Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Aus dem Leben der Familie Bonhoeffer - Die Aufzeichnungen von Dietrich Bonhoeffers jüngster Schwester Susanne Dreß

Aus dem Leben der Familie Bonhoeffer - Die Aufzeichnungen von Dietrich Bonhoeffers jüngster Schwester Susanne Dreß

Jutta Koslowski

 

Verlag Gütersloher Verlagshaus, 2018

ISBN 9783641233303 , 928 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

19,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Aus dem Leben der Familie Bonhoeffer - Die Aufzeichnungen von Dietrich Bonhoeffers jüngster Schwester Susanne Dreß


 

BAND 1: GRUNDLEGENDES AUS DEM LEBEN DER FAMILIE BONHOEFFER

1.1 Die Vorfahren der Familie Bonhoeffer

An der Wand im Treppenhaus hängt auf Leinen gemalt, riesengroß, oben und unten mit einer runden Holzstange versehen, ein brauner Eichbaum. Er hat einen dicken Stamm mit vielen Zweigen und nach oben hin immer dichter werdenden grauen, schildförmigen Blättern, die mit Namen und Zahlen beschrieben sind. Unten an der Wurzel ist ein goldener Löwe auf blauem Schild, der in den Pfoten eine Bohnenranke hält und dessen Schwanz in einem Bohnenblatt endet. Das ist der Stammbaum der Bonhoeffers. Ganz oben – so hoch, dass ich es kaum mehr sehen kann (geschweige denn lesen), sondern nur abzählen – befinden sich wir acht Kinder. Auch auf dem Stamm in der Mitte sind bis oben hin Namensschilder mit Zahlen angebracht. Bei dem untersten steht ›1300?‹ Das ist eben schon so lange her, dass man das Geburtsjahr dieses ersten Ahnen nicht mehr genau kennt. Aber man weiß, dass er in Nijmegen in Holland gewohnt hat und gar nicht ›Bonhöffer‹ hieß, sondern ›van den Bönhof‹. Erst als sie 1480 nach Schwäbisch Hall auswandern, nennen sie sich Bonhöffer, und sie sprechen sich dort später nach schwäbischer Art vorn mit Nasallaut aus und ziehen das ›ö‹ in die Länge. Das ›oe‹ kommt erst in noch feineren Jahrhunderten.

Sie sind Goldschmiede und Stadtschreiber – das war in der freien Reichsstadt Hall so etwas wie Kanzler, lerne ich. Oder sie waren Archediakonus, das ist so eine Art Oberpfarrer dort an der Michaels-Kirche. Hallmeister sind sie auch, das heißt, sie verdienen durch den Salzhandel viel Geld und bauen sich große, vielstöckige, wappengeschmückte Familienhäuser am Markt und in der Stadt. Sie sind freie Bürger, und das ›van den‹ war auch gar nicht adelig, sagen mir die großen Geschwister voll Bürgerstolz; es hieß nur, dass sie von dem ›Bohnenhof‹ kamen. Mein Vater sagt, es sei ihm eigentlich leid, dass er der Erste aus der Familie ist, der keine Haller Bürgerrechte hat, weil er dort nicht rechtzeitig genug Grundbesitz erworben habe. Die ›schöne Bonhoefferin‹, eine Ahnfrau aus der Zeit um 1700, die als Kopie bei uns im Esszimmer hängt und die ich gar nicht besonders schön finde, ist mit anderen Vorfahren dort in der Kirche zu sehen. Mir kommt das merkwürdig vor, weil ich mir unsere Grunewald-Kirche nicht mit Familienbildern geschmückt denken kann. Aber ich bin doch recht stolz darauf. Leider dürfen wir drei Jüngsten noch nicht mit, als mein Vater mit den Großen die Spuren der Ahnen in Schwäbisch Hall aufsucht. Komisch ist auch, dass meine Großmutter »von Bonhoeffer« heißt. Aber das ist persönlicher Adel, lerne ich, weil mein Großvater Präsident von irgendetwas war. Und Adel ist überhaupt Quatsch, sagt Karl-Friedrich, mein ältester Bruder, der den Stammbaum gemalt hat.

Meine Großeltern waren wohl sehr verschieden, wenn auch ihre stark vergrößerten Fotografien einträchtig in einem Doppelrahmen im Zimmer meines Vaters hingen. Großvater Bonhoeffer war ebenso groß und kräftig, wie seine Frau klein und zierlich war; er war so ruhig und bedächtig, wie sie lebhaft und schnell. Er war besinnlich, sie zupackend. Ihm waren Anerkennung, Karriere und Geld völlig nebensächlich – sie hatte Pläne und Ehrgeiz, war gerne geehrt und litt unter der Geldknappheit des zur Repräsentation verpflichteten und doch vermögenslosen hohen Beamten. Mein Großvater war Pfarrerssohn und hatte mehrere ältere Schwestern. Seine Mutter war Witwe und die Schwestern wohl größtenteils unverheiratet. Das machte der sehr jungen Frau den Start in die Ehe bitter. Jedenfalls warnte sie uns immer vor den einzigen Söhnen von Witwen. Erfolglos!

Mein Großvater lebte nicht für seinen Beruf, er lebte im Freien. Besser wäre er Landmann oder Förster geworden. Jeden Tag machte er lange Spaziergänge. Nie kam er – und sei es auch bei Schnee und Eis – ohne etwas Hübsches zurück, das er draußen gefunden hatte. Meine Blumenkenntnisse habe ich von ihm (ohne ihn je gekannt zu haben; denn ich habe sie durch meinen Vater, der all die Blumen kannte, die er wiederum von seinem Vater genannt bekommen hatte).

Das Leben muss in dem kleinen schwäbischen Städtchen doch recht geruhsam gewesen sein, auch für einen hohen Juristen. Vormittags fand er Zeit zum Spaziergang, nachmittags zum Dämmerschoppen. Sorge um sein Weiterkommen machte er sich nicht; trotzdem kam er dann doch dazu, der höchste württembergische Justizbeamte zu werden, nämlich Landgerichtspräsident. Dafür wurde er dann auch geadelt. Da die Gefahr bestand, dass sein Adel erblich werden würde, wenn er noch ein Jahr länger im Dienst bliebe, ließ er sich zur Erleichterung seiner Söhne (und zum Kummer seiner Frau) pensionieren. Nun lebte er ganz nach seinem Geschmack: Er las viel, unterhielt sich mit guten Freunden beim Glas Wein, und er wanderte durch den Schönbuch, denn er hatte sich in Tübingen niedergelassen. Tagelang blieb er draußen, marschierte an einem Tag nach Stuttgart hinüber – und kam zu seinem Stolz früher an als das umwegige Bähnle. Rettichsamen nahm er mit in den Wald und säte sie aus. Dann zog er sich auf seinen Wanderungen im Sommer und Herbst diese würzige Schärfe zu seinem Brot und dem Quellwasser aus der Erde. Seine Söhne hingen sehr an ihm, und sie lehrten uns, ihn zu lieben. Viel weiß ich nicht von ihm; aber mir genügt die Geschichte mit den Rettichsamen, um ihn ins Herz zu schließen – und nicht nur den steifen, bürgerlichen Nachkommen eines alten Geschlechts in ihm zu sehen.

Die persönlichen Beziehungen zur Verwandtschaft in Schwaben liegen aber ganz auf der Seite meiner Großmutter Julie, geborene Tafel. Sie überlebte den Großvater um etwa dreißig Jahre und war die Einzige, die ich von meinen Großeltern noch kennen gelernt habe. Sie war die ›Tübinger Großmama‹ und schon sehr alt, hat aber noch eine ganze Generation lang meinen Weg begleitet. Ich war ihre jüngste Enkelin. Im Jahr 1842 ist sie geboren. So reichen ihre selbsterlebten Berichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts weit über hundert Jahre zurück. Sie hat uns viel zu wenig erzählt. Das sollten wir uns merken. Aber so wie meine früheste Kindheitserinnerung mit vier Jahren der Ausbruch des Ersten Weltkrieges war, so besann sie sich noch auf Flüchtlinge nach der Revolution 1848, die in ihrem Kinderzimmer versteckt waren. Die Verhandlungen in der Paulskirche füllten die Tischgespräche ihrer Kindheit. Ihr Vater und auch sie selbst waren ihr Leben lang glühende Demokraten. Ihr Onkel hatte in den Zwanzigerjahren mit meinem Urgroßvater Hase zusammen auf dem ›Hohenasperg‹ in Festungshaft gesessen,122 zur Zeit der verfolgten Burschenschaften – natürlich ohne etwas von der späteren Bindung der Enkelgeneration zu ahnen. Immerhin hatten wir politische Gefangene unter unseren Vorfahren und waren stolz darauf.

Die Familie Tafel spielte in Württemberg eine ebenso gewichtige Rolle wie die Bonhoeffers, nur vielleicht ein wenig unbürgerlicher. Mein Urgroßvater Tafel hatte noch drei Brüder, die unterschieden wurden als der ›fromme‹, der ›wüste‹ (das ist in Schwaben als Lob gebräuchlich), der ›schöne‹ und der ›wilde‹ Tafel. Mein Urgroßvater war der Schöne; der Wilde war der politisch engagierte, der gesessen hatte und später zum Paulskirchen-Parlament gehörte; die beiden anderen wurden ›Swedenborgianer‹, der Fromme sogar Bischof in Amerika. Der Wüste kämpfte in Schwaben für seinen Glauben und übersetzte die Schriften Swedenborgs ins Deutsche. Dass meine Großmutter die Tochter des Schönen war, sah man ihr noch im Greisenalter an. Sie wurde wegen ihrer dunklen Augen und schwarzen Haare das ›Schwärzle‹ genannt. Als sie vierzehn Jahre alt war, starb ihr Vater, der Rechtsanwalt gewesen war, und das Vermögen teilte sich unter elf Geschwistern. So nahm Julie vier Jahre später den Antrag des wesentlich älteren Friedrich Bonhoeffer an, der ebenfalls Jurist war, ihren Vater noch gekannt hatte und für ihr Leben Sicherheit bot. Von ihren vier Söhnen starben zwei im Kindesalter. Mein Vater war vier Jahre jünger als sein sehr geliebter Bruder.

Meine Großmutter war herrlich temperamentvoll, ungewöhnlich gescheit und gebildet, sehr gerne vergnügt, aber auch ehrgeizig für ihre Familie – bis hin zu den Enkeln. Sie selbst engagierte sich intensiv in der Frauenbewegung und erlebte die frühen Anfänge der Emanzipation mit. Sie war mit Hedwig Heyl123 und ihrem Kreis befreundet und gründete in Württemberg soziale Frauenvereine. Die vier großen ›Ks‹, die man damals den Frauen als Tätigkeitsfeld zugestand (Küche, Keller, Kinder, Kirche), konnten sie in keiner Weise befriedigen, besonders als die Söhne aus dem Haus waren. Sie bekam für ihre Arbeit von der Königin den ›Olga-Orden‹ verliehen, den sie uns aber nur zur Gaudi vorzeigte.

In den Wintern der Kriegs- und Nachkriegsjahre von 1914 an lebte meine Großmutter bei uns. Es war schon herbstneblig und kalt, wenn wir Enkel alle zu ihrem Empfang auf dem Anhalter Bahnhof aufkreuzten. Die Züge hatten um diese Zeit oft starke Verspätungen. So wanderte man frierend in Grüppchen auf und ab, fluchte etwas und erkundigte sich immer wieder, wie lange es noch dauern könne. Hieß es dann endlich: »Der Zug aus Stuttgart hat Einfahrt!«, wurden die Eltern eilig aus dem Warteraum erster Klasse geholt. Nun verteilte man sich über den Bahnsteig und wartete auf die eifrig aus dem Fenster winkende Großmama. Sie reiste mit viel Gepäck, und zwei große Aufgebekoffer kamen noch durch die Paketpost ins Haus. Eltern,...