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Blutwinter (eBook)

Blutwinter (eBook)

Markus Flexeder

 

Verlag ars vivendi, 2014

ISBN 9783869134833 , 184 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,49 EUR

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Blutwinter (eBook)


 

 

»Zwecks was möchten Sie denn unbedingt wissen, was vor fünfundachtzig Jahren war?«, fragte Maria Stadler. Sie blickte auf das Kruzifix, das gegenüber von ihrem Bett an der Wand hing. Bevor sie einschlief, betete sie jeden Abend ein Vaterunser und ein Ave Maria. Doch der wirkliche Austausch, eine Unterhaltung mit Gott, das wollte ihr seit fünfundachtzig Jahren nicht mehr recht gelingen. Dazu fehlten ihr die Worte. Und jedes Jahr, wenn die Tage im Wechsel von Sommer zu Winter kürzer wurden, wenn der erste Schnee fiel und sich das Jahr dem Ende neigte, kamen die Erinnerungen an das schier Unbeschreibliche zurück. Mehr als achtzig Jahre hatte sie mit keinem Menschen darüber gesprochen. Gefragt hatte man sie damals oft, doch sie hatte geschwiegen, so wie alle.

»Aber Frau Stadler, wieso denn diese Ablehnung? Wir sind extra aus München angereist, um uns mit Ihnen zu unterhalten. – Gefallen Ihnen denn wenigstens die Blumen?«

Am Bett der alten Dame standen Korbinian Lallinger und Norbert Aumüller. Die zwei Journalisten waren fest entschlossen, die Geschehnisse der sogenannten »Blutnacht« im oberbayerischen Wolfsham aufzuklären, die auch ein knappes Jahrhundert später noch immer Rätsel aufgaben.

»Glauben Sie wirklich, mich alte Schachtel kann man mit ein paar Blumen um den Finger wickeln? Das haut vielleicht bei den jungen Madln hin, aber nicht bei mir.«

Eine Pflegerin betrat das Zimmer. Jeden Nachmittag zur gleichen Zeit schüttelte sie die Daunenkissen auf und wechselte Marias Katheterbeutel. Meist sagte sie mit ihrem polnischen Akzent nur knapp »Hallo« oder nickte mit dem Kopf und verschwand wieder. Schließlich warteten den Gang entlang noch siebenundzwanzig andere Heimbewohner, denen das gleiche Interesse zuteilwerden musste.

An diesem Tag war es Maria egal, dass die Pflegerin nach zwei Minuten das Zimmer wieder verließ. Für gewöhnlich starrte sie danach erneut an die Decke oder auf den Kirschbaum vor ihrem Fenster. Doch nicht heute: Obwohl die fremden Männer über etwas sprechen wollten, das Maria widerstrebte, freute sie sich insgeheim über den Besuch.

Nachdem sie ins Seniorenheim gekommen war, hatte Maria gehofft, dass ihr Sohn Lukas sie öfter besuchen würde. Doch der ließ sich nur zweimal, höchstens dreimal im Monat bei ihr blicken. Öfter fanden er und seine Frau keine Zeit. Wahrscheinlich, so Marias Überlegung, übernahm er auch wegen seines schlechten Gewissens die Mehrkosten für ihr Einzelzimmer. Doch ihre luxuriöse Ungestörtheit führte gleichzeitig zu monotoner Einsamkeit. Selbst das beiläufige »Grüß Gott« eines Unbekannten zauberte inzwischen ein sehnsüchtiges Lächeln in ihr Gesicht.

Die Journalisten hatten ihren Besuch im Vorfeld telefonisch an der Heimpforte angekündigt, da Maria kein Telefon im Zimmer hatte. Als sie davon erfuhr, verspürte sie ein Kribbeln. »Extra aus München. Einen so weiten Weg, bloß zwecks meiner«, hatte sie nicht ohne einen gewissen Stolz zur Pflegerin gesagt. Sie ahnte allerdings, dass es für dieses seltene Interesse an ihrer Person nur einen Grund geben konnte.

»Frau Stadler …«, Korbinian Lallinger setzte sich neben sie an das Bett und legte seine Hand auf Marias zerbrechlich wirkenden Arm. »Sie sind die einzige Person, die noch am Leben ist und von den Geschehnissen weiß. Bis heute kennt niemand die Wahrheit. Nur Sie können uns noch helfen.«

Als hätte sie diesen Appell überhaupt nicht gehört, blickte Maria auf den kahlen Kirschbaum vor ihrem Fenster im ersten Stock. Der Winter kommt bald, dachte sie. Die Bauern werden bei der Arbeit frieren. Mich hat’s immer gefroren. Auch in jener Nacht hat’s mich gefroren. Bitte, lieber Gott! Mach, dass die Männer jetzt gehen.

Die Angst, sich bewusst zu erinnern und all die Albträume wieder zu durchleben, überwog Marias Hunger nach Zuwendung. Noch war sie nicht bereit, einen so hohen Preis dafür zu bezahlen. Der bloße Gedanke, jene schrecklichen Erlebnisse in Worte zu fassen, versetzte sie in Panik. Doch ihr Zaudern entmutigte die Journalisten keineswegs.

»Geben Sie sich einen Ruck. Bitte!« Mit dem Zeigefinger schob Lallinger seine Brille auf der Nase zurecht.

Maria schloss die Augen. Mehr an sich selbst als an die anwesenden Herren gerichtet, seufzte sie leise: »Was soll ich denn bloß tun?«

Der Journalist nahm die Hand von ihrem Arm und drehte sich mit einem Augenzwinkern zu seinem Kollegen, der am Ende des Bettes stand.

Maria fühlte sich so zerrissen wie lange nicht mehr. Obwohl sie mit zunehmendem Alter immer mehr den Drang verspürte, sich jemandem anzuvertrauen, wollte sie doch zugleich schweigen, um zu vergessen – wie sie es mehr als achtzig Jahre lang vergebens versucht hatte.

Zwischen den Fingern ihrer linken Hand rollte sie die schwarzen Perlen eines Rosenkranzes, und ihre Lippen formten lautlos Worte. Die beiden Männer in ihrem Zimmer schien sie ganz vergessen zu haben.

 

Lieber Gott, ich hab so lang versucht, alles zu vergessen. Hast mir du die Männer geschickt? Ich bin alt, warum lässt mich nicht einfach tot umfallen? Warum tust mir das an? Ist’s die letzte Prüfung, die ich zu bestehen hab? Wieso bist bloß so unbarmherzig zu mir?

Erlöse uns, oh Herr, wir bitten dich,

von allem Übel,

sei es vergangen, gegenwärtig oder zukünftig;

und auf die Fürsprache der seligen,

glorreichen, allzeit reinen Jungfrau und Gottesmutter Maria,

wie auch deiner heiligen Apostel

Petrus, Paulus und Andreas

und aller Heiligen,

gib barmherzig Frieden in unseren Tagen.

Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen,

dass wir von Sünde allzeit frei bleiben

und vor jeder Beunruhigung gesichert seien.

Durch unseren Herrn Jesus Christus,

deinen Sohn,

der mit dir lebt und herrscht

in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott.

Von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Amen.

 

Maria öffnete die Augen, sah die beiden Journalisten nacheinander an und nickte. »In Gottes Namen, sei’s drum«, sagte sie laut und entschlossen. »Aber es kann sein, dass ich mich nimmer an alles erinnern kann.«

»Das ist überhaupt kein Problem, Frau Stadler. Wir haben Akten aus dem Polizeiarchiv. Wir helfen Ihnen schon, sich zu erinnern.«

Maria schaute Aumüller erstaunt an. »Das können Sie?« Dann zog sie misstrauisch die Brauen hoch. »Sie sind doch nicht etwa von der Polizei?« Sie sah immer noch zu Aumüller, und seine nach hinten gegelten Haare, die stocksteife Körperhaltung und die Art, wie er sie musterte, vermittelten ihr eine elitäre, nahezu arrogante Selbstzufriedenheit.

Korbinian Lallinger wusste um den Eindruck, den sein Kollege machte, weshalb er es war, der auf Marias Frage antwortete: »Nein, nein. Aber einfach war es nicht, an die Akten zu kommen.« Er legte dabei seine braune Ledertasche, die bisher auf dem Boden neben dem Bett gestanden hatte, auf das klapprige Besuchertischchen, das unter dem Kruzifix stand.

Maria konnte nicht verstehen, warum ein so feiner Herr eine so abgenutzte, alte Tasche hatte. Hätte sie gewusst, dass Lallinger die Tasche im »Vintage-Look« für viel Geld erst vor einer Woche gekauft hatte, wäre sie schier vom Glauben abgefallen: Man kauft sich doch nichts Neues, das gebraucht aussieht.

Was der Mann allerdings aus der Tasche zog, war tatsächlich so alt, wie es aussah. Es war ein zehn Zentimeter dicker Aktenordner aus grauschwarzem Karton. Auf dem Deckel war ein vergilbtes Blatt Papier aufgeklebt, das sich an den Rändern schon abzulösen begann. Da­rauf stand in fein säuberlichem Sütterlin:

»Wolfsham, 5. und 6. Dezember 1920«

Maria blinzelte. Ihre Augen waren feucht. »Darf ich mal schauen?«

»Vorsicht, schwer«, sagte Lallinger und reichte ihr die Unterlagen.

Sie senkte langsam den Kopf und fuhr mit ihren Fingern über den Ordner. »Ja … das ist fast so alt wie ich.« Dann riss sie ihre Hände in die Höhe, machte eine abwertende Geste und drehte den Kopf beiseite. »Es stinkt abgestanden und verpestet die Luft zum Schnaufen. – Ich versteh’s nicht, wieso man so was aufhebt.« Ihr Tonfall war schroff, fast schon schrill. »Sie haben doch schon alles. – Ich war zehn Jahre alt. Was kann ich schon wissen?« Sie legte ihre Hände in den Schoß, ballte sie zu Fäusten und blickte zu Jesus, der vom Kreuz gegenüber auf sie herabschaute.

»Lassen Sie es uns versuchen, Frau Stadler, bitte!«, sagte Aumüller.

»Holen Sie eine Schwester, die soll die Blumen in eine Vase stellen«, entgegnete Maria. Sie atmete schwer, doch ihre Stimme wechselte in eine freundlichere Tonlage. »Wissen Sie, ich hab schon lang keinen Blumenstrauß mehr gekriegt. Haben Sie den in München gekauft?«

Lallinger nickte und drehte den Kopf zu seinem Kollegen. Dieser verließ das Zimmer, um kurz darauf mit einer wassergefüllten Vase zurückzukommen. Maria wiegte den schwarzen Rosenkranz nachdenklich in ihren Händen. »Und jetzt?«, fragte sie.

»Um Ihnen das Erinnern zu erleichtern, ist es wohl am besten, ich lese Ihnen aus den Unterlagen vor. Hinterher schildern Sie uns Ihre Geschichte. Einverstanden?«

Maria blieb stumm, und Lallinger zog an der...