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Grenzen der Anstalt - Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 - 1980

Grenzen der Anstalt - Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 - 1980

Cornelia Brink

 

Verlag Wallstein Verlag, 2013

ISBN 9783835320949 , 551 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz frei

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36,99 EUR

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Grenzen der Anstalt - Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 - 1980


 

9. Die Radikalisierung von Einschluss und Ausschluss aus der psychiatrischen Versorgung (1931/32-1945) (S. 346-347)

Die Geschichte der Psychiatrie in den späten Weimarer Jahren lässt sich mit Detlev Peukert als »Geschichte von Legitimationskrisen und organisatorischem Verfall« charakterisieren. In der Weltwirtschaftskrise, so Peukert, sei die Grenze sozialer Staatstätigkeit ans Licht getreten, die sich fatalerweise prozyklisch entwickelt habe: »In wirtschaftlichen Boomjahren besaß man die Mittel zum Ausbau der Leistungen, obwohl ihre Beanspruchung relativ gering war.

Wenn dagegen in Krisenzeiten die sozialpolitische Intervention besonders dringlich benötigt wurde, drängte der Staat auf Einsparungen und Leistungsabbau.« Wer in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht war, konkurrierte um Unterstützung mit der großen Gruppe der Wohlfahrtserwerblosen, meist jüngere arbeitsfähige Menschen, die häufig einer Familie vorstanden, außerdem mit der Klientel der allgemeinen Fürsorge, den Alten und Siechen, Witwen, alleinstehenden Frauen mit Kindern, den Sozialrentnern, Kleinrentnern und den Kriegsopfern.

Das Janusgesicht der Weimarer Reformpsychiatrie


Die Frage, welche Kosten für die geschlossene Fürsorge und insbesondere für Geisteskranke und Behinderte zu rechtfertigen waren, hat den Weimarer Wohlfahrtsstaat von Beginn an begleitet. Seit Ende der 1920er Jahre kannte die öffentliche Debatte um den sozialen Ort von Psychiatrie und psychisch Kranken nur noch einen Fokus: »Sparsamkeit in der Anstalt «. Sämtliche Experten, die sich zu Wort meldeten, teilten die Auffassung, die bisherigen finanziellen Aufwendungen seien angesichts der allgemeinen Notlage ein Luxus, den man sich nicht mehr leisten könne und der öffentlich nicht zu legitimieren sei.

Psychiater machten hier keine Ausnahme. Je knapper die wirtschaftlichen Ressourcen wurden, desto größer wurde auch unter denen, die für ihre Patienten hätten eintreten können, die Bereitschaft, sie vor allem bei jenen Kranken einzusparen, von denen zu erwarten war, dass sie keine produktiven Leistungen mehr erbringen würden. Der Geisteskranke, so formulierte es 1930 stellvertretend für viele seiner Kollegen der reformorientierte Psychiater Wilhelm Alter, repräsentiere einen Ausfall an Produktion, »nicht nur in seiner Person, sondern auch durch den Personalanspruch, den seine Verpflegung erfordert.

Sie ist volkswirtschaftlich eine langwierige, unproduktive Konsumption fremder Arbeitskraft.«4 Alters Äußerung liest sich wie der Kommentar zu einer Fotografie, die drei Jahre später, 1933, im ersten Jahrgang der Zeitung Neues Volk erscheinen sollte. Die Aufnahme zeigt einen offensichtlich behinderten jungen Mann. In ein langes dunkles Kleidungsstück gehüllt sitzt er auf einem Holzstuhl. Die Augen hält er geschlossen, seine rechte Hand und beide Füße sind verkrampft.

Hinter ihm steht ein zweiter junger Mann in weißer Jacke. Freundlich in die Kamera lächelnd, hat er seine Hände auf die Schultern des Sitzenden gelegt. Im Hintergrund sind Bäume und ein Maschendrahtzaun zu erkennen. »Dieser Pfleger«, heißt es in der Legende, welche die Herausgeber dem Bild beigefügt hatten, »ein gesunder kraftvoller Mensch, ist nur dazu da, um diesen einen gemeingefährlichen Irren zu betreuen. Müssen wir uns dieses Bildes nicht schämen?«