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Die Inselgärtnerin - Roman

Die Inselgärtnerin - Roman

Sylvia Lott

 

Verlag Blanvalet, 2018

ISBN 9783641209568 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR

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Die Inselgärtnerin - Roman


 

2

Sonja ließ die Tränen laufen. Am Freitagabend, in der Nacht, am Samstag. Während des Staubsaugens, beim Bügeln und beim Fernsehen. Dann mischte sich – wie eine kurze Aufheiterung in einem Schauergebiet – immer mal kurz so etwas wie Erleichterung in ihr Gefühlschaos. Okay, neues Spiel, neues Glück! Sie hatte sich ja ohnehin nicht mehr wohlgefühlt mit den Mondlandschaften.

Im Bad spritzte sie sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht, dann betrachtete sie eingehend ihr Spiegelbild. War sie noch attraktiv? In zwei Jahren wurde sie vierzig. Die Tendenz zum Pausbäckigen, immer leicht Verschmitzten war verschwunden, dafür hatten sich die Andeutung von Schlupflidern verstärkt und die beiden Falten zwischen den dunklen Augenbrauen vertieft. Wenn sie sich selbst als Fremde irgendwo begegnen würde, wie würde sie sich, ganz ohne Eitelkeit, beschreiben? Da stand eine mittelgroße Frau in den besten Jahren, mit ovalem Gesicht, grünbraunen Augen, kräftigem Haar und Stirnwirbel, leichter Stupsnase und vollen Lippen. Sonja lächelte. Ja, ein schönes breites Lächeln, das sympathisch wirkte. Sie zog Grimassen.

Du siehst so süß aus, hatte Michael früher oft gesagt, ich kenne keine Frau, die so süß und so komisch sein kann wie du. Er hatte ihr ins Ohr geflüstert, dass er ihr helles Lachen liebte und ihre besänftigende Stimme. »Du vermutest immer das Beste in anderen«, hatte er einmal halb bewundernd, halb tadelnd behauptet. Mit anderen Worten: Er hielt sie für naiv. Wahrscheinlich hatte er sogar recht.

Und ihre Figur? Sonja trat einen Schritt zurück, damit sie mehr von sich im Badezimmerspiegel erkennen konnte. Nicht mehr so stämmig wie früher, kleiner Busen, breite Hüften. Sie hätte gern mehr Busen, weniger Po und schlankere Oberschenkel gehabt. Aber, na ja, es war schon in Ordnung. Sie bewegte sich wohl eher burschikos, das ergab sich einfach, wenn man mit vier älteren Brüdern auf einem Hof mit vielen Tieren aufwuchs und anschließend unter Gärtnern zeigen musste, dass man mit Schaufeln und Maschinen umgehen konnte. Entschlossen, energisch wirkte sie, jedenfalls nicht wie eine Zuckerpuppe.

»Also dann«, sagte Sonja zu ihrem Spiegelbild, »machen wir das Beste daraus.«

Kurz vor sieben wartete sie gut geschminkt in einer neuen engen Jeans und einem schicken Blazer auf Michael. Er war pünktlich. Das bedeutete, er gab sich Mühe. Rendezvous mit dem eigenen Mann, das hatte trotz allem etwas Prickelndes. Er trug ein blaues Jackett, Oberhemd ohne Schlips. Smart casual hätte das wohl auf einer der Einladungen geheißen, die er als Pharmareferent für sein auf Naturheilmittel spezialisiertes Unternehmen oft an Ärzte verschickte. Sein Bauchansatz war verschwunden.

Michael grinste verlegen und fuhr sich mit einer Hand durch das bis auf die Geheimratsecken immer noch volle braune Haar. An den Schläfen schimmerten ein paar neue silbrige Haare, aber gemeinerweise stand es ihm. Seine graugrünen Augen, die ihr so schmerzhaft vertraut waren, leuchteten auf.

»Du siehst fantastisch aus, Sonja. Und deine Figur!« Bewundernd sah er sie an. Ihr Herz klopfte heftiger, als er sie auf die Wangen küsste. »Mein Gott, muss ich ein Idiot sein!«, fügte er hinzu.

Ja, du bist ein Idiot, dachte Sonja, da werde ich dir bestimmt nicht widersprechen. Und ich bin eine Idiotin, weil es mich nicht kalt lässt, wenn du so was sagst. Sie schnupperte ein neues Aftershave, vermutlich von ihrer Nachfolgerin ausgesucht. Das ernüchterte sie und half ihr, sich gegen seinen Charme zu wappnen.

Sie ergatterten einen Tisch am Fenster mit Blick aufs Zwischenahner Meer und aßen Salat mit gegrillten Meeresfrüchten. Lichterketten beleuchteten die wegen Rutschgefahr abgesperrte Holzterrasse. Sonja machte mehrfach einen Anlauf, Michael von ihrer Kündigung zu erzählen. Doch irgendetwas hielt sie jedes Mal kurz vorher davon ab. Sie plauderten über gemeinsame Bekannte und über Belangloses. Sonja fragte sich, was ihren Mann wohl wirklich bewogen hatte, sich mit ihr treffen zu wollen. Bei der Crème brûlée rückte Michael damit heraus.

»Ich möchte dich nicht überfahren, Sonja«, sagte er. »Aber so kann es ja auch nicht weitergehen.« Sonja spannte ihre Bauchmuskulatur an wie ein Boxer, der einen Tiefschlag erwartete. Dann sollten eben alle Horrornachrichten auf einmal kommen! »Jennifer hat eine teure Wohnung in Oldenburg, wir fahren ständig hin und her. Aber das ist reine Geld- und Zeitverschwendung.« Was für eine selten dämliche Begründung, dachte Sonja. Gleich kommt er noch damit, dass Jennylein meinen Garten in Ordnung halten würde! Sie legte das Löffelchen auf den Unterteller neben ihr angenipptes Dessert. »Jennifer könnte ihre Yogakurse auch im Haus geben, dann müsste sie keinen Übungsraum mehr anmieten. Im Sommer ginge es auf der Terrasse und, also, sie würde dafür gerne den Garten pflegeleichter umgestalten.« Am liebsten wäre Sonja aufgesprungen und weggerannt. Doch sie blieb wie gelähmt sitzen. Michael legte seine Hand auf ihre, sie zog sie mit einem Ruck weg. »Ich verstehe ja«, sagte er, »dass du nicht begeistert bist, aber …«

»Dann willst du also die Scheidung«, sagte sie mit zitternder Stimme.

O Gott, dachte sie, Klischee, Klischee! Wieso klingt das auch noch nach tausendmal im Kino gehört und in Romanen gelesen, wenn man es selbst erlebt?

»Willst du denn die Scheidung?«, fragte er leise.

Sie sah ihn nur an, mit Tränen in den Augen. Was sie auch antworten würde, es wäre immer nur die halbe Wahrheit. Sonja fühlte sich entsetzlich hilflos.

»Wenn sie in unser Haus einzieht, dann führt wohl kein Weg mehr daran vorbei!«

»Wir müssen ja nichts überstürzen«, sagte Michael betreten. »Ich wollte nur nicht, dass du es von anderen erfährst.«

»Vielen Dank auch«, antwortete Sonja sarkastisch. »Außerordentlich rücksichtsvoll. Aber du möchtest dir trotzdem noch ein Hintertürchen offen lassen, wenn ich das richtig verstehe, ja? Ich geh jetzt, Michael, ich nehm mir ein Taxi. Und das war’s dann wirklich mit uns.«

Sonja unterschrieb die Papiere wie in Trance und fuhr ein letztes Mal in die Gärtnerei, um sie abzugeben und sich von den Kollegen zu verabschieden, die so beschämt waren, dass sie ihr kaum in die Augen sehen konnten. Rasch fuhr sie wieder nach Hause. Was sollte sie jetzt tun? Die Arbeit war ihr Anker gewesen. Im Betrieb hatte sie funktionieren müssen, ordentlich angezogen sein, hatte die Haare gewaschen und ein freundliches Lächeln für die Kundschaft auf den Lippen haben müssen. Jetzt, da sie ohne Verpflichtungen war und sich in aller Ruhe ausmalen konnte, wie ihre Nebenbuhlerin in ihr Haus einzog, ihren Mann, ihr Leben, ihren Bauerngarten übernahm, brach Sonja zusammen.

Sie konnte sich zu gar nichts aufraffen. Stieß Freunde und Bekannte vor den Kopf, die sie zum Weggehen animieren wollten. Fror ständig, sogar im Bett mit zwei Decken und Socken an den Füßen. Wenn sie morgens erwachte, musste sie sich zwingen aufzustehen. Hinzu kam, dass es auch jahreszeitlich bedingt überhaupt nicht mehr richtig hell wurde. Ständig war ihr übel, häufig spürte sie den Drang, einfach die Bettdecke über den Kopf zu ziehen, sich zusammenzukrümmen und hemmungslos zu weinen. Wenn sie dem nachgab, linderte es den Druck für eine Weile.

Um nicht völlig zu verwahrlosen, machte sie sich Zettel mit Tagesordnungspunkten, die sie dann unter Aufbietung großer Willensanstrengung abarbeitete. Sonja fürchtete, dass ihr Körper die Chemie dieses Unglücklichseins bald als Normalzustand speichern könnte. Dabei war sie im Grunde ein lebenslustiger, zuversichtlicher Mensch! Wie hatte es nur so weit kommen können? An welcher Stelle hatte sie nicht richtig aufgepasst? Wann hätte sie anders handeln müssen? Wie ungerecht, dass in seelischen Krisenzeiten der Körper mitlitt und schwächelte! In Romanen und Fernsehfilmen funktionierte es immer schön einfach – Frau wird enttäuscht, heult einmal kräftig, rafft sich wieder auf und schmiedet voller Tatendrang gewitzte Rachepläne. Im wahren Leben lief es ganz anders.

Sonja wollte keine Rache. Na gut, die Vorstellung, dass Michael jedes Mal, wenn er einen Schauer im Nacken spürte und zur Tat schreiten wollte, einen Hexenschuss erlitt, schenkte ihr schon eine gewisse Genugtuung. Aber eigentlich wollte sie nur, dass alles wieder war wie früher. Ihr Gefühl reagierte dümmer als ihr Verstand. Vielleicht merkt Michael, wenn er erst mit der Yogatussi Tag für Tag zusammenlebt, dass er sich furchtbar getäuscht hat, hoffte sie, und dann wird er mich auf Knien anflehen, ihm noch einmal eine Chance zu geben. Und vielleicht werde ich ihm nach einigem Zögern großherzig verzeihen. Diesen Teil malte Sonja sich besonders rosig aus.

In Wirklichkeit lebte sie aus Angst, dass es zu sehr wehtun könnte, nur mit angezogener Handbremse. Vorsichtig, abwartend. Sie verschob es, Bewerbungen zu schreiben – von einem Tag zum nächsten, wieder und wieder. So einfach war es auch gar nicht, in der Gegend etwas geeignetes Neues zu finden. Und warum sollte sie sich nicht eine Auszeit gönnen? Sie war am Ende. Sie fühlte sich fürchterlich. Wer würde sie nehmen, wenn sie eine Ausstrahlung hatte wie ein vergilbter nasser Waschlappen? Sie musste erst wieder zu Kräften kommen und konnte dann aktiv werden. Einen neuen Job suchen, einen neuen Mann.

Sonja besuchte ihre Mutter, die bei ihrem ältesten Bruder und dessen Familie lebte und für ihre zweiundachtzig Jahre erstaunlich rüstig war. Hartmut hatte den landwirtschaftlichen Betrieb, der auch Urlaub auf dem Bauernhof anbot, von den Eltern übernommen. Als Sonja ihrer Mutter beim Ostfriesentee in der gemütlichen Wohnküche vom...