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Wer nie die Wahrheit sagt

Wer nie die Wahrheit sagt

Catherine Coulter

 

Verlag beTHRILLED, 2018

ISBN 9783732544936 , 442 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR

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Wer nie die Wahrheit sagt


 

2


Hemlock Bay, Kalifornien


Hell strömte die Sonne durch die schmalen Fenster herein. Ihre Schlafzimmerfenster waren doch breiter, oder? Auf jeden Fall waren sie sauberer. Nein, Moment, sie war ja gar nicht in ihrem Schlafzimmer. Eine vage Panik keimte in ihr auf, fiel jedoch rasch in sich zusammen. Eigentlich konnte sie kaum etwas fühlen, bis auf eine leichte Verwirrung, die sicher unwichtig war, und ein vages Stechen im linken Arm, dort, wo die Infusionsnadel steckte.

Die Infusionsnadel?

Das bedeutete, dass sie im Krankenhaus lag. Sie konnte atmen. Sie spürte das Kitzeln der Sauerstoffschläuche in der Nase, ein wenig irritierend, aber nicht weiter schlimm. Das beruhigte sie. Sie war noch am Leben. Aber wieso sollte sie nicht am Leben sein? Wieso war sie überrascht?

Ihr Kopf fühlte sich ganz benebelt und leer an, und selbst die Leere war irgendwie neblig. Vielleicht lag sie ja im Sterben und war deshalb allein gelassen worden. Wo war Tennyson? Ach ja, er war vor zwei Tagen nach Chicago geflogen, irgendwas Berufliches. Sie war froh, ihn los zu sein, erleichtert, schlicht und einfach zutiefst erleichtert, seinen beruhigenden Ton nicht mehr hören zu müssen, der ihr so furchtbar auf die Nerven ging.

Ein Mann mit Glatzkopf und weißem Kittel, ein Stethoskop um den Hals, kam herein. Er beugte sich dicht über sie. »Mrs. Frasier, können Sie mich hören?«

»O ja. Ich kann sogar Ihre Nasenhaare sehen.«

Er richtete sich lachend auf. »Ach, das war wohl zu nahe, wie? Nun, wie fühlen Sie sich? Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, ich kann nicht mal mein Hirn fühlen. Mein Kopf ist ganz dumpf und benebelt.«

»Das liegt am Morphium. Sogar mit einem Bauchschuss bräuchten Sie bloß genug Morphium und würden selbst Ihrer Schwiegermutter alles verzeihen. Ich bin Ihr behandelnder Chirurg, Dr. Ted Larch. Ich musste Ihnen leider die Milz rausnehmen, und weil das eine ziemlich schwere Operation ist, bekommen Sie bis heute Abend reichlich Morphium. Dann werden wir mit der Dosis allmählich runtergehen. Wir müssen zusehen, wie wir Sie wieder auf die Beine bekommen, Mrs. Frasier.«

»Und was fehlt mir sonst noch?«

»Ich will mich kurz fassen. Zunächst mal kann ich Ihnen versichern, dass Sie wieder ganz gesund werden. Was die fehlende Milz betrifft, das schadet Ihnen langfristig nicht. Als Erwachsener braucht man die Milz nicht unbedingt. Aber die Operationsschmerzen werden Sie noch ein Weilchen verfolgen – ein paar Tage zumindest. Sie müssen aufpassen, wann und was Sie essen und wie gesagt, wir müssen Sie wieder auf die Beine bekommen.

Außerdem haben Sie sich zwei Rippen geprellt, dazu ein paar Schnitte und Abschürfungen, alles in allem aber nichts Lebensbedrohliches. Narben werden Sie keine zurückbehalten. Ich würde sagen, Sie halten sich wunderbar, wenn man bedenkt, was geschehen ist.«

»Was ist denn geschehen?«

Dr. Larch schwieg einen Augenblick, den Kopf nachdenklich zur Seite geneigt. Die Sonne strömte durch die Fenster herein und spiegelte sich auf seinem Kahlkopf. Langsam sagte er, den Blick durchdringend auf sie gerichtet: »Sie erinnern sich nicht mehr?«

Sie überlegte und überlegte, bis er ihr leicht die Finger auf den Unterarm legte. »Nein, bloß nichts erzwingen. Dabei holen Sie sich bloß Kopfschmerzen. Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern, Mrs. Frasier?«

Abermals überlegte sie und antwortete schließlich: »Ich erinnere mich, wie ich unser Haus in Hemlock Bay verließ. Da wohne ich, in der Crocodile Bayou Avenue. Ich weiß noch, dass ich nach Ferndale fahren wollte, um bei einem gewissen Dr. Baker ein paar medizinische Unterlagen abzuliefern. Ich weiß auch noch, dass ich Angst hatte, im Dunkeln die 211 zu nehmen. Das ist eine furchtbar kurvenreiche Straße, führt mitten durch einen Wald von Sequoias, die türmen sich so über und um einen auf, dass einem angst und bange wird. Man hat fast das Gefühl, lebendig begraben zu sein.« Sie hielt inne, und er merkte, wie frustriert sie wurde; deshalb unterbrach er sie.

»Nein, das ist schon in Ordnung. Interessante Metapher, mit diesen Sequoias. Mit der Zeit werden Sie sich bestimmt wieder an alles erinnern, Mrs. Frasier. Sie sind mit Ihrem Explorer direkt gegen einen Mammutbaum gefahren. Also, ich werde jetzt noch einen anderen Arzt hinzuziehen.«

»Was für einen Arzt?«

»Einen Psychiater.«

»Aber wieso sollte ich...« Sie runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht. Einen Psychiater? Wieso denn?«

»Na ja, es könnte sein, dass Sie absichtlich gegen diesen Mammutbaum gefahren sind. Keine Panik, machen Sie sich keine Sorgen. Ruhen Sie sich einfach nur aus und kommen Sie wieder zu Kräften. Ich komme dann später noch mal zu Ihnen, Mrs. Frasier. Wenn Sie in den nächsten Stunden Schmerzen bekommen sollten, drücken Sie nur auf diesen Knopf hier, und die Schwester erhöht dann die Morphiumdosis in der Infusion.«

»Ich dachte, das dürfte der Patient selber machen.«

Er war einen Moment platt, das sah sie deutlich. Dann sagte er: »Tut mir Leid, aber das dürfen wir Ihnen keinesfalls erlauben«.

»Wieso nicht?«, fragte sie leise.

»Weil hier möglicherweise ein Selbstmordversuch vorliegt. Wir können nicht riskieren, dass Sie sich mit einer tödlichen Dosis Morphium vollpumpen und wir Sie nicht wiederbeleben können.«

Sie wandte den Blick von ihm ab und den Fenstern zu, wo die Sonne so hell hereinschien.

»Alles, woran ich mich erinnere, ist gestern Abend. Welcher Tag ist heute? Welche Tageszeit?«

»Es ist Donnerstag, später Vormittag. Sie sind dazwischen immer mal wieder zu Bewusstsein gekommen. Ihr Unfall passierte gestern Abend.«

»Eine ganz schöne Zeitlücke.«

»Das wird schon wieder, Mrs. Frasier.«

»Da bin ich mir keineswegs sicher«, sagte sie langsam und schloss dann die Augen.

Dr. Russell Rossetti blieb einen Moment in der Tür stehen und blickte zu der jungen Frau hinüber, die so still auf dem schmalen Krankenbett lag. Sie sah aus wie eine Prinzessin, die den falschen Frosch geküsst hatte und das nun übel büßen musste. Ihr blondes Haar war blutverklebt und schaute strähnig unter dem Verband hervor. Sie war dünn, zu dünn, und er fragte sich, was sie wohl dachte, jetzt, in diesem Moment.

Dr. Ted Larch, der Arzt, der ihre Milz entfernt hatte, meinte, sie könne sich an den Unfall nicht mehr erinnern. Er meinte außerdem, er glaube nicht, dass es ein Selbstmordversuch gewesen sei. Dafür sei sie einfach viel zu »präsent«, wie er sich ausdrückte. Der Dummkopf.

Ted war eine romantische Seele, etwas Seltenes bei einem Chirurgen. Natürlich hatte sie versucht, sich umzubringen. Keine Frage. Ein geradezu klassischer Fall.

»Mrs. Frasier.«

Lily wandte den Kopf beim Klang dieser eher hohen Stimme, einer Stimme, die ohne Zweifel weinerlich werden konnte, wenn sie nicht ihren Willen bekam, und die im Moment versuchte, beruhigend und tröstlich zu klingen, einladend, doch ohne Erfolg.

Sie sagte nichts, blickte nur den übergewichtigen Mann an, der den Raum betrat – groß, gut gekleidet, dunkler grauer Anzug, dicke lockige schwarze Haare, Doppelkinn und dicke weiße Wurstfinger. Er trat zu ihr, stellte sich dicht an ihr Bett. Zu dicht.

»Wer sind Sie?«

»Ich bin Dr. Rossetti. Dr. Larch hat Ihnen doch gesagt, dass ich nach Ihnen sehen würde, nicht?«

»Sie sind der Psychiater?«

»Ja, der bin ich.«

»Er hat’s mir gesagt, aber ich will nicht mit Ihnen reden. Es ist unnötig.«

Negierung, na herrlich, dachte er. Er war sie leid, all die Depressiven, die zu ihm kamen und heulten und jammerten, die sich selbst bemitleideten und um Tabletten bettelten, damit sie sich betäuben konnten. Tennyson hatte ihm zwar gesagt, dass Lily nicht so war, doch er glaubte das nicht.

Die Ruhe selbst, sagte er: »Offenbar brauchen Sie mich doch. Sie haben Ihren Wagen gegen einen Redwood gefahren.«

Hatte sie? Nein, das passte irgendwie nicht zu ihr. Sie sagte: »Die Straße nach Ferndale ist sehr gefährlich. Sind Sie die Strecke je gefahren, im Dunkeln, meine ich?«

»Ja.«

»Und fanden Sie nicht, dass man sehr vorsichtig sein muss?«

»Sicher. Aber ich bin nie gegen einen Mammutbaum gefahren. Das Forstamt sieht sich den Baum momentan an, um festzustellen, wie schwer er beschädigt ist.«

»Nun, wenn mir ein paar Splitter fehlen, dann dem Baum sicherlich auch. Ich möchte, dass Sie jetzt gehen, Dr. Rossetti.«

Doch anstatt zu gehen, zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr ans Bett. Er schlug die fetten Schenkel übereinander, verschränkte die dicken weißen Finger. Sie konnte seine Hände nicht ausstehen, weiche, schwammige Hände, aber sie konnte auch nicht den Blick davon abwenden.

»Es dauert nicht lange, Mrs. Frasier. Oder darf ich Sie Lily nennen?«

»Nein. Ich kenne Sie nicht. Gehen Sie.«

Er beugte sich vor und versuchte ihre Hand zu...