Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Praxishandbuch Kinder- und Jugendpsychiatrie

Praxishandbuch Kinder- und Jugendpsychiatrie

Gerd Lehmkuhl, Fritz Poustka, Martin Holtmann, Hans Steiner

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2015

ISBN 9783840925382 , 412 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

35,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Praxishandbuch Kinder- und Jugendpsychiatrie


 

Kapitel 1 Theoretische und klinische Grundlagen und pathogenetische Modelle (S. 3-5)

Martin Holtmann, Hans Steiner, Fritz Poustka und Gerd Lehmkuhl

1.1 Fallbeispiel Der depressive Nils lebt in einer virtuellen Welt

Nils, ein 14-jähriger Realschüler, besucht seit fast 6 Monaten die Schule nicht mehr. Er verbringt bis zu 10 Stunden täglich vor dem PC, beschäftigt sich in dieser Zeit mit Online- Rollenspielen, ist aber auch über soziale Netzwerke mit Jugendlichen in aller Welt in Kontakt.

Seine Stimmung ist immer wieder wechselnd, vorherrschend ist eine große Unsicherheit im Kontakt mit Gleichaltrigen. Sein Zimmer verlässt Nils kaum noch, er schläft vom frühen Morgen bis mittags.

Schon während der Schwangerschaft hatten Nils’ Eltern sich getrennt, er wächst bei der Mutter auf, die halbtags berufstätig ist. Zum Vater besteht kein Kontakt. Im Kindergarten war Nils als eher zurückhaltendes Kind erlebt worden. Nils sei nach Angaben der ihm sehr zugewandten Lehrerin in der Grundschule recht gut in die Klassengemeinschaft integriert gewesen, er habe einen engen Freund gehabt. Der Freund sei dann auf ein Gymnasium sporadisch gewesen. Nils selbst beschreibt den Wechsel auf die weiterführende Schule als belastenden Einschnitt: Er habe zwar schulisch mithalten können, sich aber in der Klasse überhaupt nicht wohlgefühlt. Die Mutter berichtet, Nils habe sich von einigen Mitschülern „gemobbt“ gefühlt. Obwohl es objektiv nicht zu gravierenden Beleidigungen oder gar Übergriffen gekommen sei, habe Nils sich zunehmend zurückgezogen und aufgrund morgendlicher Bauchschmerzen den Unterricht unregelmäßiger besucht. Sie selbst habe dem nichts entgegensetzen können; eine ambulante Unterstützung durch das Jugendamt sei letztlich wirkungslos geblieben.

Die Mutter beschreibt sich selbst als sozial ängstliche Frau; als Jugendliche habe sie eine

depressive Phase durchlebt, sei aber nie in therapeutischer Behandlung gewesen. Da Nils selbst eine Behandlung zunächst abgelehnt hatte, erlaubte das Familiengericht eine Unterbringung gegen seinen Willen in einer jugendpsychiatrischen Fachklinik.

1.2 Kommentar mit Verlaufs- und Prognoseaspekten

Das Fallbeispiel von Nils soll, stark vereinfachend und reduziert, verdeutlichen, wie eine im Jugendalter auftretende klinische Symptomatik (hier: ängstlich-depressiver Rückzug mit exzessivem Medienkonsum) sich i. S. eines multifaktoriellen Störungsmodells vor dem Hintergrund eines komplexen Bedingungsgefüges von frühem Temperament (schüchtern, zaghaft, slow-to-warm-up), mehreren familiären Belastungsfaktoren (Trennung der Eltern, Fehlen eines männlichen Rollenvorbildes, internalisierende Symptomatik der Mutter) und lebensgeschichtlichen Entwicklungsaufgaben (Schulwechsel) entwickeln kann. Schutzfaktoren (eine wohlwollende Lehrerin in der Grundschule) können zeitweise stabilisierend wirken. Im folgenden Kapitel sollen nach einer kurzen Einführung in die Epidemiologie dann relevante Grundkenntnisse von Entwicklungspsychologie und -psychopathologie, über Schutz- und Risikofaktoren, und die komplexen Wechselwirkungen anlage- und umweltbedingter Einflüsse vermittelt werden. Eine ausführliche, vertiefende Darstellung dieser Themen und weiterer Grundlagen unseres Faches bietet Band 1 von Lehmkuhl und Kollegen (2013).

1.3 Nosologie und Epidemiologie: Was sind psychische Störungen und wie häufig sind sie?

Im Rahmen der Psychiatrie hat es immer wieder Grundsatzdiskussionen über die allgemeine Definition von psychischen Störungen gegeben. Eine häufig verwendete Definition betrachtet psychische Störungen als Beeinträchtigungen der normalen Funktionsfähigkeit des Erlebens und Verhaltens, die sich in emotionalen, kognitiven, behavioralen und/oder körperlichen Beeinträchtigungen äußern und von der jeweiligen Person nicht oder nur begrenzt beeinflussbar sind. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Normbegriff. Remschmidt (2000) weist darauf hin, dass sich die Normfrage weniger bei schwerwiegenden psychiatrischen Störungen und Erkrankungen wie Anorexien, Schizophrenien oder schweren Zwangsstörungen stellt, sondern bei einer Reihe von Verhaltensauffälligkeiten, die eher eine Überspitzung des normalen Verhaltens darstellen. Die kategoriale Diagnostik unterteilt in der Tradition somatisch-medizinischer Diagnostik psychische Auffälligkeiten in klar voneinander und von psychischer Normalität abgrenzbare Störungsbilder („Hat das Kind ADHS oder nicht?“). Kategoriale Diagnosen sind nicht nur die Grundlage und Voraussetzung für epidemiologische und klinische Forschung, sie begründen auch den Zugang zu Therapie und Kostenerstattung. Auch Kinder und Jugendliche, die nicht die kategorialen Kriterien für eine psychiatrische Diagnose erfüllen, sind aber z. T. in ihrem Funktionsniveau erheblich beeinträchtigt. Mit Hilfe eines dimensionalen Ansatzes werden nicht nur die unstrittig pathologischen Fälle identifiziert, sondern auch subklinische Ausprägungen und Normvarianten; dimensionale Verfahren erfassen aber keine Angaben zu Beginn, Verlauf und Prognose einer beschriebenen Störung und dazu, ob einer zunächst rein psychometrisch gewonnenen Störungsdimension eine differenzielle Ätiologie, eine spezifische Pathogenese und ein charakteristischer Verlauf zugeordnet werden können (vgl. Kapitel 3 in diesem Buch).

Die Frage nach der Grenze zwischen Normalität und Pathologie, zwischen seelischem Leiden und Krankheit ist u. a. im Zuge der Entstehung des DSM-5 intensiv diskutiert und mit der Warnung vor einer Verschiebung von diagnostischen Grenzen zwischen „krank“ und „gesund“ im Sinne einer Ausweitung psychischen Krankseins verknüpft worden (z. B. DGPPN, 2013; Frances, 2013). Im Kern geht es darum, wie normale Reaktionen auf unvermeidliche Erschütterungen des Lebens von behandlungsbedürftigen Erkrankungen unterschieden werden können. Bei der Unterscheidung von normalem, subklinischem und klinisch relevantem, pathologischem Verhalten ist neben einer fundierten Fachkenntnis eine besondere Sensibilität im Hinblick auf fließende Übergänge von Verhaltensmerkmalen oder Verhaltensauffälligkeiten gefordert; viele bei erwachsenen Menschen auffällige Verhaltensmerkmale gehören bei Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Altersbereichen zu einer normgerechten Entwicklung.

Epidemiologische Studien führten in den letzten Jahrzehnten zu einem Paradigmenwechsel in der Frage der Existenz, Häufigkeit und Behandlungsbedürftigkeit von psychischen Problemen in Kindheit und Jugend. Mittlerweile gilt als gesichert, dass in etwa die Hälfte aller psychisch erkrankten Erwachsenen weltweit im Teenageralter bereits erkrankt waren. Durch Entwicklung und Einsatz standardisierter Interviewverfahren wurden Resultate international vergleichbar und reproduzierbar (vgl. Lehmkuhl et al., 2013, Kapitel 12). Nicht zuletzt konnte durch epidemiologische Studien gezeigt werden, dass der Anteil an psychisch kranken Menschen in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen in etwa gleich groß ist wie in der Gruppe der Erwachsenen.