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Die Stunde des Schicksals - Roman

Die Stunde des Schicksals - Roman

Penny Vincenzi

 

Verlag Goldmann, 2018

ISBN 9783641217099 , 800 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Die Stunde des Schicksals - Roman


 

KAPITEL 1

Lady Celia Lytton hatte im Laufe ihres langen Lebens schon mehrfach an der Schwelle des Todes gestanden. Natürlich nicht immer im wahrsten Sinne des Wortes, obwohl der Sensenmann sie bei einigen Gelegenheiten eindeutig ins Visier genommen zu haben schien. Allerdings war sie oft genug totgesagt worden. Für Letzteres gab es kein eindringlicheres Beispiel als den Frühlingstag im Jahr 1953, dem Krönungsjahr, als sie nicht nur ihre Verlobung mit ihrer alten Flamme Lord Arden, sondern auch ihren Rückzug aus dem Verlagshaus Lyttons ankündigte. Prompt schlussfolgerte der Großteil der Londoner Literaturwelt, sie befände sich (bestenfalls) im Anfangsstadium einer tödlichen Krankheit. Zur Mittagszeit erhob man seine Gläser mit Gin Tonic, Martini oder Champagner, gedachte ihrer Spritzigkeit und verlieh seinem großen Bedauern darüber Ausdruck, dass ein Leben, das Literatur und Kultur fast fünf Jahrzehnte lang derart bereichert hatte, nun sein Ende finden sollte. Anschließend wurde darüber gemutmaßt, was wohl auf ihrem Totenschein stehen und wer genau in ihre stets von eleganten Schuhen hinterlassenen Fußstapfen treten würde.

Diese Gerüchte kamen nicht sehr überraschend. Celia Lytton hatte der Öffentlichkeit gegenüber immer mit dem Brustton der Überzeugung geäußert, nur der Tod könne sie von ihrem Lytton-Verlag, der wahrhaft größten Liebe ihres Lebens, trennen.

Und wirklich verkörperte sie für die meisten Menschen Lyttons; sie repräsentierte den Verlag mit ihrem scharfen, kreativen Verstand, ihrem unfehlbaren literarischen Instinkt, ihrem einzigartigen Stil und ihrem zielsicheren Geschmack. Das war schon so gewesen, als sie vor knapp fünfzig Jahren als sehr junges Mädchen in das Unternehmen eingetreten war; doch seit dem Tod ihres Mannes Oliver Lytton vor einem Jahr war sie der Lebensmotor des Hauses geworden. Die jüngere Generation mochte Anteile besitzen, sich leidenschaftlich engagieren, ihre Fähigkeiten, Talente und jede Menge Fleiß einbringen – dennoch wurde kein wichtiger Titel erworben oder publiziert, kein neuer gestalterischer Weg beschritten, keine finanzielle Investition getätigt und kein leitender Mitarbeiter eingestellt, ohne dass Celia dazu ihr Plazet gegeben hätte.

Nicht einmal die organisatorische Herausforderung, die es bedeutete, sich bei allen einschneidenden Veränderungen die Zustimmung von Lyttons New York einzuholen, hatte an ihrem Führungsanspruch, an dem alles abperlte, kratzen können. »Ich kann mir die Meinung von denen – bessergesagt von ihr – durchaus vorstellen«, lautete ihre Antwort, wenn jemand das Thema aufs Tapet brachte, und natürlich hatte sie absolut recht. Dafür gab es, wie allgemein bekannt, sehr triftige persönliche und auch professionelle Gründe …

Lady Celia selbst, die die Aufregung sehr genossen hätte, wäre sie denn Zeugin davon geworden, saß auf einer Chaiselongue am Wohnzimmerfenster ihres Hauses im Cheyne Walk. Wie immer war sie hinreißend schön. Sie war vom Kreise ihrer Familie umgeben, von deren Mitgliedern einige sichtlicher erschüttert wirkten als andere. Neben ihr auf dem Tisch lag das Manuskript für den neuen Roman ihres jüngsten Sohnes, der den Abgabetermin – sehr zu ihrem Missfallen – um zwei Monate überzogen hatte.

Venetia Warwick, eine ihrer Zwillingstöchter, ergriff als Erste das Wort.

»Mummy, bist du dir wirklich sicher?«

»Was genau meinst du, Venetia? Meine Verlobung oder meinen Ruhestand?«

»Nun, beides. Aber wahrscheinlich eher den Ruhestand.«

»Absolut.« Lady Celias Tonfall war spitz. »Wie könnte daran der geringste Zweifel bestehen? Wie lange arbeitest du jetzt schon bei Lyttons, Venetia? Fünfzehn Jahre. Mit beachtlichem Erfolg, wie ich hinzufügen möchte. Sicher wirst du mir zustimmen, dass es Zeit für mich ist, Platz zu machen. Herrje, du selbst hast das während der letzten Jahre immer wieder angedeutet. In deiner Situation würde ich Erleichterung, wenn nicht sogar große Vorfreude verspüren. Und ich bin ziemlich sicher, dass du und Giles genau das empfindet. Vergeude deine Zeit nicht damit, es abzustreiten. Und jetzt müsst ihr mich alle entschuldigen. Ich bin mit Lord Arden zum Mittagessen verabredet. Meiner Ansicht nach habe ich mir nach diesem wenig amüsanten Vormittag ein wenig Spaß verdient. Doch ich möchte, dass ihr alle heute hier zu Abend esst, damit wir die Angelegenheit ausführlicher besprechen können.«

Erst als sie am Arm ihres frisch gebackenen Verlobten, von seinen Freunden Bunny genannt, durch den Speisesaal des Ritz schritt und von den einen Glückwünsche zu ihrer Verlobung, von den anderen Bedauern wegen ihres Ruhestands entgegennahm, erkannten die Menschen ausgesprochen ungläubig, dass sie nicht nur bei bester Gesundheit war, sondern ihre Ankündigung ernst gemeint hatte. Sie würde sich schlicht und ergreifend zur Ruhe setzen.

Dass man, sowohl im Hause Lytton als auch in der Allgemeinheit, seinen Ohren nicht traute, war nicht weiter verwunderlich. Mochte Giles Lytton, ihr ältester Sohn, auch Geschäftsführer sein, Venetia Warwick für Vertrieb, Entwicklung und diese seltsame neue Erfindung, das Marketing, verantwortlich zeichnen, Jay Lytton sich Cheflektor nennen – sie unterwarfen sich alle dennoch Celias Willen. Giles stieß das zwar sauer auf, Jay rebellierte gelegentlich, und Venetia stellte in Frage, weshalb sie sich gerade in ihren Bereich einmischen musste. Aber keiner von ihnen zog ernsthaft in Erwägung, sie einfach mit Nichtachtung zu strafen.

Und hier stand sie nun und verkündete, sie werde jetzt alles an den Nagel hängen. Nicht nur Lyttons, sondern das, was ihr ein ganzes Leben lang am meisten bedeutet hatte: ihren Beruf. Und nur deshalb, um die Countess von Arden zu werden und in Lord Ardens prachtvolles und geräumiges Anwesen aus dem achtzehnten Jahrhundert in Schottland einzuziehen. Prachtvoll mochte es ja sein, raunten alle, jedoch ziemlich weit von London entfernt. Natürlich besaß Lord Arden zudem ein sehr ansehnliches Haus am Belgrave Square. Doch er verbrachte viel Zeit in Glennings, wie man Glenworth Castle gemeinhin nannte.

Tatsächlich hielt er sich seit dem Tod seiner ersten Frau, die bekanntermaßen ein Faible für Stallburschen gehabt hatte, viel öfter dort auf als in London. Seine Liebe gehörte dem Reiten, der Jagd, dem Schießen und dem Angeln. Er ging zwar gerne in die Oper, hatte eine Loge im Glyndebourne und besuchte sogar die Scala und das Pariser Opernhaus, um die göttliche Maria Callas singen zu hören, aber am glücklichsten war er, wenn er bis zur Taille im eiskalten Wasser seines eigenen Flusses stand und den Lachsen auflauerte oder auf der Hatz nach schottischen Füchsen die gefährlich hohen Zäune seines Landguts überwand. Womit, um alles in der Welt, wollte Celia sich dort beschäftigen?, fragten sich alle. Die stets makellos gekleidete und frisierte Lady Celia, ein Stadtmensch, wie er im Buche stand. Allerdings vergaßen diese Leute, dass sie als Mädchen selbst auf dem Land, nämlich auf dem Gut ihres Vaters, aufgewachsen war. Lord Arden war sie bereits in ihrer frühen Jugend bei einer Einladung in Shropshire begegnet, als sie bei strömendem Regen mit ihren Gewehren losgezogen war und mehr Enten erlegt hatte als er.

Inzwischen war Lady Celia Lytton Ende sechzig und litt unter ihrer neuen Einsamkeit, weshalb sie plötzlich von der tiefen Sehnsucht ergriffen worden war, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Und wie durch ein Wunder besaß Peter Arden die Mittel, ihr das zu ermöglichen.

»Willst du …?«

»Natürlich.«

»Berkeley Square?«

»Montpelier wäre …«

»Ja, wäre es. Ich fahre dir nach.«

Die Lytton-Zwillinge, wie man sie immer noch nannte, obwohl sie mittlerweile verheiratet waren und eine große Kinderschar vorweisen konnten, unterhielten sich weiterhin so: in einer seltsamen, unverständlich-stenogrammartigen Sprache, die sie schon seit ihrer Kindheit benutzten und mit der sie alle um sich herum in den Wahnsinn trieben.

Beinahe gleichzeitig kamen sie vor Adeles Haus in der Montpelier Street an. Venetia in einem ziemlich seriösen Jaguar, Adele in dem dunkelgrünen MG-Cabrio, das derzeit ihr ganzer Stolz war. Im Haus war es still. Adeles zwei ältere Kinder befanden sich in der Schule. Ihre kleine Tochter, das Nesthäkchen, war mit dem Kinderfräulein unterwegs.

»Aber lass uns rauf ins Atelier gehen. Sie könnten …«

»Los. Hast du ein Glück, dass es hier so ruhig ist.«

»Nun, wenn man sich nach Ruhe sehnt, ist sechs Kinder zu kriegen nicht die richtige Methode.«

»Ich weiß, ich weiß. Sollen wir …?«

»Schon gut, ich hole was. Geordie hat gestern Abend eine Kiste Sancerre in den Keller gestellt. Nimm schon mal zwei Gläser mit nach oben.«

Adeles Fotoatelier erstreckte sich über den gesamten dritten Stock ihres Hauses; das Glasdach und die Fenster ohne Vorhänge funkelten in der Aprilsonne. Venetia schnitt ein Gesicht und begann, die Rollos herunterzuziehen.

»So grelles Licht halte ich nicht aus. Nicht in meinem Alter. Eindeutig unschmeichelhaft.«

»Venetia, außer mir sieht dich doch keiner.«

»Geordie könnte raufkommen.«

»Wird er nicht. Er isst mit irgendeiner alten Dame zu Mittag, die den Ersten Weltkrieg noch erlebt hat. Für das neue Buch.«

»Tja, irgendwann kommt er sicher zurück.«

»Das dauert noch Ewigkeiten«, verkündete Adele selbstbewusst. »Hier, gib mir die Gläser.«

»Das ist ziemlich …«

»Ich weiß. Richtig.«

»Ich meine, die Vorstellung, dass Lyttons ohne …«

»Bestimmt bist du recht...