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Uni-Wissen Interkulturelle Kompetenzen - Erfolgreich kommunizieren zwischen den Kulturen - Kernkompetenzen

Uni-Wissen Interkulturelle Kompetenzen - Erfolgreich kommunizieren zwischen den Kulturen - Kernkompetenzen

Astrid Erll, Marion Gymnich

 

Verlag Klett Lerntraining, 2015

ISBN 9783129391143 , 180 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR

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Uni-Wissen Interkulturelle Kompetenzen - Erfolgreich kommunizieren zwischen den Kulturen - Kernkompetenzen


 

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Kultur und Interkulturalität


In diesem Kapitel geht es in erster Linie um die kognitive Teilkompetenz interkultureller Kompetenz, und zwar um die Komponente ‚kulturtheoretisches Wissen‘. Ziel ist die Vermittlung von Wissen über die Funktionsweisen von Kulturen, über kulturelle Unterschiede und deren Auswirkungen in der interkulturellen Begegnung. Die in Kapitel 1 bereits erläuterte enge Verflechtung der drei Teilkompetenzen der interkulturellen Kompetenz miteinander wird aber auch bei der Auseinandersetzung mit dem Wissen über Kultur deutlich. In dem Maße, in dem man Wissen über eine bestimmte fremde Kultur oder auch Wissen über kulturelle Unterschiede und deren Einfluss auf das Handeln erwirbt, wachsen die Möglichkeiten, Empathie und Fremdverstehen zu entwickeln, also sich dem Gegenüber sowohl kognitiv als auch affektiv anzunähern.

Im ersten Teilkapitel („Was ist Kultur?“) steht die Vermittlung von kulturtheoretischen Kenntnissen im Vordergrund: Was ist unter ‚Kultur‘ zu verstehen? Wie entstehen Kulturen, und welchen Einfluss haben sie auf unser Denken und Handeln – und nicht zuletzt auf die Interaktion mit Angehörigen anderer Kulturen? Ziel des zweiten Teilkapitels („Multikulturalität – Interkulturalität – Interkultur“) ist die Klärung von Schlüsselbegriffen in der aktuellen Interkulturalitätsdebatte. Ausgehend von den kulturtheoretischen und -politischen Überlegungen der ersten beiden Teile wird im dritten Teilkapitel dann konkreter gefragt, wo denn genau die ‚Unterschiede zwischen Kulturen‘ liegen. Auf welche Merkmale lohnt es sich zu achten, wenn man Angehörigen fremder Kulturen begegnet? Zum Schluss werden zwei einflussreiche Ansätze vorgestellt, die Kulturen miteinander vergleichen. Dabei handelt es sich um GEERT HOFSTEDEs Untersuchungen zu ‚fünf Kulturdimensionen‘ und ALEXANDER THOMAS’ Erforschung von ‚Kulturstandards‘.

1Was ist ‚Kultur‘?


Wer interkulturelle Begegnungen erfolgreich und reflektiert meistern will, muss zunächst einmal wissen, was denn überhaupt unter ‚Kultur‘ zu verstehen ist. Dieser gar nicht so einfachen Frage widmet sich dieses Teilkapitel. Es wird ein Kulturbegriff vorgestellt, der anthropologisch fundiert ist, der der Vielfalt und Dynamik von Kulturen Rechnung trägt und der sich dadurch gerade für die Betrachtung von Prozessen, die zwischen Kulturen ablaufen, gut eignet.

1Die kollektive Konstruktion von Wirklichkeit

Für all diejenigen, die sich mit dem Thema ‚interkulturelle Kompetenz‘ beschäftigen, ist ‚Kultur‘ unweigerlich ein Schlüsselbegriff. Allerdings finden sich gerade in den zahlreichen populären Handbüchern zum Thema ‚interkulturelle Kompetenz‘ allzu oft naive und/oder nur sehr vage Kulturbegriffe. Den weit verbreiteten Darstellungen à la ‚Kultur A trifft auf Kultur B‘ liegt zumeist eine Vorstellung von klar voneinander abgrenzbaren Kulturen zugrunde, zu denen eine Art abgeschlossene Merkmalsliste zu existieren scheint, welche überdies auf jedes einzelne Mitglied dieser Kultur in gleichem Maße zutreffen soll. Warum solche Vorstellungen höchst problematisch sind, wird sich in diesem Kapitel zeigen. Wir stellen einen alternativen, komplexeren Kulturbegriff vor, der dann auch den Ausführungen in den folgenden Kapiteln (zu kulturellem Wissen und Identität, zu Kommunikation und Lernen) zugrunde gelegt wird.

In der Interkulturalitätsforschung bezieht sich der Begriff der Kultur nicht auf den so genannten ‚Kulturbetrieb‘ oder auf ‚Kulturgüter‘ (von Goethes Faust über den Kölner Dom bis zur Wagner-Oper) – auf ‚Hochkultur‘ also –, sondern er bezeichnet im Sinne der modernen Kulturwissenschaften die soziale (oder: ‚kollektive‘) Konstruktion der Wirklichkeit. Es geht um eine Frage, die sich traditionell die Kulturanthropologen stellen: Wie richten sich bestimmte Gruppen von Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt ein? Bei diesen Gruppen (oder: ‚Kollektiven‘) kann es sich ebenso um balinesische Dorfbewohner wie um die Einwohner multikultureller Metropolen in den USA oder um ‚die Deutschen‘ handeln. So gut wie nichts von dem, was wir im Alltag für ‚real‘, ‚natürlich‘ oder ‚selbstverständlich‘ halten (ob auf Bali, in Amerika oder in Deutschland), ist tatsächlich einfach gegeben. Religiöse Überzeugungen, die Vorstellung davon, was ‚gesunder Menschenverstand‘ ist, Umgangsformen, Konzepte vom Verlauf der Zeit oder der Bedeutung des Raums, Werte und Normen – dies alles sind kulturelle Konstrukte, die in einer uns fremden Kultur vollkommen anders aussehen können.

Eine Definition des Kulturbegriffs im soeben erläuterten kulturwissenschaftlich-anthropologischen Sinne bietet der Kommunikationswissenschaftler GERHARD MALETZKE in seinem Buch Interkulturelle Kommunikation (1996):

DEFINITION

In der Kulturanthropologie ist Kultur im wesentlichen zu verstehen als ein System von Konzepten, Überzeugungen, Einstellungen und Wertorientierungen, die sowohl im Verhalten und Handeln der Menschen als auch in ihren geistigen und materiellen Produkten sichtbar werden. Ganz vereinfacht kann man sagen: Kultur ist die Art und Weise, wie die Menschen leben und was sie aus sich selbst und ihrer Welt machen. (MALETZKE 1996: 16)

LITERATURTIPP

Ein Lexikon, das alle wichtigen kulturwissenschaftlichen Konzepte in kurzen Artikeln und auf verständliche Weise vorstellt:

NÜNNING, ANSGAR (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie.

Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 3. Aufl. Stuttgart: Metzler 2004 [1998].

2Kulturelle Standardisierung

Wie aber kommt ein solches kulturelles ‚System‘ zustande? ‚Kultur‘ basiert auf der Herausbildung von Gewohnheiten innerhalb von Kollektiven. So geht das Kollektiv der Christen etwa traditionell sonntags in die Kirche, glaubt an die Dreifaltigkeit und hält Ehebruch für eine Sünde. Der Amerikanist KLAUS-PETER HANSEN bezeichnet diesen Vorgang der Gewohnheitsbildung als ‚Standardisierung‘ und definiert ‚Kultur‘ daher auf folgende Weise: „Kultur umfasst Standardisierungen, die in Kollektiven gelten.“ (HANSEN 2003 [1995]: 39) Er unterscheidet die folgenden vier Bereiche der kulturellen Standardisierung: Kommunikation, Denken, Empfinden und Verhalten/Handeln (vgl. zu dem Folgenden ebd.: 32-146).

Überall auf der Welt dienen konventionalisierte Zeichen den Menschen zur Verständigung. Diese ‚Standardisierung der Kommunikation‘ kann sich auf die Geste des Kopfnickens ebenso beziehen wie auf bestimmte Wörter oder auf komplexe mathematische Symbole. Zeichen sind kulturspezifisch: Darüber, wie sie zu benutzen sind (‚Kopfnicken‘ etwa als Bestätigung, wie in Deutschland, oder als Verneinung, wie in Griechenland), wird innerhalb von Kollektiven ein – zumeist unausgesprochener – Konsens hergestellt. So bilden sich ‚kulturelle Codes‘ heraus, d.h. Konventionen über den Gebrauch und die Bedeutung von Zeichen. Diese vielleicht grundlegendste kulturelle Standardisierung, mit der auch ein zentraler Teilbereich der interkulturellen Kompetenz – nämlich die Fähigkeit zur interkulturellen Kommunikation, also die pragmatisch-kommunikative Teilkompetenz – verknüpft ist, wird in Kap. 4 behandelt.

Auch unsere Wirklichkeitsdeutung, unsere Urteile und Ansichten über jene Dinge, die uns alltäglich begegnen, sind kulturell vorgeprägt. Diese ‚Standardisierung des Denkens‘ zeigt sich besonders deutlich im Bereich der doxa, dem Alltagswissen, das sich oft in Lebensregeln und Sprichwörtern, niederschlägt:

Zum Wissensvorrat des deutschen Kulturraums gehört […] eine rudimentäre Kenntnis der Reformation genauso wie das Sprichwort Morgenstund’ hat Gold im Mund oder die Skepsis gegenüber Schwiegermüttern, die der Volksmund artenspezifisch für böse hält. (HANSEN 2003 [1995]: 104)

Die kulturelle Standardisierung des Denkens wird in dieser Einführung unter dem Begriff des ‚kulturellen Wissens‘ behandelt. In Kapitel 3 werden wir näher auf die Frage eingehen, was die kognitiven und kulturellen Grundlagen unseres Wissens über die Wirklichkeit, über uns selbst und über Fremde sind.

Dass auch unsere Emotionen und Affekte kulturspezifisch sein sollen, ist vielleicht die zunächst am schwersten nachvollziehbare Erkenntnis der Kulturwissenschaften. Denn weil wir über unsere Gefühle und Gefühlsreaktionen oft keine Kontrolle haben, erscheinen sie uns als spontan und...