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The End - Das Buch vom Tod

The End - Das Buch vom Tod

Eric Wrede

 

Verlag Heyne, 2018

ISBN 9783641228415 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR

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The End - Das Buch vom Tod


 

1. Kapitel

I Fought The Law

Waren Sie schon einmal mitten in der Nacht auf einem Friedhof und haben versucht, eine Urne auszubuddeln? Nein? Ich hatte das auch nicht in meiner Lebensplanung vorgesehen. Selbst dann nicht, als ich mich nach langen Überlegungen dazu entschlossen hatte, mit Anfang dreißig Bestatter und Trauerbegleiter zu werden. Und doch stand ich in jener Nacht mit einer Stirnlampe, einer kleinen Gartenschaufel und einem großen Rucksack vor einer Berliner Friedhofsmauer und versuchte, meinen langen Körper so geräuschlos wie möglich über das Hindernis zu wuchten, um ein Grab auszuheben. Wie zur Hölle war ich nur hierhergekommen?

Bevor ich mich dazu entschloss, Bestatter zu werden, war ich Musikmanager. In die Branche war ich durch diverse Zufälle gestolpert. Es war nie mein erklärtes Ziel gewesen, für ein Label zu arbeiten. Während meines Studiums jobbte ich nebenher in einem Berliner Plattenladen, nachts legte ich manchmal als DJ auf. Mit einem Bekannten sprach ich irgendwann über die von mir verehrten, aber in Deutschland noch recht unbekannten The Killers. Dass man die hierzulande noch nicht anständig bekannt gemacht hatte, empfand ich Großmaul und Musik-Nerd als klaren Beweis dafür, wie mies es um die deutsche Plattenindustrie bestellt war. Mein Bekannter sagte: »Du hast eine große Klappe. Komm doch mal mit und sag das meinen Freunden, die machen sich gerade selbstständig.« Also besuchte ich die Jungs von Motor Music, und die boten mir anschließend einen Job an.

Ich war in meinen Zwanzigern, arbeitete mit coolen Musikern zusammen und verdiente mehr Geld, als ich es mir zu Studentenzeiten je erträumt hatte. In Berlin hat man damit eigentlich den Gipfel erreicht. Es war ein toller Job. Aber ich hatte ihn nie bewusst ausgesucht, er war mir einfach so zugeflogen. Und als ich mir wie fast jeder andere mit Anfang dreißig die Frage stellte, ob mich mein Leben wirklich glücklich machte, dachte ich über meinen Job nach. Und dass ich doch eigentlich tief im Inneren auf der Suche nach einer echten Berufung war. Der Stein im Schuh drückte, aber ich wusste noch nicht, wie ich ihn ausschütteln konnte.

Ich begann, Listen zu erstellen. Mit Antworten auf Fragen wie »Was brauche ich?« oder »Was will ich?«. Am Ende stand da unter anderem: »Ich will mich um Menschen kümmern«, »Ich will dafür anständig bezahlt werden« und »Ich möchte Prozesse abschließen«. Das war eines meiner großen Probleme mit einem Job in der Musik- oder Medienbranche: Man hat nie das Gefühl, Dinge wirklich zu beenden. Ich dachte nach. Sollte ich anfangen, Psychologie zu studieren? Eine Schreinerausbildung beginnen oder Möbelrestaurator werden? Wirklich richtig fühlte sich das alles nicht an.

2010 besuchte ich Freunde in Mönchengladbach. Gemeinsam gingen wir zu einer Tattoo-Convention. Ich wollte eigentlich erst am Montag wieder zurück nach Berlin fahren, setzte mich dann aber doch schon am Sonntag ins Auto und gab Gas. Ich schaltete das Radio ein, suchte irgendwas Entspanntes und blieb bei WDR 3 hängen. Im Kulturradio lief ein Interview mit Fritz Roth, einem Pionier der alternativen Bestattungsszene in Deutschland. Ich hatte noch nie von ihm gehört. Er erzählte von seiner Ausbildung zum Trauerpädagogen, seiner Trauerakademie »Haus der menschlichen Begegnung« und dem von ihm gegründeten ersten privaten Friedhof in Deutschland. Seine Aussagen über seine Motivation und seinen Beruf trafen mich wie ein Schlag. Das war genau das, was ich mir auf meine Listen geschrieben hatte! Die Bestattungsbranche, so Roth, sei sehr verschlossen und unmodern. Sie brauche dringend jüngere Kräfte, die mit neuen Ideen das bestehende knochentrockene Gewerbe aufbrechen. Für mich war dieses Interview ein Erweckungserlebnis, mitten auf der A2. Ich steuerte eine Raststätte an und musste mich erst mal sammeln. Bestatter also. What the fuck? Das würde mir doch niemand abnehmen.

Was faszinierte mich so an diesem Job? Bis dato hatte der Tod in meinem Leben so gut wie keine Rolle gespielt. Eine ferne Oma und ein noch fernerer Onkel waren gestorben, aber diese Todesfälle hatten mich nicht wirklich berührt. Ich ging recht naiv an die ganze Thematik heran. Was mich an Roths Interview so begeistert hatte, waren seine Erzählungen über einen Beruf, bei dem man Menschen in Extremsituationen betreut und ihnen dabei hilft, Verluste durchzustehen und zu verarbeiten. Das wollte ich auch machen.

In den Wochen nach dem Interview googelte ich mich ein wenig schlauer über diese mir gänzlich unbekannte Branche, informierte mich über die Ausbildung, die verschiedenen Angebote und sammelte virtuelle Erfahrungen. Mit jeder Suche fand ich das Ganze noch etwas abstoßender. Es gab so vieles, was es zu verändern galt, so vieles, was ich verändern wollte. Das System in seiner bestehenden Form gefiel mir ganz und gar nicht. Die Idee, ein eigenes Bestattungsinstitut aufzumachen, existierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mein Plan sah vor, zunächst einmal echte Erfahrungen in einem Bestattungshaus zu sammeln, mich hochzuarbeiten, um vielleicht in ferner Zukunft eine eigene Filiale zu übernehmen. Ich wollte das System in kleinen Schritten bearbeiten. Aber zunächst mal waren das nur Pläne. Ich setzte sie erst in die Tat um, als mir das Schicksal einen ordentlichen Schlag auf den Hinterkopf verpasste. Ein guter Freund von mir war krank geworden. Todkrank. Zu verstehen, dass dieser Mensch sehr bald sterben würde, machte mich fertig. Auch, weil ich realisierte, dass so etwas auch mit mir geschehen könnte.

Worauf wartest du eigentlich, fragte ich mich selbst, als ich den ersten Schock über die Krebsdiagnose meines Freundes verdaut hatte. Darauf, dass auch du bald dran bist? Was soll denn schon passieren, wenn du deinen Job endgültig hinschmeißt und dein Leben umkrempelst? Im schlimmsten Fall landest du wieder hinter irgendeiner Theke. Im Frühjahr 2013 gab ich meinen Job als Musikmanager auf, um ein Praktikum in einem Bestattungshaus zu beginnen. Natürlich unbezahlt. Ich zog aus meiner großen schönen Wohnung aus und in eine kleinere und weniger schöne ein. Und fing an, in einem veganen Café zu jobben. Ich meinte es wirklich ernst.

Es war gar nicht so einfach gewesen, ein Bestattungshaus zu finden, das mich a) überhaupt als Praktikant beschäftigen wollte und b) meinen Vorstellungen von einem klassischen Institut entsprach, das noch alle für eine Bestattung notwendigen Handlungsschritte selbst übernahm. Jeden Morgen stand ich jetzt vor dem Spiegel, um meine dunkle Krawatte akkurat zu binden, meine Tattoos zu verstecken und jenen pastoralen Gesichtsausdruck einzustudieren, der dem Gegenüber gleichzeitig Seriosität und Mitleid suggerieren sollte. Eine unangenehme Mischung, aber ich war Lehrling und wollte nicht auffallen. So aufmerksam wie möglich sog ich sämtliche Eindrücke meiner neuen Tätigkeit in mich auf und notierte sie abends in ein kleines Notizbuch. Wie ein kleiner Günter Wallraff. Ich wollte verstehen, wie dieser Beruf funktioniert, wie in einem klassischen Bestattungshaus mit den Verstorbenen und aber auch mit den Angehörigen umgegangen wird. Ich wollte einen Blick hinter die Kulissen dieses Gewerbes werfen, das doch jeder kennt, von dem aber fast niemand weiß, wie es wirklich funktioniert.

Vier Wochen nach meinem Praktikumsbeginn machte ich mich mit Stirnlampe, Schaufel und Rucksack mitten in der Nacht auf dem Weg zum Friedhof, um gegen eine ganze Reihe Regeln und Konventionen zu verstoßen, weil ich Menschen dabei helfen wollte, anständig Abschied zu nehmen. Dass ich meinen Job in der Musikindustrie aufgegeben hatte, um stattdessen Bestatter zu werden, hatte sich natürlich längst in meinem Bekanntenkreis herumgesprochen. Eines Tages hatte sich ein Freund bei mir gemeldet: »Eric, die Frau eines Freundes ist gestorben. Kannst du helfen?« Natürlich wollte ich das können. Meinem Praktikumsbetrieb sagte ich: »Da ist jemand gestorben, aber die kommen nur zu uns, wenn ich das selber mache.« Glatt gelogen, aber sei’s drum, ich übernahm meinen ersten Fall.

In den Gesprächen mit den Angehörigen stellte ich fest, dass sich die Familie nichts sehnlicher wünschte, als die Urne der Verstorbenen zu Hause aufzubewahren. Unerfahren (und unerschrocken) wie ich war, sagte ich: »Kein Problem, wir setzen die Urne auf dem Friedhof bei und buddeln sie danach einfach wieder aus. Das merkt schon keiner.« Was hatte mich nur geritten? Nicht nur, dass die Familie davon ausging, dass ich derjenige sein würde, der des Nachts seine Schaufel in ein frisches Grab stechen würde, besagter Friedhof liegt auch noch direkt neben einer Polizeistation. Ein Bestatter, ein Wort. Kurz vor Mitternacht nahm ich meine dunkle Aufgabe in Angriff.

Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn mich jemand dabei erwischt hätte. Während ich mit meinen Händen immer tiefer grub – so eine Urnengruft ist achtzig Zentimeter tief, und wer es mir nachtun möchte, dem sei gesagt, dass eine Blumenschaufel dafür ziemlich ungeeignet ist –, sah ich die Schlagzeilen schon vor mir: »Bestatter-Praktikant beim Klauen einer Urne erwischt!« Im Idealfall noch mit Beweisvideo für einen viralen Spitzenreiter in der Kategorie: »Die dämlichsten Typen des Jahres«.

Doch niemand bemerkte mich. Niemand beobachtete, wie ich endlich die Urne in den Händen hielt, das Loch wieder zuschaufelte, über die Mauer kletterte und mir mit zittrigen Händen erst mal eine Zigarette ansteckte. Gott sei Dank war auch niemand dabei, als ich feststellte, dass ich die falsche Urne ausgegraben hatte. Vor Wut und Ärger schossen mir die Tränen in die Augen. Ich war der schlechteste Kriminelle der Welt. Noch einmal kletterte ich über die Mauer, noch einmal...