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Habitat - Roman

Habitat - Roman

Peter Cawdron

 

Verlag Heyne, 2019

ISBN 9783641230234 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Habitat - Roman


 

1
Teufel

Mir ist schwindlig vom Reiswein.

»Okay, teilt die Karten noch einmal aus«, sagt James und lässt die Hand über dem Tisch kreisen. »Ich habe es verstanden. Ich kann den Gutsherrn austricksen.«

»Es heißt dou di zhu«, erwidert Su-shun. »Gegen den Gutsherrn kämpfen, nicht ›austricksen‹.«

Ich lache, als Jianyu mir ein weiteres winziges Glas einschenkt. »Versuchst du, mich betrunken zu machen?«, frage ich.

Jianyu antwortet, aber im Lärm des Kartenspiels kann ich ihn nicht verstehen. Und James ruft laut: »Eine Trickserei ist ein Kampf, in dem man unsichtbar bleibt, mein Freund. Eine Trickserei ist genauso gut wie ein Kampf, manchmal sogar besser.«

»Das ist es manchmal«, räumt Su-shun ein, während er die Karten rings um den Tisch verteilt.

Jianyu lächelt mich an und wendet sich dann an James. »Du klingst wie Sun Tzu in Die Kunst des Krieges

»Hat er das gesagt?«, fragt James mit Unschuldsmiene.

»Nein«, antwortet Su-Shun, und alle brechen in lautes Gelächter aus.

»Du hast zu viel getrunken«, sage ich zu James, aber ich bin es, die unter dem Einfluss des Alkohols in der leichten Marsgravitation schwankt. Mit einer Hand halte ich mich an der Tischkante fest, weil ich das Gefühl habe, ich könnte davonschweben. Der Rest der chinesischen Besatzung versammelt sich und macht lautstark die Wetteinsätze. Sie sprechen so schnell, dass für mich nur schwer vorstellbar ist, wie irgendjemand den Gesprächen folgen kann. Mir ist nur klar, dass große Aufregung wegen James und seiner höchst unangebrachten Prahlerei herrscht, wobei die Chinesen sowohl auf als auch gegen ihn wetten, aber ich habe den Verdacht, dass sie hauptsächlich auf seine Niederlage setzen.

Wie Rauch in irgendeinem schäbigen Restaurant in Schanghai umweht uns Wasserdampf, der mit selbst gemachtem Weihrauchduft von Verdunstern aufsteigt, die ihn im ganzen chinesischen Modul verteilen. Ich liebe dieses Ambiente. Für ein Mädchen aus dem Mittleren Westen ist das Eintauchen in eine fremde Kultur genauso berauschend wie Alkohol, und ich bin hin- und hergerissen, ob ich bleiben oder gehen soll. Ich habe dreißig Kilo Gesteinsproben, die ich morgen sichten muss – das sind locker acht bis zehn Stunden Arbeit.

»Wir sollten gehen«, sage ich, tippe James auf die Schulter und zeige auf die Digitaluhr an der Wand. Sie zeigt 0:00 Uhr, aber die Sekundenanzeige hat schon weit über die 60 hinausgezählt – sie steht bei 2.344 und läuft weiter. Ich vergesse immer wieder, wie viele Sekunden genau die marsianische Zeitverschiebung beträgt, aber ein Tag auf dem Mars dauert ungefähr vierzig Minuten länger als auf der Erde. Also sind unsere Uhren darauf eingestellt, zwischen 0:00 und 0:01 Uhr für diese Zeitdauer zu pausieren. Theoretisch bedeutet das, wir können jeden Tag etwas mehr als eine halbe Stunde länger schlafen, aber in der Praxis fließt diese Zeit in unsere Arbeit ein. Unsere biologische Uhr ist wie die jener Weltenbummler, die ständig die Zeitzonen wechseln. Der physiologische Effekt ist so, als würde man einmal pro Monat um die Welt herumfahren – was viel verrückter ist, als es scheint, denn etwa zur Hälfte des Monats fühlt sich Mittag allmählich wie Mitternacht an. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich je daran gewöhnen werde.

»Komm schon, Liz! Ich stehe kurz davor, sie auszunehmen.«

»Ja, klar, auf gar keinen Fall«, sage ich und deute auf die Luke, die aus dem Modul herausführt. »Lass uns gehen.«

Su-shun wirft mir einen Blick zu, als wäre er eine Katze, die mit einer Maus namens James spielt und ihm nur so viel Freiheit lässt, dass er im nächsten Moment wieder mit langen, scharfen Krallen zuschlagen kann. Er lächelt mit schmalen Augen. So etwas gefällt ihm.

Ich schaue zu Jianyu und versuche seine Aufmerksamkeit zu bekommen, als er sich hinter James stellt, aber er ist viel zu sehr vom Spiel gefesselt.

Rufe hallen durch das Modul. Es ist erstaunlich laut in der länglichen Röhre. Manchmal fällt es schwer, sich daran zu erinnern, dass wir uns auf einem anderen Planeten befinden, viele Millionen Kilometer von zu Hause entfernt. Dies könnte ein Simulator auf der Erde sein, obwohl es dort nie so ausgelassen zuging. Ohne Ausbilder, die unser Verhalten kritisieren, ist das Leben auf dem Mars viel freier – oder so frei, wie es innerhalb einer Blechbüchse möglich ist.

Jianyu setzt etwas Geld auf James, was mich überrascht – auch wenn »Geld« ein zu starkes Wort ist. Pokerchips dienen als Pseudowährung in der informellen Wirtschaft dieser Kolonie. Die meisten Leute besorgen sich die Dinge, die über die Grundbedürfnisse hinausgehen, mittels Tauschhandel, aber manchmal wird auch mit Chips bezahlt.

Der süße Duft von Gewürzreis hängt in der Luft. Dünne Streifen aus künstlichem Fleisch brutzeln in einem Wok, in dem der Koch immer wieder ein saftiges asiatisches Gericht wendet und alle paar Sekunden mit einer kleinen Kelle Wasser hinzugibt, was Dampfwolken in der übermäßig feuchten Luft aufsteigen lässt. Der Koch redet genauso schnell wie alle anderen, obwohl ich nicht weiß, mit wem – und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ihm irgendjemand zuhört. Das Essen riecht zwar köstlich, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Besatzung um fast ein Uhr nachts eine Mahlzeit zu sich nehmen möchte. Andererseits hat die Party für die Chinesen gerade erst begonnen.

Ich mag das chinesische Modul. Von der technischen Ausstattung her ist es ein Spiegelbild unseres eigenen Moduls, aber die Chinesen haben es zu ihrem Zuhause gemacht. Irgendwie haben sie es in eine kleine Gasse in Guangzhou verwandelt – pulsierend und voller Leben. Kleidung hängt an einer Leine, die quer durch den hinteren Bereich des Gemeinschaftsraums gespannt wurde, was Connor im US-Modul niemals erlauben würde. Für mich sind die Kleidungsstücke wie Wimpel, farbenfrohe Fahnen, festliche Dekoration. Ich bezweifle, dass irgendwer hier genauer darüber nachdenkt. Es ist ein Hauch des Lebens auf der Erde, das auf den Mars versetzt wurde.

»Du bist der Gutsherr«, ruft Su-shun und zeigt auf James, als würde er bei einer Gegenüberstellung einen Mörder identifizieren.

»O nein, nein, nein, mein Freund«, sagt James und hebt warnend einen Finger. »Ich sehe, was du vorhast. Du bist der Gutsherr!« Rund um den Tisch ertönt Gelächter.

»Na komm schon, Liz«, sagt Jianyu. »Wirf ein paar Chips in den Pott.« Seine Hand streicht über die Rückseite meines Arms, gerade lange genug, um Zärtlichkeit zum Ausdruck zu bringen, bevor er um mich herumgeht. Normalerweise ist er diskret, wenn es unsere Beziehung betrifft. Ich glaube nicht, dass es ihm peinlich ist, etwas mit einer Ausländerin zu haben, oder dass er mit Absicht ein Geheimnis daraus macht. Er zeigt seine Gefühle einfach nicht in der Öffentlichkeit, was für mich völlig in Ordnung ist. Die ländliche chinesische Bescheidenheit ist kurios für jemanden, der sechs Jahre lang im Zentrum von Chicago gelebt hat. Aber an diesem Abend ist ihm der Reiswein zu Kopf gestiegen, und er gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Du weißt, dass du es willst«, fügt er hinzu.

»Auf gar keinen Fall«, sage ich und lache mehr über seinen ungestümen öffentlichen Kuss als über seine Worte, aber ich lasse mich von der Begeisterung mitreißen. Es geht gar nicht mehr darum, ob ich bleibe oder gehe, sondern ob ich wette oder weiter mit den Chips in meiner Hosentasche spiele. Ich bin müde. An diesem Tag hatte ich einen achtstündigen Oberflächeneinsatz. Mein Körper sehnt sich nach meinem Bett, aber mein Herz liebt die Explosion des Lebens, die um mich herum stattfindet.

»Ah, ha ha«, sagt Su-shun und zeigt nun auf mich. »Sie macht sich Sorgen, dass er verlieren könnte!«

»Sie ist zu clever«, erwidert Jianyu und zwinkert mir zu. Dann werden weitere Pokerchips auf den Haufen mitten auf dem Tisch geworfen. Wie sie den Überblick behalten, wer was auf wen gesetzt hat, ist mir schleierhaft, aber das System scheint zu funktionieren. Allerdings hege ich den Verdacht, dass es im Grunde gar keine Rolle spielt. An Spielabenden wie diesen sind die Chips wie Gold, auch wenn sie letztlich kaum mehr als Flitter sind.

Fünf Spieler sitzen am runden Esstisch, und um sie herum drängen sich zwei Dutzend Zuschauer, die alle einen möglichst guten Blickwinkel haben wollen. Das sind praktisch alle, die im chinesischen Modul wohnen, aber das Gewimmel erweckt den Eindruck, als würden sich Hunderte von Leuten auf einem überfüllten Markt tummeln.

Su-shun hat die Karten ausgeteilt, doch bevor irgendwer sein Blatt aufheben kann, stürmt Wen herbei und schiebt Leute aus dem Weg, damit sie bis zum Tisch durchkommt.

»Raus, raus, raus!«, übertönt sie den Krawall. Dann beugt sie sich vor und wischt zwei Kartenstapel beiseite. »Die Amerikaner müssen gehen.«

»Was?« Su-shuns Gesicht zeigt Fassungslosigkeit.

»Geht, sofort!«, ruft Wen und blickt mir in die Augen. Ich sehe eine Persönlichkeitsveränderung. Da ist keine Neckerei mehr, kein freundlicher Wettstreit. Ich erkenne Wut in ihren Augen.

»James«, sage ich und zerre an seiner Schulter. »Wir müssen gehen.«

»Was? Ich kann nicht. Ich habe Chips im Pott!«

Wen macht sich nicht die Mühe, die übrigen Karten einzusammeln. Es genügt, dass sie sie einfach vom Tisch gefegt hat. Die anderen Spieler sind erzürnt.

»Verschwindet!«, brüllt sie.

Wen begnügt sich nicht mit den Karten. Jetzt schleudert sie die Chips über den Tisch. In der niedrigen Marsgravitation fliegen sie durch die Luft und hüpfen über den Boden des Moduls. Wir waren neun Monate lang auf dem Mars, um die Hauptbasis zu errichten, aber der Anblick von Objekten,...