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Bauernopfer (eBook) - Charly Valentins erster Fall

Bauernopfer (eBook) - Charly Valentins erster Fall

Thomas Peter

 

Verlag ars vivendi, 2014

ISBN 9783869134017 , 328 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Bauernopfer (eBook) - Charly Valentins erster Fall


 

 

Sonntag, 12. Oktober

Sie kam mit dem Klingeln gar nicht hinterher. Theresa Kornburg hatte wie jeden Tag den Blumenschmuck am Marterl nahe beim Hochwasserdamm kontrolliert und strampelte jetzt mit wehender Kittelschürze und flatterndem Kopftuch wieder zurück ins Dorf. Auf dem Schotterweg waren ganze Völkerscharen unterwegs. Alle genossen den Sonnenschein an diesem herrlichen Herbsttag: Familien mit herumtollenden Kindern und zickzackschnüffelnden Hunden, verträumt Händchen haltende Paare, schwitzende Jogger und stochernde Walker, grellbunte Rennfahrer mit futuristischen Sonnenbrillen, Freizeitradler mit Hosenklammern, Pferdeliebhaber, die die gelangweilt grasenden Rösser auf den Koppeln links und rechts des Weges bewunderten, und Stadtflüchter, die durch die Wiesen und Felder zur glitzernden Donau hinunter flanierten – sie alle wuselten vor Frau Kornburg auf dem Weg herum. Und im Gegensatz zu ihr hatten alle Zeit und Muße, um interessiert in der Gegend herumzuschauen, auf alles Mögliche zu deuten und es zu bequatschen. Aber außer ihr fiel auch keinem auf, dass die Stalltür in dem Hof neben den Pferdekoppeln offen stand.

›Komisch‹, dachte Frau Kornburg, ›beim Bichler ist doch sonst immer alles zu.‹ Egal ob zehn Grad Kälte oder dreißig Grad im Schatten, der Bauer ließ sonst weder am Wohnhaus noch am Stall oder an einer der Scheunen ein Tor, eine Tür oder ein Fenster offen stehen. Sie wurde langsamer und betrachtete den Hof. Nichts regte sich in dem Geviert. Doch jetzt, da sie sich auf das Anwesen konzentrierte, konnte sie zwischen dem Geplapper und Getöse auf dem Weg das Vieh im Stall hören. Die Tiere waren unruhig, unzufriedenes Muhen mischte sich mit metallischem Gerassel. Es ging zwar auf die Fütter- und Melkzeit zu, aber die Arbeiten waren noch nicht überfällig. Und außerdem war der Bichler in diesem Punkt immer zuverlässig.

›Dann müsste er sie ja heute früh schon nicht …‹, dachte Frau Kornburg. Sie hielt an, lehnte ihr Rad an die Mauer und betrat den gekiesten Hof.

»Herr Bichler?«, rief sie, und noch einmal mit anderer Betonung: »Herr Bichler?« Sie erhielt keine Antwort. Neugierig, aber auch sehr vorsichtig betrat sie durch die offene Tür den Stall. Der alte Bichler mochte es überhaupt nicht, wenn man auf seinem Hof herumschnüffelte. In den Boxen wankten die Kühe ungeduldig hin und her und schlugen dabei gegen die Metallgitter. Obwohl am helllichten Tag die Beleuchtung brannte, war es duster hier drinnen; besonders wenn man aus dem Sonnenschein hereinkam. Sie kniff die Augen zusammen und sah sich um. Dann entdeckte sie ihn am anderen Ende des Stalles. Auf ein weiteres, zögerliches »Herr Bichler?« reagierte er nicht. Nach ein paar Schritten in seine Richtung blieb sie stehen wie vom Donner gerührt. Sie atmete hörbar ein und bekreuzigte sich. »Jesus, Maria und Josef …«

 

Das Gedudel des Telefons riss Charly aus seinem Tagtraum. Der Blick aus dem Bürofenster auf die roten und gelben Blätter der Kastanienbäume im warmen Glanz des Spätnachmittags hatte ihn dazu verführt, sich noch einmal die drei Tage ins Gedächtnis zu rufen, die er vor kurzem zusammen mit Petra in Südtirol verbracht hatte. Er erinnerte sich an die fantastische Aussicht auf dem Höhenweg, an Petras herzliches Lachen, als er den Kuhfladen genau in der Mitte getroffen hatte, an den schweren Rotwein, der beim Abendessen so majestätisch im Kerzenschein glühte, und an die winzigen Härchen an Petras Bauch, die verführerisch in der schummrigen Saunabeleuchtung geflimmert hatten. Die Reise war die Überraschung seiner Frau zu seinem 41. Geburtstag gewesen.

Der Kurzurlaub hatte seinen Kommissariatsleiter allerdings nicht daran gehindert, während dieser Zeit den Dienstplan zu gestalten und ihn für den Nachmittagsdienst am heutigen Sonntag einzuteilen, bevor er irgendetwas dagegen hatte sagen können. Der Vorgesetzte ging gerne den für ihn einfachen Weg, und er wusste, dass der gutmütige Kriminaloberkommissar ihn dafür zwar nicht lieben, den Sonntagsdienst aber ohne Murren erledigen würde.

Fünfundvierzig Minuten noch, dann käme die Ablösung und Charly hätte einen unspektakulären, geradezu langweiligen Bereitschaftsdienst beendet und das Wochenende beschaulich ausklingen lassen. Doch jetzt jodelte dieses Telefon und auf dem Display leuchtete ›1012 PD IN EZ‹. Und wenn die Einsatzzentrale am Wochenende den Bereitschaftsdienst der Kripo anrief, bedeutete das in der Regel nichts Gutes.

Er ließ die abgewetzten Cowboystiefel von der Tischkante gleiten und setzte sich aufrecht hin.

»Kripo Ingolstadt, K1, Valentin«, meldete sich Charly. Sein Familienname war der Grund, dass er Charly genannt wurde. Eigentlich hieß er Georg. Doch bereits in den ersten Tagen seiner Polizeiausbildung waren die Kollegen auf die Idee gekommen, ihn in Anlehnung an das bayerische Komiker-Original Karl statt Georg zu nennen. Und ein Karl wird bei der bayerischen Polizei in den meisten Fällen automatisch zum Charly. Nur seine Mutter nannte ihn noch Georg, während sein Vater und seine Frau Petra ihn Schorsch riefen.

»Moin, moin, Bruce, EZ, hier«, schepperte es im Hörer und Charly musste lächeln, als er seinen Gesprächspartner erkannte: Heinz Uwe Dirksen, vor Jahren von der Nordseeküste nach Bayern emigriert und seither Polizist in Ingolstadt. Wenn er auch mit Leib und Seele die bayerische Lebensart zelebrierte, so weigerte er sich beharrlich, den Dialekt anzunehmen. Bestenfalls sprach er gepflegtes Hochdeutsch und nicht sein Waterkant-Kauderwelsch. Den bayerischen Dialekt imitierte er nur zur allgemeinen Belustigung in geselligen Runden oder zu seinem eigenen Spaß.

Heinz Uwe war der Überzeugung, dass man nur wirklich dazu gehörte, wenn man einen Spitznamen – oder einen Nickname, wie er sich ausdrückte – hatte. Und da er sich selbst die Kampfkraft von Bruce Lee und die Coolness von Bruce Willis zusprach, sollten alle ihn als Bruce kennen und ihn ausschließlich so nennen.

»Servus, Heinz«, begrüßte ihn Charly, »was gibt’s?«

»Z’Knoglersfreid end, an da Roßlett’n, had si’ scheint’s da Aussabauer entleibt.«

»Hä?« Auf diese dialektische Kaskade war Charly nicht gefasst.

Bruce stöhnte. »Im Ingolstädter Ortsteil Knoglersfreude, Roßlettenstraße, ist anscheinend der Besitzer des am weitesten außen gelegenen landwirtschaftlichen Anwesens durch Freitod aus dem Leben geschieden.«

»Ah, jetzt! Geht doch.« Charly sah seinen gemütlichen Abend auf der Couch in unerreichbare Ferne rücken. »Und, weiter?«

»Roßlettenstraße 17, Josef Bichler. Tot im Stall aufgefunden von einer Nachbarin. Suizid durch Erschießen, die Waffe hat er noch in der Hand. Kollegen von der Inspektion sind vor Ort. Der Notarzt bescheinigt unnatürlichen Tod. Was machst du denn heute noch? Ich geh jetzt dann nach Hause.«

»Danke, Depp. Wen hast du schon alles verständigt?« Charly überging die Anspielung. Derartige Sticheleien waren zwischen ihnen üblich und beruhten je nach Gelegenheit auf Gegenseitigkeit.

»Nur dich! Wenn die Offiziere von der Kripo das Ruder übernehmen, dann sind wir Leichtmatrosen doch außen vor. Den Rest machst du.«

»Ja, schon klar. Bitte informier noch den zuständigen Bestatter. Du weißt doch, wie lange die immer brauchen, grad am Sonntag. Ansonsten wünsch ich dir einen schönen Feierabend, Fischkopf.«

»Danke, Seppl. Mach nicht so lang. Auch dir danach noch einen schönen Feierabend. Tschüss.«

Mit einem »Servus, du Pfeife« legte Charly auf. Er massierte sich die rechte Schulter und bewegte den angewinkelten Arm vorsichtig vor und zurück. Seit zwei Tagen spürte er ein Ziehen vom Nacken bis zum Oberarm, ohne dass er sich erklären konnte, was die Schmerzen verursachte. Dann riss er den Zettel mit seinen Notizen ab und machte sich auf den Weg quer durch die Dienststelle, denn sein Partner für diesen Bereitschaftsdienst war Kollege Nager vom Betrug. Charly war mit dieser Einteilung nicht glücklich. Nager war ein exzellenter Ermittler, wenn es um eine Insolvenz, einen Firmenbankrott oder einen Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz ging. Im Umgang mit Firmenchefs, Anwälten und Steuerberatern blühte er auf. Aber wenn es um Leichen oder um allgemeine polizeiliche Ermittlungen in den Niederungen des Lebens ging, dann legte er für gewöhnlich ein schon sprichwörtliches Desinteresse an den Tag.

 

15 Minuten nach dem Anruf der Einsatzzentrale öffnete sich wie von Geisterhand das schwere Eisentor, und sie verließen den Innenhof der Polizeidirektion. Nager hatte zunächst noch versucht, Charly zu überreden, alleine zu dem Selbstmord zu fahren, weil die Sache ja ohnehin klar und mit Sicherheit ohne Schwierigkeiten aufzunehmen wäre. Mit ein wenig Honig ums Maul hatte Charly ihn jedoch überzeugen können, dass seine Anwesenheit dringend erforderlich war. Das war nicht ungefährlich, denn Nager war kriminalpolizeiliches Urgestein, zweifellos mit den älteren Rechten und mit dem besseren Draht zum Chef. Charly hingegen gehörte erst seit sechs Jahren der Kripo an. Er war damals auf eigenen Wunsch aus dem Schichtdienst der Ingolstädter Inspektion zur Kripo versetzt worden und nach Stationen bei der Fahndungseinheit und beim Erkennungsdienst schließlich beim Kommissariat 1 gelandet, das für Morde und andere Todesfälle, Vergewaltigungen und dergleichen mehr zuständig war.

Einen großen Fall hatte Charly bis jetzt nicht bearbeitet. Nur einige in ihren Wohnungen aufgefundene Leichen, die an einem Sturz von der Leiter oder an langjährigem Alkoholmissbrauch gestorben waren, sowie einen Selbstmörder. Und dies hier schien sein zweiter Suizid...