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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Nicole C. Vosseler

 

Verlag beHEARTBEAT, 2018

ISBN 9783732558865 , 591 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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5,99 EUR

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Unter dem Safranmond


 

Prolog


Oxford, April 1842

Die Kirchturmglocken von St. Giles am Ende der Straße, nur wenige Häuser entfernt, zählten die Stunden in die Frühjahrsnacht hinaus. Drei, vier, fünf, wiederholte Maya im Stillen. Sechs, sieben – oder war das schon der achte Schlag gewesen? In ihrer Schlaftrunkenheit hatte sich das bald neunjährige Mädchen verzählt, und als der letzte Ton verklungen war, wusste sie nicht, ob es erst elf oder schon Mitternacht war. Seufzend drehte sie sich im Bett herum und angelte nach der Decke, die sie im Traum von sich gestrampelt hatte. Im Zimmer war es kühl. Obwohl die Sonne tagsüber schon warm schien, waren die Nächte noch wenig frühlingshaft. Doch bei den Greenwoods, die in jeder Generation mindestens einen Arzt hervorgebracht hatten, war es üblich, dass sommers wie winters in den Nächten die Fenster zumindest einen Spalt geöffnet blieben, der frischen Luft und der Abhärtung wegen. So war es immer gewesen, soweit Maya zurückdenken konnte.

Angestrengt lauschte sie den Geräuschen im Zimmer. Die hörbar tiefen, gleichmäßigen Atemzüge verrieten ihr, dass ihre jüngere Schwester wie gewohnt fest schlief. Dass Angelinas Schlafgewohnheiten sich dem von ihrer Mutter und der Nanny gewünschten Rhythmus fügten, Mayas hingegen diesem irgendwie zuwiderliefen, war nicht das Einzige, was die beiden Mädchen unterschied. Wer Martha Greenwood zum ersten Mal mit ihren Töchtern sah, kam nicht umhin, teils verunsichert, teils verwirrt von einer zur anderen zu blicken. Angelina und ihre Mutter waren einander wie aus dem Gesicht geschnitten: beide zart, blass und blond, mit den gleichen großen dunkelblauen Augen, wie Puppen aus Biskuitporzellan. Maya hingegen wirkte ziemlich robust neben der zierlichen Gestalt ihrer Schwester. Selbst im Winter hatte ihre Haut einen Hauch von Farbe. Und auch wenn sie stolz darauf war, im Gegensatz zu Angelina von Natur aus Locken zu haben, ließ sich ihr Haar, dunkel wie starker Kaffee, nur selten zu einer jener kunstvollen Frisuren bändigen, die für kleine und große Mädchen so beliebt waren. Das Ungewöhnlichste an Maya aber waren ihre Augen: in der lichtbraunen Iris schimmerte es golden, wie dunkler Bernstein oder Honig, in den Sonnenstrahlen fielen. Wer die Familie näher kannte und wusste, dass Gerald Greenwood zum zweiten Mal verheiratet war, glaubte zuerst oft, Maya stammte wie ihr älterer Bruder Jonathan aus Geralds erster Ehe.

Vor gut drei Jahren waren die Greenwoods aus dem schmalen Haus in der Turl Street hierher in die St. Giles Street übergesiedelt. Zwei der Zimmer im Erdgeschoss hatte Mayas Großvater bezogen, nachdem er mit fast siebzig Jahren seine Arztpraxis aufgegeben hatte. Eines Tages, als überall im Haus noch halb oder gar nicht ausgepackte Kisten herumstanden, war Maya mit einem Glas Milch und Keksen auf das Sofa ihres Großvaters gesetzt worden, damit sie den Handwerkern nicht zwischen den Beinen herumlief, die in manchen der Räume noch zu arbeiten hatten, während Angelina oben brav ihren Mittagsschlaf hielt. Maya machte es nichts aus, Zeit mit ihrem wortkargen Großvater zu verbringen. Sein Schweigen war ihr angenehm, verglichen mit Angelinas Geplapper und den immerwährenden Ermahnungen ihrer Mutter und der Nanny, sich gerade zu halten, kleinere Schritte zu machen und leiser zu sprechen.

Sachte hatte sie mit den Beinen gebaumelt und sich im neu eingerichteten Zimmer mit den hohen Buntglasfenstern zur Straße hin umgesehen. Ihr Blick war an einem goldgerahmten Portrait hängen geblieben, das ihr nie zuvor aufgefallen war. Es musste einem der Räume im Haus ihres Großvaters entstammen, die die Kinder bei ihren sonntäglichen Besuchen nicht betreten durften. So war Maya auch bis zum Umzug, als die Möbelpacker das schwere Bett aus Eichenholz hochkant durch die Eingangstür geschoben hatten, davon ausgegangen, dass ihr Großvater gar keines besaß und auf der lederbezogenen Chaiselongue in seinem Untersuchungszimmer nächtigte, wo er ohnehin die meiste Zeit verbrachte. Doch dieses Gemälde schien ihm so wichtig gewesen zu sein, dass er es sofort aufgehängt hatte, noch ehe all seine geliebten Fachbücher ausgepackt und eingeräumt waren. Es zeigte eine Frau in einem altertümlich fließenden Gewand, das so gar nichts mit den voluminösen Röcken gemein hatte, die Maya an ihrer Mutter und auf der Straße zu Gesicht bekam. Das ebenholzschwarze Haar war nur locker aufgesteckt und wirkte auf Maya, verglichen mit den akkurat angeordneten, stramm zurechtgezurrten Lockengebilden ihrer Mutter, leicht unfrisiert. Als sie genauer hingesehen hatte, hatte sie dem Altersfirnis über Farbe und Leinwand zum Trotz bemerkt, dass die Frau ebenso merkwürdige Augen hatte wie sie selbst. Niemand sonst in ihrer Familie hatte solche Augen.

»Großvater«, hatte sie ihn damals gefragt, »wer ist das auf dem Bild?« Die knotigen Hände hatten sich fester um seinen Spazierstock geschlossen, während Dr. John Greenwood erst lange das Gemälde, dann Maya angesehen hatte. »Das ist deine Großmutter Alice, Liebes. Sie ist schon lange tot. Da hat es dich und auch Jonathan noch gar nicht gegeben. Du bist ihr sehr ähnlich.« Er hatte dabei so traurig geklungen, dass Maya nicht gewusst hatte, was sie darauf hätte sagen sollen, und ein wenig beschämt weiter an ihrem Keks herumgeknabbert hatte. Dennoch war sie seitdem froh zu wissen, dass sie die gleichen Augen wie ihre Großmutter hatte, auch wenn diese nicht mehr lebte.

Erneut schlugen die Glocken von St. Giles und seufzend wälzte sich Maya auf die andere Seite, schob ein Bein unter der Decke hervor, weil ihr nun wieder zu warm war. Seit dem letzten Winter war ihr Großvater auch im Himmel. So wie Jonathans Mutter, an die er sich aber gar nicht mehr erinnern konnte.

Ihre Mutter mochte es nicht, wenn sie »tot« statt »im Himmel« sagte; das sei eine Unart der Ärzte, schimpfte sie dann immer. Maya gab sich Mühe, darauf zu achten, auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte. So ging es ihr mit vielen Dingen, in denen ihre Mutter sie korrigierte. Sie verstand auch nicht, weshalb sie viel häufiger ermahnt wurde als Angelina. Manchmal, wenn sie nachts aus ihrem unruhigen Schlaf aufwachte, dachte sie darüber nach und über den Tod und den Himmel. Auch über ihre Familienverhältnisse, die ihr manchmal so verworren erschienen, dass ihr darüber ganz schwindlig wurde, und über Jonathan, der ihr mit seinen fünfzehn Jahren schon so erwachsen vorkam und den sie so selten sah, seit er in Winchester zur Schule ging. Eigentlich war er ja nur ihr Halbbruder. Ob sie ihn wohl noch lieber hätte, wenn er »ganz« ihr Bruder wäre? Angelina war »ganz« ihre Schwester, und doch hatte Maya sie nicht annähernd so lieb wie Jonathan, auch wenn sie sich noch so viel Mühe gab. Immer wieder neue Gedanken, denen ständig neue Fragen folgten. Kein Wunder, dass sie morgens so müde war und gar nicht aufstehen wollte, während Angelina immer frisch und munter aus dem Bett sprang.

Jetzt war Maya gänzlich wach. Manchmal, wenn sie mit solchen Gedanken beschäftigt war, half es ihr, mit ihrem Vater darüber zu sprechen. Während alle anderen schon längst schliefen, arbeitete er oft noch in seinem Arbeitszimmer im mittleren Stockwerk oder in der Bibliothek im Erdgeschoss. Trotzdem war er immer schon aus dem Haus, ehe es der Nanny überhaupt gelungen war, Maya aus den Federn zu zerren.

Als junger Mann war er weit gereist, nach Italien und Griechenland, bis nach Vorderasien. Überall im Haus verteilten sich angeschlagene Vasen und Teller, mit Grünspan überzogene Münzen und verwitterte, mit Schnitzereien überzogene Holzstücke. Sie waren alle sehr wertvoll und blieben deshalb hinter Glas verschlossen, unerreichbar für Mayas neugierige Finger. Gerald Greenwood wusste so viel über vergangene Zeiten, unterrichtete die Studenten am Balliol College in Alter Geschichte, und trotzdem schien er selbst immer noch mehr lernen zu wollen. Für Maya aber hatte er immer Zeit, gleich wie spät es war. Achtlos schob er dann seine Papiere und Bücher beiseite, zog sie auf seine Knie und hörte ihr aufmerksam zu, sog gedankenvoll an seiner Pfeife, ehe er bedächtig antwortete.

Maya hob vorsichtig den Kopf. Unter der Zimmertür schimmerte ein Hauch blassgoldenen Lichts hervor. Sie zögerte einen Augenblick; dann stand sie auf, tapste auf nackten Füßen über den Boden und schlüpfte leise zur Tür hinaus, angestrengt darauf bedacht, ihre Schwester nicht zu wecken.

Sie tastete sich durch das Halbdunkel des Korridors, umging dabei geschickt jede knarzende Stelle des teppichbedeckten Holzbodens. Ihre Mutter jammerte immer wieder über den »hässlichen alten Kasten«, wie sie Black Hall oft nannte. Aber Maya liebte dieses Haus, gerade weil es so verschachtelt gebaut war und düstere Ecken hatte, in denen es sich im Dunkeln so wunderbar gruseln ließ. Obwohl es Platz genug gab, hielt ihre Mutter es für Verschwendung, jedem der beiden Mädchen ein eigenes Zimmer zu geben. So blieben die anderen Schlafräume für auswärtige Gäste reserviert, für Professoren aus Cambridge, aus London oder aus dem Ausland, die zeitweise hier logierten und nächtelang mit ihrem Vater und einzelnen Studenten zusammensaßen und diskutierten. Oft herrschte reges Kommen und Gehen, und ihre Mutter beklagte sich immer wieder über die viele Arbeit, die für sie damit verbunden war. Doch Maya hatte auch den Glanz in ihren Augen bemerkt, wenn sie geschäftig hin und her eilte, kleine Imbisse vorbereiten und die Zimmer herrichten ließ, frische Blumen in die Vasen stellte und dann in eleganten Kleidern die Gäste willkommen hieß.

Mit jeder Stufe, die Maya hinabstieg, wurde es heller. Der Lichtschein kam aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Die Tür stand ein Stück weit offen, ließ einen Ausschnitt des dunkelroten...