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Federnlesen - Vom Glück, Vögel zu beobachten

Federnlesen - Vom Glück, Vögel zu beobachten

Johanna Romberg

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN 9783732555994 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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17,99 EUR

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Federnlesen - Vom Glück, Vögel zu beobachten


 

ROTKEHLCHEN

KAPITEL 1
Singstunde mit Rotkehlchen
Vom Beobachten mit den Ohren, und wie man es am besten lernen kann


Wenn es nicht gerade schüttet oder stürmt oder friert, gehe ich morgens nach dem Aufstehen für eine Viertelstunde raus auf den Balkon. Oder auch für eine halbe. Manchmal nehme ich eine Tasse Tee und mein Fernglas mit. Manchmal auch nicht.

Ich breite eine Wolldecke aus, lege ein Sitzkissen darauf, hocke mich hin und warte. Wobei – warten ist schon zu viel gesagt. Ich sitze einfach nur da. Manchmal sehe ich zu, wie die Sonne aufgeht, meistens ist es aber schon hell, wenn ich rausgehe. Ich bin keine Frühaufsteherin. Ich gehöre auch nicht zu denen, die morgens Gymnastik, Yoga oder andere nützliche Dinge praktizieren. Dazu fehlt mir die Disziplin.

Eine Zeit lang habe ich versucht, auf dem Balkon zu meditieren. Das soll außerordentlich gesund sein. Ich habe mir dafür extra ein Spezialsitzkissen gekauft, auf dem man stundenlang ausharren kann, ohne dass die Beine einschlafen. An manchen Tagen gelingt es mir sogar, für ein paar Minuten innerlich abzutauchen, die Welt um mich herum zu vergessen. Aber das klappt nicht oft. Früher oder später kommen mir immer die Vögel dazwischen.

Man kann Vögel übersehen, wenn man die Augen zumacht, aber sie zu überhören ist schwierig. Ich jedenfalls schaffe das nicht. Wenn ich eine bekannte Stimme höre – und die Vogelstimmen in meinem Garten sind mir alle ziemlich vertraut –, dann notiere ich im Geist automatisch den Namen dazu. Die Gewohnheit sitzt so tief, dass ich sie nur schwer ablegen kann. Und wenn ich ehrlich bin, will ich das auch gar nicht. Weil es mir Freude macht, den Vögeln zuzuhören und sie wiederzuerkennen, jeden Tag aufs Neue.

»Vögel beobachten« – es gibt noch einen Grund, diesen Begriff nicht besonders zu mögen. Weil er nicht nur umständlich, sondern auch irreführend ist. Die meisten denken beim Stichwort »beobachten« spontan an Menschen, die durch Ferngläser schauen. Das ist natürlich nicht falsch. Ferngläser sind wichtig und unentbehrlich beim Vogelbeobachten. Ebenso scharfe Augen, die imstande sind, etwa eine größere Fläche schnell nach beweglichen Objekten zu »scannen«. Und ein geübter Blick, der beim Entdecken eines Vogels binnen Sekunden alle seine charakteristischen Merkmale erfasst: Größe, Statur, Haltung und Gefiederfarbe, am besten auch noch Details wie Schnabelform, Brustzeichnung und Länge der Schwungfedern.

Aber selbst die besten Augen und das stärkste Fernglas helfen beim Bestimmen oft nicht weiter.

Es gibt Vögel, die grundsätzlich nie lange genug an einem Fleck sitzen bleiben, um sie richtig ins Visier nehmen zu können. Oder sie kehren einem hartnäckig den Rücken zu. Sitzen zu weit weg oder vor der tief stehenden Sonne, sodass man ihre Farbe nicht erkennt. Oder sie sind so unscheinbar, dass man sie an neun von zehn Malen gar nicht erst entdeckt. Es existieren, ich gebe es ganz offen zu, eine Reihe von Vogelarten, die ich noch nie, wirklich noch nie, zu Gesicht bekommen habe, auch wenn ich ihnen schon begegnet bin – weil sie sich zum Beispiel nur in dichtem Röhricht oder in hohem Gras aufhalten. Trotzdem erkenne ich sie auf Anhieb, wann immer ich sie treffe. Weil sie sich durch ihre Stimme verraten. Jeder Vogel hat seinen eigenen akustischen Fingerabdruck, und es sind, zum Glück, oft gerade die Unsichtbaren und Versteckten, die am lautesten und markantesten singen.

»Vögel beobachten«, das heißt für mich auch und vor allem: zuhören. Rausgehen, sich irgendwo hinhocken und alle Aufmerksamkeit auf Stimmen und Laute lenken, am besten mindestens einmal am Tag.

Unter meinen Freunden und Bekannten sind viele Vogelliebhaber; Leute, die bei Spaziergängen gern ein Fernglas mitnehmen, ab und zu ein Bestimmungsbuch aufschlagen und im Winter draußen Futter streuen. Die meisten sagen mir, dass sie gerne öfter und intensiver beobachten würden, nur: Das mit den Stimmen sei so wahnsinnig schwer. So viele und fast immer mehrere gleichzeitig! Wie soll man sie auseinanderhalten? Und, noch schwieriger: Wie prägt man sich ein, zu welchem Vogel sie gehören? Wenn die Tierchen wenigstens das ganze Jahr über singen würden. Aber kaum ist das Frühjahr vorbei, sind alle still, und im nächsten Jahr fängt man wieder bei null an. Sisyphos lässt grüßen.

Ich sage dann immer, dass es Geduld braucht, dass es nie zu spät ist anzufangen und dass es schon ein Erfolg ist, wenn man ein halbes Dutzend der gängigsten Arten »drauf« hat. Aber wenn ich sagen soll, wie man beim Lernen am besten vorgeht und welche Hilfsmittel empfehlenswert sind, bin ich unsicher. Meine eigene Lernzeit liegt Jahrzehnte zurück. Ich weiß zwar noch, dass meine Eltern irgendwann Mitte der 1960er-Jahre eine Schallplatte mit Vogelstimmen kauften, die ich mir oft angehört habe. Ich weiß auch noch, dass während des Gesangs der Nachtigall im Hintergrund eine Kirchenglocke läutete. Aber ich erinnere mich nicht mehr, ob mir das Einprägen schwer- oder leichtfiel. Und wie viele Monate oder Jahre vergingen, bis ich die abgespeicherten Klangmuster auch draußen in der Natur einwandfrei bestimmen konnte.

Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit dem US-amerikanischen Ornithologen Donald Kroodsma, der seit über vierzig Jahren Vogelstimmen erforscht und als einer der weltweit führenden Experten für vocal behavior, also »Stimmverhalten« von Vögeln gilt. Er hatte einen Ratschlag für Anfänger, der mir spontan einleuchtete: Man solle, sagte er, beim Erkunden der Vogelwelt genauso vorgehen wie beim Umzug in eine neue Stadt. Also nicht versuchen, auf einen Schlag Dutzende neuer Leute kennenzulernen oder sich möglichst schnell eine maximale Zahl unbekannter Gesichter und Namen zu merken. Sondern lieber zunächst Kontakt zu ein, zwei Nachbarn knüpfen. Sich so gründlich mit deren Eigenarten vertraut machen, dass man sie selbst bei flüchtiger Begegnung auf einer belebten Straße nicht mehr mit anderen verwechseln würde. Wenn diese ersten Bekanntschaften gefestigt genug seien, solle man darangehen, sein »soziales Netz« zu erweitern.

Ich würde Kroodsmas Ratschlag lediglich um einen Punkt ergänzen: Es kommt nicht nur auf die Methode des Kennenlernens an. Sondern auch auf den Zeitpunkt, an dem man damit beginnt.

Die meisten Vogelinteressierten wählen dafür das Frühjahr. In dieser Zeit werden die meisten Ferngläser, Bestimmungsbücher, Vogelstimmen-CDs und -Apps verkauft, und das liegt nahe. In den Monaten ab Mitte März sind Vögel am auffälligsten und am lautesten. Alle Männchen tragen ihr Brut- und Prachtkleid und sehen genauso aus wie ihre Abbilder auf den Farbtafeln der Bestimmungsbücher. Lokale Ornithologen- und Naturschutzvereine laden zu Vogelstimmenexkursionen ein, vorzugsweise in Gebiete, in denen man mit etwas Glück und bei mildem Wetter die ganze Palette der häufigsten heimischen Singvögel rauf und runter hören kann – einschließlich der Zugvögel, die bis Anfang Mai fast alle aus ihren Winterquartieren zurückgekehrt sind. Vor allem im Wald sind viele Arten in Chorstärke vertreten, und die gute Akustik sorgt dafür, dass selbst der zarteste Zilpzalp oder Zaunkönig so klingt, als singe er durch ein Megaphon.

Es ist wunderschön, so ein Vogelkonzert im Frühling. Aber als Anfänger kann man darüber verzweifeln, selbst in Begleitung eines stimmenkundigen Experten. Ich habe das schon mehrfach erlebt, wenn ich mit Freundinnen unterwegs war, die mich um einen Grundkurs in Vogelstimmenkunde gebeten hatten: Selbst wenn ich an jeder Wegbiegung aufs Neue erklärte, dass dies ein Buchfink, jenes ein Waldlaubsänger, das dort hinten eine Singdrossel sei – am Ende hatte ich immer das Gefühl, mehr Verwirrung als Erkenntnis gestiftet zu haben. Und das lag nicht am mangelnden Merk- oder Hörvermögen meiner Freundinnen: Vogelkundler des Naturschutzbunds Deutschland (NABU), die regelmäßig Exkursionen leiten, berichteten mir, dass sie Teilnehmer zu Beginn routinemäßig vor zu hohen Erwartungen an das eigene Hörgedächtnis warnen.

Der Verwirrung entgeht man übrigens auch nicht, wenn man sich strikt an Kroodsmas Ratschlag hält, zuerst seine unmittelbaren »Nachbarn« kennenzulernen. Also nicht zum Stimmenlernen in den Wald geht, sondern nur die Klanglandschaft vor der Haustür erkundet. Auch die kann im Frühling schnell unübersichtlich werden. Bei der »Stunde der Gartenvögel«, der jährlichen Vogelzählaktion des NABU Anfang Mai, komme ich regelmäßig auf über ein Dutzend Arten in Hörweite meines Balkons. Und das, obwohl unser Garten mitsamt Umgebung nicht unbedingt ein Hotspot der Biodiversität ist.

Es ist viel entspannter und effektiver, im Winter mit dem Hinhören anzufangen. Die Natur ist stiller, schon weil keine Blätter rauschen, und die Vogelwelt ist überschaubar. Alles, was Laut gibt, ist genau zu vernehmen und, dank fehlender Blätter, meist auch schnell zu sehen. Es gibt natürlich auch Tage, an denen sich gar nichts rührt, aber die sind selten. Selbst wenn ich im dunkelsten Dezember oder frostigsten Januar auf den Balkon gehe, höre ich früher oder später fast immer irgendetwas.

Die meisten Stimmen kommen nicht direkt aus meinem Garten, sondern aus dem Luftraum darüber. Trompetenrufe eines verspäteten Kranichtrupps, der in Richtung Südwesten unterwegs ist. Schreie von Graugänsen, die frühmorgens von den Wiesen in der Elbmarsch aufgebrochen sind und am Abend vielleicht in der Weserniederung einfallen. Sowohl Gänse als auch Kraniche rufen...