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Wo keiner dich hört

Wo keiner dich hört

Catherine Coulter

 

Verlag beTHRILLED, 2018

ISBN 9783732544899 , 528 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR

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Wo keiner dich hört


 

2


Akademie des FBI, Quantico, Virginia
Sieben Jahre später


Sie würde es bis ans Ende dieses Seils schaffen, und wenn es sie das Leben kostete. Viel fehlte nicht mehr. Sie konnte genau spüren, wie sich jeder Muskel in ihren Armen zusammenzog und streckte, fühlte den stechenden Schmerz und die wellenartigen Krämpfe, die sie bewegungsunfähig zu machen drohten. In diesem Fall würde sie sich einfach auf die Matte fallen lassen. Ihr Kopf war schon völlig betäubt, aber das war in Ordnung so. Der Kopf musste schließlich nicht klettern. Er war allerdings dafür verantwortlich, dass sie jetzt in dieser verzwickten Lage steckte. Und das war erst die zweite Runde. Es kam ihr vor, als hinge sie schon ewig an diesem Seil.

Nur noch sechzig Zentimeter. Sie konnte es schaffen. Neben sich hörte sie MacDougals gleichmäßigen, ruhigen Atem. Aus dem Augenwinkel sah sie seine mächtigen Hände über das Seil gleiten. Systematisch setzte er einen Griff nach dem anderen, anstatt, wie sonst, das Seil förmlich zu verschlingen. Nein, er hielt sich auf ihrer Höhe, er würde sie nicht alleine lassen. Sie war ihm so dankbar. Diese Prüfung war wichtig, war wirklich wichtig.

»Was schaust du denn so kläglich, Sherlock? Du jammerst, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Los jetzt, bring deine dünnen Ärmchen auf Trab. Zieh!«

Ganze fünf Zentimeter über ihrer linken Hand bekam sie das Seil wieder zu fassen und zog mit aller Kraft.

»Weiter, Sherlock«, rief MacDougal. Der Kerl hing neben ihr und grinste sie an. »Blamier mich jetzt nicht. Ich habe zwei Monate lang mit dir trainiert. Du bist jetzt bei Sechs-Kilo-Gewichten angelangt. Na gut, mit dem Bizeps schaffst du zwar nur zehn Wiederholungen, aber mit dem Trizeps fünfundzwanzig. Also los jetzt, zieh, und häng nicht einfach da wie ein kleines Mädchen.«

Jammern? Sie hatte gar nicht genug Luft, um zu jammern. Er wollte sie anfeuern, und das machte er ziemlich gut. Sie versuchte, wütend zu werden. Aber in ihrem Körper war kein Platz für Wut, da gab es nur Schmerz, tiefen, brennenden Schmerz. Noch zwölf Zentimeter, nein, eher vierzehn Zentimeter. Zwei Jahre würde sie brauchen, um diese vierzehn Zentimeter zu überwinden. Sie sah zu, wie ihre rechte Hand sich vom Seil löste und nach der Stange am Ende des Seils griff. Es war auf jeden Fall zu weit. Das konnte sie niemals in einem Zug bewältigen, aber ihre Hand schloss sich um die Stange. Sie wusste: Entweder würde sie es jetzt schaffen oder scheitern. »Du schaffst es, Sherlock. Denk an letzte Woche in Hogan’s Alley, wo du dich über diesen Typen geärgert hast, der dir Handschellen anlegen und dich als Geisel nehmen wollte. Den hättest du beinahe umgebracht. Am Schluss hast du dich sogar bei ihm entschuldigen müssen, und das hat mehr Kraft gekostet als das hier. Denk dir was Fieses aus! Was Bösartiges! Mach ihn fertig! Zieh!«

Sie dachte nicht an den Kerl in Hogan’s Alley. Nein, sie dachte an die Bestie, konzentrierte sich auf ein Gesicht, das sie noch nie gesehen hatte, auf das abgrundtiefe, sieben Jahre währende Elend, in das dieser Mensch sie gestürzt hatte. Sie bekam es nicht einmal mit, wie sie sich die letzten Zentimeter nach oben wuchtete.

Da hing sie nun, schwer atmend, und vertrieb die Erinnerung an jene schreckliche Zeit aus ihrem Kopf. MacDougal neben ihr lachte und war nicht einmal außer Atem. Aber er bestand auch zu hundert Prozent aus schierer Kraft, das hatte sie ihm oft genug gesagt. Er war in einem Fitnessstudio auf die Welt gekommen, unter einem Stapel mit Gewichten.

Sie hatte es geschafft.

Unter ihnen stand Mr. Petterson, ihr Ausbilder. Es lagen mindestens zwei Stockwerke zwischen ihm und ihnen, darauf hätte sie jeden Eid geleistet. Er brüllte nach oben: »Gut gemacht, ihr Zwei! Kommt jetzt runter. MacDougal, Sie hätten auch ein bisschen schneller sein können. Glauben Sie eigentlich, Sie haben Urlaub, oder was?«

Da sie keine Luft zum Reden hatte, antwortete MacDougal dem Ausbilder: »Wir kommen, Sir!« Mit einem Grinsen, das so breit war, dass sie die Goldfüllung in einem seiner Backenzähne sehen konnte, sagte er zu ihr: »Gut gemacht, Sherlock. Du bist stärker geworden. Und die bösartigen Gedanken haben auch geholfen. Klettern wir runter, dann können sich zwei andere bösartige Gestalten hier austoben.«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen, denn abwärts kletterte sie sehr gerne. Der Schmerz verschwand, wenn der Körper wusste, dass es dem Trainingsende entgegenging. Sie war fast so schnell unten wie MacDougal. Mr. Petterson winkte sie mit einem Kugelschreiber heran und kritzelte dann etwas auf seinen Block. Er schaute auf und nickte. »Das war’s, Sherlock. Sie sind im Zeitlimit geblieben. Und Sie, Mac, waren zwar viel zu langsam, aber auf dem Zettel steht: bestanden, also haben Sie auch bestanden. Die Nächsten!«

»Das war einfach«, sagte MacDougal und reichte ihr ein Handtuch. »Sieh nur, wie du schwitzt.«

Wenn sie genug Kraft gehabt hätte, hätte sie ihm eine verpasst.

Sie befand sich in Hogan’s Alley, der Stadt mit der höchsten Verbrechensrate der Vereinigten Staaten. Sie kannte jeden Winkel in jedem Gebäude dieser Stadt, kannte sich auf jeden Fall besser aus als die Schauspieler, die für acht Dollar pro Stunde die Bösen mimten, und auch besser als viele der FBI-Angestellten, die sowohl Verbrecher als auch Zeugen sein konnten. Hogan’s Alley sah aus wie eine echte Stadt. Es gab sogar einen Bürgermeister und eine Postbeamtin, aber sie lebten nicht hier. Niemand lebte oder arbeitete wirklich hier. Hogan’s Alley war die typisch amerikanische Stadt des FBI, voll mit Kriminellen, die zu fangen, und mit problematischen Situationen, die zu lösen waren – am besten, ohne dass dabei jemand ums Leben kam. Die Ausbilder sahen es nicht gern, wenn unschuldige Passanten einem Schusswechsel zum Opfer fielen.

Heute würde sie zusammen mit drei anderen Auszubildenden einen Bankräuber fangen. Das hoffte sie zumindest. Man hatte ihnen lediglich gesagt, dass sie die Augen offen halten sollten. In Hogan’s Alley fand an diesem Tag ein festlicher Umzug statt, was das Ganze wesentlich problematischer machte. Es hatte sich eine große, Mineralwasser trinkende und Hotdogs essende Menschenmenge versammelt. Das würde nicht einfach werden. Gut möglich, dass der Räuber versuchte, sich unter die Menge zu mischen, und sich so unschuldig und unauffällig wie möglich gab. Darauf würde sie wetten. Wenn sie nur einen kurzen Blick auf den Räuber hätten werfen können... Aber das war ihnen nicht gelungen. Die Lage war schwierig. Überall liefen unbeteiligte Passanten herum, und dazwischen ein Bankräuber, der wahrscheinlich aus der Bank gelaufen kam und vermutlich sehr gefährlich war.

Sie sah Buzz Alport. Er war Nachtkellner in einer Raststätte an der Interstate 95. Er pfiff vor sich hin und sah aus, als könnte ihn nichts auf der Welt erschüttern. Nein, Buzz war heute kein Bösewicht. Sie kannte ihn zu gut. Er lief knallrot an, wenn er einen Verbrecher spielen musste. Sie versuchte, sich jedes Gesicht einzuprägen, damit sie den Räuber sofort erkannte, falls er plötzlich auftauchte. Langsam beobachtete sie die Leute, ruhig und ohne Hast, so wie sie es gelernt hatte. Sie entdeckte auch einige Besucher aus dem Kongress. Sie standen etwas abseits und beobachteten das Rollenspiel der Agenten. Die Auszubildenden mussten aufpassen. Es würde kein gutes Licht auf das FBI werfen, wenn einer von ihnen einen Kongressabgeordneten tötete.

Es ging los. Sie und Porter Forge – ein Südstaatler aus Birmingham, der ein wunderbares, akzentfreies Französisch sprach – sahen einen Bankangestellten zum Haupteingang heraustaumeln. Er schrie in den höchsten Tönen und zeigte verzweifelt auf einen Mann, der gerade durch einen Seiteneingang geflüchtet war. Sie sahen ihn nur ganz kurz und rannten ihm nach. Der Übeltäter tauchte in der Menge unter und verschwand. Wegen der vielen Passanten ließen sie ihre Waffen im Halfter. Sollte ein Unbeteiligter verletzt werden, würde es verdammt ungemütlich werden.

Drei Minuten später hatten sie ihn verloren.

Da entdeckte sie Dillon Savich, FBI-Agent und Computergenie. Er unterrichtete gelegentlich hier in Quantico. Jetzt stand er direkt neben einem anderen Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Beide trugen Sonnenbrillen, blaue Anzüge und blaugraue Krawatten.

Sie hätte Savich überall erkannt. Was machte er hier, ausgerechnet jetzt? Hatte er gerade unterrichtet? Sie hatte noch nie gehört, dass er sich auch an den Übungen in Hogan’s Alley beteiligte. Könnte er der Verdächtige sein, auf den der Bankangestellte gezeigt hatte und der dann in der Menge verschwunden war? Vielleicht. Sie versuchte, ihn in die Momentaufnahme jener Szene zu integrieren, die sie im Kopf hatte. Möglich wäre es. Allerdings wirkte er überhaupt nicht außer Atem, obwohl der Räuber mit einem Höllentempo aus der Bank gerannt war. Savich wirkte ruhig und gelangweilt. Nein, Savich konnte es nicht sein. Savich würde doch niemals an einer Übung teilnehmen, oder? Plötzlich sah sie etwas weiter weg einen Mann, der langsam die Hand unter sein Jackett gleiten ließ. Mein...