiten im Spielverhalten, im sozialen Kontakt oder in der Fähigkeit zur emotionalen Regulation werden seltener berichtet oder auf andere mögliche Einflüsse in der Entwicklung zurückgeführt (Herlihy et al. 2015). Verschiedene Studien belegen, dass Eltern in den ersten zwei Lebensjahren oft um die Entwicklung besorgt sind, aber es ist unklar, wie spezifisch diese Hinweise sind. Diese Beobachtung gilt auch für die retrospektive Analyse von Videoszenen, die die Eltern in früheren Entwicklungsphasen bei ihrem Kind aufgenommen haben. Es ist unklar, ob die Beobachtungen nicht im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung durch später verfügbares Wissen um die Eigenheiten der Störung beeinflusst werden (z. B. Maestro et al. 2005).
2.1 Frühe Entwicklungsmerkmale von Autismus-Spektrum-Störungen
Für das erste Lebensjahr wurden verschiedene Entwicklungsbereiche bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen systematisch untersucht. Hinsichtlich des Aufmerksamkeitsverhaltens werden einerseits Schwierigkeiten beschrieben, die Aufmerksamkeit von einzelnen Reizaspekten zu lösen, und zum anderen ein reduziertes Interesse an menschlichen Gesichtern im Vergleich zur verstärkten Aufmerksamkeit für Objekte und Reizmuster (Pierce et al. 2011).
Auffälligkeiten im Bereich des sensorischen und motorischen Systems werden auf verschiedenen Ebenen dokumentiert. So wurden auf der sensorischen Ebene entweder eine ausgeprägte Hypersensitivität gegenüber Berührungen oder Geräuschen beobachtet oder aber eine starke Hyposensitivität, also eine sehr geringe Reaktionsbereitschaft auf solche Reize. Dabei stützen sich die retrospektiven Studien oft auf kleine Stichproben. Bei den motorischen Auffälligkeiten werden ein langsameres Durchlaufen der motorischen Meilensteine in der Grob- und Feinmotorik beschrieben (Zwaigenbaum et al. 2015). Zudem werden atypische Bewegungen beobachtet, wie Zitterbewegungen, das Einnehmen bestimmter Körperhaltungen oder ein häufiges Wiederholen alterstypischer Handlungen (z. B. Geräusche mit der Zunge erzeugen) (Landa 2011). In vielen Untersuchungen wird darauf hingewiesen, dass die motorischen Symptome wahrscheinlich nicht spezifisch für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen sind, sondern auch bei anderen Formen von Entwicklungsstörungen beobachtet werden (Zwaigenbaum et al. 2015).
Auf der Ebene des sozialen Verhaltens wird ein Mangel an sozialem Interesse bereits in den ersten Lebensmonaten beschrieben. Das Kind scheint weniger sozialen Kontakt aufzunehmen, geht auf einfache soziale Dialoge über Blickkontakt, Mimik und Gestik wenig ein. Das Interesse an Spielgegenständen und die Exploration der physischen Umgebung wirkt im Vergleich zu Kindern ohne Autismus-Spektrum-Störung wenig ausgeprägt (Maestro et al. 2005). In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres scheinen diese sozialen Auffälligkeiten markanter zu werden. Die soziale Umgebung richtet höhere Erwartungen an das Kind. Am häufigsten werden seltenere Reaktionen auf sprachliche Äußerungen des Erwachsenen dokumentiert, vor allem wenig zuverlässige Reaktionen, wenn das Kind mit seinem Namen angesprochen wird. Das Kind erscheint in dieser Phase weniger an sozialem Kontakt und an anderen Personen interessiert. Es geht auf die typischen sozialen Spiele und Handlungsroutinen (z. B. Guck-guck-Spiel) nicht ein und kann seine Beschäftigung mit der gegenständlichen Welt nicht in den aktiven sozialen Austausch mit den Bezugspersonen integrieren (Landa 2011, Volkmar et al. 2008). Ein sozial gut entwickeltes Kind mit acht Monaten versucht sich über einen Gegenstand, mit dem es hantiert und den es interessant findet, unmittelbar mit dem Erwachsenen auszutauschen. Es kann den Gegenstand herzeigen oder ihn fallen lassen, um die Aufmerksamkeit des Erwachsenen zu bekommen. Diese soziale Initiative kann bei einem Kind mit einer Autismus-Spektrum-Störung komplett fehlen. Wenig Interesse scheint das Kind an sozialen Spielen zu zeigen, es drückt Gefühle gegenüber Erwachsenen oder Geschwistern nur wenig aus und zeigt auch reduzierten Blickkontakt, vor allem zur Regulation der sozialen Kontaktaufnahme (Zwaigenbaum et al. 2013).
Coleman und Gillberg sprechen von mindestens zwei Verlaufsformen der sozialen Entwicklung bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen im ersten Lebensjahr (Coleman/Gillberg 1985). Sie beschreiben einerseits ein „Modellkind“, das sich pflegeleicht zeigt, wenig Anforderungen stellt, zum Teil auch passiv und lethargisch wirkt. Zum anderen finden sie extrem irritierbare Kinder, die sich durch Außenreize stark verunsichern lassen, sich kaum beruhigen lassen und anhaltende Schlafstörungen aufweisen. Solche Kleinkinder werden öfters in den Spezialsprechstunden für Schreibabys vorgestellt.
Es wird aber auch von einer größeren Gruppe von Kindern berichtet, welche die motorischen Meilensteine normal durchlaufen, die sich körperlich aktiv zeigen und oft sehr aufmerksam wirken, wenn auch manchmal eher auf die gegenständliche Welt fixiert. Weder für die Eltern noch für die untersuchende kinderärztliche Praxis erscheinen diese Kinder entwicklungsauffällig. Im ersten Lebensjahr zeigen sich sehr variable Temperamentsmerkmale bereits in der normalen Entwicklung, sodass einzelne soziale Eigenheiten nicht als ungewöhnlich wahrgenommen werden (Pierce et al. 2009).
Wegen der Stagnation im sozialen Verhalten wird in manchen Studien von einer möglichen Entwicklungsregression in der Alterspanne zwischen sechs und zwölf Monaten gesprochen. Ob man diese relative Stagnation tatsächlich als eine Form der Entwicklungsregression interpretieren soll, ist aber umstritten (Landa et al. 2013). Insgesamt bleibt die Frage, ob die beschriebenen Auffälligkeiten auf der sozialen Ebene spezifisch für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen sind oder ob einige Merkmale auch bei schweren Sprachentwicklungsstörungen oder globalen Entwicklungsstörungen auftreten können.
Für das zweite Lebensjahr liegen sehr viel mehr systematische Untersuchungsbefunde vor, die sich sowohl auf retrospektive als auch auf erste prospektive Studien stützen (Übersicht bei Volkmar et al. 2008, Landa 2011). Im Übergang zum zweiten Lebensjahr zeigen sich oft erste signifikante Hinweise auf qualitative Auffälligkeiten im Kontaktverhalten. In der Studie von Osterling et al. wurden Videoaufnahmen von 20 1-jährigen Säuglingen, bei denen später die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung gestellt wurde, verglichen mit den Aufnahmen von 14 Säuglingen, bei denen später eine Intelligenzstörung diagnostiziert wurde, sowie von 20 normal entwickelten Kindern (Osterling et al. 2002). Die Bewertung erfolgte durch unabhängige Beobachter, die keine Informationen zu den Diagnosen hatten. Es zeigte sich, dass sich Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen deutlich weniger sozial orientiert zeigten und weniger häufig auf Ansprache mit ihrem Namen reagierten.
Typisch für die Altersspanne zwischen 12 und 18 Monaten ist eine verringerte soziale Responsivität, wenig soziale Initiative und ein deutlich reduzierter emotionaler Ausdruck. Das kommunikative Verhalten zeigt sich – wenn es vorhanden ist – sehr viel weniger differenziert. Bei einzelnen Kindern werden repetitive und stereotype Spielhandlungen und Beschäftigungen berichtet. Oft zeigt sich aber erst in der Altersspanne zwischen 18 und 24 Monaten eine klarere Ausprägung der sozialen Auffälligkeiten. Dies betrifft den Blickkontakt, die Koordination des Blickverhaltens mit anderen nonverbalen kommunikativen Verhaltensweisen, eine reduzierte soziale Initiative und eine wenig zuverlässige Reaktion auf Ansprache mit dem Namen (Wetherby et al. 2007).
Wetherby et al. haben in ihrer Studie drei Gruppen von Kindern in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres verglichen, bei denen später eine Autismus-Spektrum-Störung, ein globaler Entwicklungsrückstand oder ein normaler Entwicklungsverlauf diagnostiziert wurde (Wetherby et al. 2004). Zur Analyse wurden die Aufgabenbereiche der Communication and Symbolic Behavior Scales (CSBS) eingesetzt. Die Vergleichsgruppen bestanden jeweils aus 18 Kindern. Aus der Studie ergaben sich 9 Red flags, also kritische Merkmale, die Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen von den anderen Vergleichsgruppen unterschieden.
Als Beispiele für solche kritischen Merkmale wurden genannt: der Mangel an angemessenem Blickverhalten, fehlender emotionaler Ausdruck im Blick, fehlender Austausch von Freude oder Interesse, mangelnde Reaktion bei Ansprache mit dem Namen, fehlende Koordination...