Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Ungeduldigen - Roman

Die Ungeduldigen - Roman

Véronique Olmi

 

Verlag Aufbau Verlag, 2022

ISBN 9783841229403 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

16,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Ungeduldigen - Roman


 

II

Sehnsucht nach etwas anderem


Es war ein Maiabend, eine milde Nacht mit einem Halbmond, der schüchtern im dunklen Himmel schwankte. Bruno war bei einer Sitzung in seiner Schule, Hélène übernachtete bei einer Freundin, Mariette war im Bett, und Agnès und Sabine leisteten sich den Luxus, auf das Kochen zu verzichten. Es gab wenig vorzubereiten und wenig Abwasch, wie ein Vorgeschmack auf die Ferien, ein entspannter Mädchenabend. Sie setzten sich vor den Fernseher und wollten, dass man sie unterhielt, sie waren bereit für eine Geschichte. Aber schon bei den ersten Bildern bedauerten sie, zusammen die Nachrichten zu sehen. Die Reportage ließ sie in eine Welt eintauchen, in der niemand sein wollte. Die Musik war düster, die Bilder deprimierend, ein Stadtviertel ohne Menschen, leere Treppenhäuser, als wäre der Ort in aller Eile evakuiert oder vor langer Zeit verlassen worden. Eine pathetische Stimme kommentierte: »Die Untersuchungen haben ergeben, dass in Grenoble seit mehreren Monaten ein richtiges Netzwerk bestanden hat. Sehen wir uns die ermittelten Fakten etwas näher an.« Sie fürchteten das, was folgen würde. Sie schauten sich nicht an. »Die Gendarmerie hat ein bestens organisiertes Abtreibungszentrum entdeckt.« Die Kamera zoomte auf ein Plakat, die Worte kamen näher: »Freie und kostenlose Abtreibung«, die Worte brannten sich auf der Retina ein, füllten den Bildschirm aus. Agnès und Sabine fühlten sich anvisiert. Angesprochen. All die Töchter, die von ihrer Mutter vor den Opferaltar geführt wurden, ein Duo der Not, der Furcht und der Demütigung. Jetzt sprach eine Frau: »Wir haben beschlossen, auf zwei Wegen vorzugehen, auf legalem Weg, den kennen Sie, Gesetzentwurf, Aktionen bei Abgeordneten, aber auch auf illegalem Weg. Wir führen beispielhaft Abtreibungen durch.« Agnès schaltete mit hektischer Autorität den Fernseher aus. Sabine hatte die Anwältin Halimi erkannt, sie erinnerte sich an den Prozess von Bobigny sechs Monate zuvor, im November, ihre Französischlehrerin hatte eine Unterrichtsstunde darauf verwandt. Durfte sie das? Sie hatte die Anwesenheit von Simone de Beauvoir beim Prozess erwähnt und Zahlen von toten, verstümmelten, für immer gebärunfähigen, eingesperrten Frauen genannt. Die Schülerinnen hatten ihr in angespanntem Schweigen zugehört. Nach dem Krieg von 1914 hatte der Staat 1920 die Geburtenzahl erhöhen wollen und jede Form von Empfängnisverhütung verboten. Verstanden sie, dass es in diesem Prozess dank Gisèle Halimi nicht nur um eine vergewaltigte Minderjährige ging, die abgetrieben hatte, sondern um ein mehr als fünfzig Jahre altes Gesetz, das die Abtreibung zu einem Verbrechen für das Schwurgericht machte? Sie verstanden nicht viel und blieben stumm, geradezu feindselig. Und dann hatte ein Mädchen den genauen Preis einer Abtreibung genannt: mehr als viertausend Franc, und alle hatten sich gefragt, woher sie das wusste. Eine andere hatte gesagt, man höre das Herz des Fötus schlagen, das sei ein Verbrechen, eine Schülerin hatte ihr entgegnet, das sei ein Prozess gegen die Armut, gegen den Körper armer Frauen. Alles war peinlich, irgendwie abstoßend, was gesagt wurde und auch, was verschwiegen wurde.

Vor dem ausgeschalteten Fernseher, im Halbdunkel des Wohnzimmers, das jetzt durch kein Licht mehr erhellt wurde, fragte Agnès ganz leise:

»Du würdest mir doch sagen, wenn dir was passiert?«

»Würdest du für mich ins Gefängnis gehen?«

»Ich bin deine Mutter.«

Sie hörten Mariette weinen. Agnès sprang auf, wie immer. Sie zögerte kurz und sagte, ohne Sabine anzusehen:

»Ich möchte vor allem, dass du dich nicht schämst.«

Und dann stand sie auf, um der Kleinen Ventolin zu geben, das den Dampf des warmen Wassers ersetzt hatte.

Sabine ging hinaus, ohne die Tür zu knallen, aber voller Lust, die Wohnung kurz und klein zu schlagen. Wie konnte ihre Mutter verlangen, sie solle sich nicht schämen, wo doch alles getan wurde, um die Scham zur zweiten Haut zu machen? Sie rannte durch das Viertel, auch hier war es hässlich, also gab es auch hier illegale Abtreibungen, organisierte Massaker und Vernichtung. Sie rannte los und wusste nicht wohin. Hinter den Häusern blieb sie am Straßenrand unter einer Platane stehen, die wie ein verirrter Wachposten in der Dunkelheit wartete. »Ich möchte vor allem, dass du dich nicht schämst!« Weiter nichts? O ja, die Feministinnen verlangten eine glückliche Sexualität, eine Verhütungsrevolution, das war genauso ein Witz wie ihre beispielhaften Abtreibungen. Wer würde ihr die Pille verschreiben? Wen würde sie um Erlaubnis bitten? Ihren Vater oder ihre Mutter? Mit dem offiziellen Vorwand, sie wolle »ihren Zyklus regulieren«! Und wen von beiden würde sie bitten, die Rechnung zu bezahlen? Sich in das Stammdatenheft des Apothekers eintragen zu lassen? Ihre Wut wuchs, während sie sich die Hindernisse aufzählte, die ihr Leben reglementierten. Sie fühlte sich gefangen und auch beobachtet, als schuldete sie irgendwelchen Männern, die sie gar nicht kannten, Rechenschaft.

Sie stand allein am Straßenrand, und sie war unruhig, sie war nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Sie war gerade siebzehn geworden, und ihre Eltern ließen sie nie am Abend ausgehen, höchstens nachmittags, denn sie hatten nie begriffen, dass man auch am Nachmittag miteinander schlafen kann. Aber genau das tat sie, seit mehreren Monaten führte sie dieses neue Leben, das Leben mit einer Sexualität zu zweit. Ihr Freund Jean-Louis war darin begabt, wie andere in Mathe oder Fußball. Er spielte zwölfsaitige Gitarre, und sie erzählte ihren Freundinnen, Er ist sehr fingerfertig. Das brachte sie zum Lachen und weckte ihre Lust, ihn ihr wegzuschnappen, sie mussten nur ein bisschen warten, die Beziehungen dauerten nie lange, ein paar Monate, dann ging man auseinander, aus Angst, ein Paar zu werden, sich in diesem alten Schema einzusperren, das nur für die Eltern gut war. Nicht der Akt an sich bereitete Sabine Lust, sondern das, was man »Vorspiel« nannte, allerdings traute sie sich nicht, es zuzugeben, denn in den Büchern war es immer andersrum, da verlor das Mädchen immer total den Verstand, sobald sie das Ding eines Mannes in sich spürte, vielleicht war das eine andere Etappe, etwas, das mit dem Alter auch bei ihr kommen würde. Vorläufig stand nicht Liebe im Vordergrund, sondern Logistik: Hygiene, das Geld für ein Präservativ, wo versteckte man es, wie streifte man es über und wieder ab und wo warf man es weg, der Tagesablauf der Eltern, Türen, die nicht schlossen, Flecken auf den Laken und all die Tricks, um zu verbergen, dass ihr tatsächlich etwas passierte. Die Sexualität war strikten Zwängen unterworfen: keine Geräusche machen, nicht als Schlampe gelten (es nicht zu sehr mögen, nicht mehr davon verlangen), und einer unausgesprochenen Abmachung: Man durfte den anderen gernhaben, sich aber auf keinen Fall an ihn binden. Und außerdem musste man das Ganze entmystifizieren, indem man auf dem Schulhof davon erzählte. Der Zwölfsaitengitarrist hatte einen haarsträubenden algerischen Akzent, er nannte Sabine mit diesem Akzent »mein Ziiiicklein«, und zum Spaß taten das auch die Freundinnen, sie riefen Sabine von weitem »mein Ziiiicklein!« und meckerten wie Ziegen. Sie machten sich über alles lustig, sie redeten die Enttäuschungen klein und begruben die Sehnsucht nach etwas anderem.

Langsam ging Sabine nach Hause. Sie bedauerte, dass Hélène nicht da war, sie hätten ein bisschen schwatzen können. Ihre Schwester wuchs auch heran, sie wusste Dinge, von denen Sabine keine Ahnung hatte. Sie erzählte ihr von der Verschmutzung der Flüsse, von Bauern, die starben, wenn sie die Pflanzen berührten, die sie behandelt hatten, das war ein wirrer Alptraum. Manchmal überraschte sie Hélène dabei, dass sie die Zeitung las, die sie gekauft hatte, dann war es ihr peinlich und sie legte sie behutsam und wortlos zurück.

Agnès wartete auf sie. Sie kam in den Flur, kaum dass sie die Wohnungstür hörte.

»Dein Vater ist da. Ich habe ihm nicht gesagt, dass du weg warst. Ich bin vor Angst gestorben. Wo warst du?«

Sie zog sie in die Küche. Das Licht war gelb und erbärmlich. Sabine kam es vor, als lächelte ihre Mutter, aber das war bestimmt nur die Beleuchtung. Sie legte eine kleine Schachtel auf den Tisch, wie man eine Karte ablegt.

»Eine Tablette jeden Abend vor dem Einschlafen, ab dem ersten Tag der Regel.«

»Was ist das...