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99 und kein bisschen leise

99 und kein bisschen leise

Herbert Köfer

 

Verlag Eulenspiegel Verlag, 2020

ISBN 9783359500926 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR

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99 und kein bisschen leise


 

Mein Publikum ist baff

Der Wunsch, berühmt zu werden, ist wie Masern oder Mumps. Fast jeden erwischt es. Danach ist man geheilt. Und wird Schlosser, Bäcker oder Polizist.

Ich bekam meine musischen Masern, als sich meine Eltern einen Rundfunkempfänger kauften. Der musste der ganzen Verwandtschaft vorgeführt werden.

Vater hatte auch ein Mikrofon und einige Meter Kabel erworben. Man steckte den Draht hinten in die Holzkiste mit den Röhren und dem grünen »magischen Auge«, zog die Strippe ins Nebenzimmer und konnte Radio »spielen«.

Eines Tages also versammelte sich die familiäre Gemeinde zum kollektiven Staunen. Da fliegen die Wellen also durch die Luft, ach so, den Äther, und kriechen dann da in dieses Ding, und wir können das hören?

Ja, so ungefähr, erklärte der stolze Besitzer und knipste den Kasten an. Bitte Ruhe, sagte er, die Röhren brauchten einige Zeit, ehe sie warm würden. Dann gehe es auch schon los.

Die Verwandtschaft rührte in den Kaffeetassen und langte nach dem Selbstgebackenen.

»Guten Tag, meine Damen und Herren. Sie hören jetzt ein Violinkonzert von Joseph Haydn, gespielt von Herbert Köfer.«

Tanten und Opas, Onkel und Omas schauten sich entsetzt an und hielten mit Rühren inne.

Was war denn das?

Erst dieses neumodische Gerät, und dann – ja, dass der kleine Herbert Geigenunterricht bekam, das wussten sie, aber war Herbert ein Geigenvirtuose, ein Wunderkind, ein Mozart?

Vater, so ließ ich mir sagen, denn ich konnte es ja nicht sehen, weil ich im Nebenzimmer saß, hätte stolz wie ein Spanier geblickt.

»Carl, der Herbert ist im Radio. Hörst du

Er gab sich erstaunt.

Auf die Qualität meines Vortrags war gehustet. Ich fiedelte, was der Bogen hergab.

Nun, der Trick ließ sich nicht lange verheimlichen, und ich bestreite nicht, dass mich der anerkennende Applaus viel mehr berauschte als der Spaß, die Verwandtschaft an der Nase herumgeführt zu haben. Deshalb gab es schon bald eine Fortsetzung. Meine »Rundfunkkonzerte« erfreuten sich großer Beliebtheit – wie ich meinte. Ich war davon überzeugt, dass die Zuhörer nicht wegen Kaffee und Kuchen kamen, sondern um mich zu hören.

Fröhliche Weihnachten

Ich will eine Geschichte aus meiner Kindheit erzählen, die allerdings nichts mit meinem späteren Berufswunsch zu tun hat. Aber »theaterreif« war durchaus, was da geschah:

Weihnachten wurde bei uns immer groß gefeiert und darum musste der Baum auch groß sein. Immer so um die zwei Meter. Ich war so zwischen sechs und zehn Jahre alt. Einen Weihnachtsmann gab es auch. In jenem Jahr war es mein Onkel Ernst. Im Jahr zuvor Onkel Herrmann, beides Brüder meiner Mutter. Beide waren Kutscher (wenn es diese Berufsbezeichnung überhaupt gab) und als solche transportierten sie Bier und andere Alkoholika mit einem Pferdewagen in die verschiedensten Berliner Kneipen. Nachdem die beiden die zehnte Kneipe beliefert hatten war der »Einsatz« bei uns vergessen, und sie beschlossen, die Pferde in den Stall zu bringen. Das heißt, beschlossen haben sie gar nichts. Sie schliefen auf dem Kutschbock lediglich ein, was für die braven Gäule bedeutete: Der Wagen ist leer, die Kutscher sind voll, auf nach Hause. Sie kannten den Weg.

Im Stall angekommen waren Herrmann und Ernst fast nüchtern, nahmen ein Taxi und erschienen doch noch pünktlich zur Bescherung. Ich stand schon bereit, geschniegelt und gespornt.

Herrmann hatte sich versteckt, Ernst sah so böse aus, wie er nur konnte, und sagte: »Ich bin der Osterhase.« Danach lachte er.

Mich verwirrte dieser Humor ein wenig. Dann sagte er: »Ich bin der Weihnachtsengel.«

Das reichte meinem Vater. Er packte den nicht ganz nüchternen Ernst bei den Schultern und schob ihn in die Küche. Ernst ließ sich geduldig einen Krug Wasser über den Kopf gießen.

Vater kehrte ins Zimmer zurück und sagte, der Weihnachtsmann müsse dringend weg, und er sei beauftragt worden, die Geschenke zu verteilen.

Onkel Ernst wurde ins Bett verfrachtet, Onkel Herrmann kam aus seinem Versteck, und Mutter zündete die Kerzen an. Das Fest konnte beginnen.

Die Geschenke wurden aus einem großen Sack geholt – ich will nicht aufzählen, was da alles zutage kam, denn mich interessierte ein längliches Paket, das neben dem Sack an der Wand lehnte.

Ernst erschien, inzwischen ausgeschlafen. Mutter legte die Weihnachtsplatte auf. Der Sack war leer und das längliche Paket wurde mir von Onkel Ernst und Onkel Herrmann übergeben, denn es war ihr Geschenk an mich. Ein Luftgewehr.

Ehe ich mich freuen konnte, entriss mir Vater die Knarre und rief: »Mein Sohn bekommt kein Kriegswerkzeug geschenkt

Ernst erwiderte: »Das ist ein Sportgewehr, damit schießt man auf Scheiben.«

»Das ist genau wie unser Karabiner«, entgegnete mein Vater, »hier Kimme, da Korn.«

Er kniete nieder und begann, das Gewehr zu erklären. »Damit haben wir in Frankreich im Schützengraben gelegen und die Front jahrelang gehalten. Habt ihr auch Munition besorgt

Sie hatten: Bolzen und Kugeln.

Vater wurde immer wilder und legte an.

»Halt«, schrie Mutter, »nicht auf die Weihnachtskugeln. Habt ihr keine Scheiben

»Nein«, sagte Ernst, »aber wir können den halbmetergroßen Schoko-Osterhasen nehmen, den wir Herbert im vorigen Jahr geschenkt haben. Schokolade soll man sowieso nicht so lange aufheben.«

Er stellte den Hasen, der immer noch vor dem großen Spiegel stand, ans Ende unseres fünf Meter langen Korridors. Vater schmiegte sich auf den Fußboden wie Gary Cooper in die Prärie, drückte ab, peng. Kopf ab, großes Gejohle. Meine nach dem Gewehr ausgestreckte Hand wurde übersehen.

Ernst, Herrmann und Vater wechselten sich ab. Der Hase wurde immer kleiner. Nach etwa zwei Stunden reichte mir Vater das Gewehr. »Hier mein Sohn, nun du!«, dann gingen sie Skat spielen.

Da stand ich nun mit meinem Weihnachtsgeschenk. Vom Osterhasen war nur ein Häufchen Schokolade übrig. Und – die »Munition« war auch alle.

Wenn Theater,
dann aber richtig

1937 hatte ich die Schule beendet und nahm, wie meine Eltern es für mich bestimmt hatten, eine kaufmännische Lehre auf. Eines Tages entdeckte ich in einer Zeitung eine Annonce. Ich gestehe: Ich hatte danach gesucht. Ich wollte Schauspieler und nicht Kaufmann werden. Doch die Schule nahm nur jene auf, die eine Eignungsprüfung bestanden hatten. In der Anzeige suchte man Mutige, die sich für talentiert hielten und ihre vermeintliche oder tatsächliche Eignung für den Schauspielberuf bestätigen lassen wollten.

Ich meldete mich heimlich, wie ich auch heimlich die Texte auswendig lernte, die ich sprechen sollte. Es waren längere Passagen aus Kleists »Prinz von Homburg« und Schillers »Räuber«. Die Generalprobe absolvierte ich am Telefon, indem ich als Carl Köfer in der Schule in Spandau meinen Sohn Herbert krank meldete.

Ich ging also nicht ins Büro, sondern zur Prüfung. Am Ende bekam ich es schwarz auf weiß: »Die Eignung zum Schauspielberuf scheint gegeben.« Offenkundig scheuten die Prüfer, dem Prüfling Talent zu attestieren. Es schien ihnen nur so, dass er vielleicht eines besäße. Egal, letztlich hatte es mit dem Anruf und dem Test doch wunderbar geklappt.

Ich war in Höchststimmung und meinte, mir einen freien Tag verdient zu haben. Also rief ich wieder als mein Vater in der Lokomotivfabrik Orenstein & Koppel an und meldete meinen Sohn Herbert Köfer krank. Mein Anruf war erneut überzeugend. Man wünschte meinem Sohn, also mir, beste Genesung.

Natürlich musste ich nun das Haus verlassen. Allerdings hatte ich morgens mein Frühstücksbrot liegen lassen. Meine um mein Wohl besorgte Mutter bemerkte dies wenig später, setzte sich in die S-Bahn nach Spandau und wollte mein Pausenbrot abgeben. In der Buchhaltung war man überrascht. »Der Herbert liegt doch mit hohem Fieber daheim im Bett.«

Nichtsahnend kam ich am Abend zur gewohnten Zeit nach Hause. Auf Mutters Frage, wo ich denn gewesen sei, antwortete ich: »Dumme Frage – im Betrieb.« Ihr Schlag mit der flachen Hand in mein Gesicht saß. Noch nie hatte sie mich geohrfeigt. Ich spürte erstmals: Die Kunst verlangt Opfer. Aber warum solche schmerzhaften?

Rettung nahte in Gestalt meines Vaters, und nachdem ich ein überzeugendes Plädoyer für die Schauspielkunst und gegen das profane kaufmännische Gewerbe gehalten habe, wird er fast weich und ist bereit, seine Entscheidung zu überdenken.

Alsbald traf Post von der Schauspielschule ein. Man wollte mich. Da ich noch keine achtzehn war, sollten meine Eltern mich zum Gespräch an die Schauspielschule begleiten.

Der Direktor der Schule war freundlich und sehr überzeugend. Auf dem Gang zur Tür sagte er wie beiläufig: »Ihr Sohn ist begabt, ohne Zweifel, aber er hat abstehende Ohren. Es wäre besser, wenn Sie diese operativ anlegen ließen.« Operieren? Nein, das kam auf keinen Fall in Frage!

Statt Skalpell wählte ich Mastix. Damit kann man sich falsche Bärte ankleben. Warum nicht auch Ohren? Allerdings hatte der Kleister eine Macke: Wenn er warm wird, lässt die Wirkung nach.

Eines Tages werde ich nach dem Unterricht zum Direktor bestellt. In seinem Zimmer ist es sehr warm. Ich merke, wie es hinter meinen Ohren zieht, und ahne Schlimmes. Der Direktor redet und redet, und plötzlich macht es »plopp« und das rechte Ohr...