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Weihnachtsgeschichten aus der Heimat

Weihnachtsgeschichten aus der Heimat

Hermann Siegmann

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2018

ISBN 9783839258620 , 287 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR

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Weihnachtsgeschichten aus der Heimat


 

Das letzte Weihnachtsfest


Wie schon so oft in den vergangenen Jahrzehnten, so gab es auch im Jahre 1998 wieder mal keinen Schnee zum Weihnachtsfest. Es ist doch eigenartig, dass die meisten Menschen im Land sich gerade für diese Zeit nichts sehnlicher wünschen. Sind es die Kindheitserinnerungen an frühere weiße Weihnachten? Oder ist es die Sehnsucht nach einer heilen Welt, in der alles Böse und Schmutzige unter einem dicken weißen Schneeteppich verschwindet? Kommt das Verlangen aus den tiefsten Gründen unserer Seele, gepaart mit dem Wunsch nach Frieden und Liebe, für die der weiße Schnee mit seiner Reinheit symbolisch betrachtet werden kann? Vielleicht ist es von allem ein bisschen. Vielleicht ist es aber noch viel mehr und wir können es wieder einmal nicht beschreiben. Wenn auch so mancher Wunsch an Weihnachten in Erfüllung geht, so gibt es doch Dinge zwischen Himmel und Erde, auf die wir keinen direkten Einfluss haben. Dinge, für die wir nur beten und die wir uns von ganzem Herzen wünschen können. Auch wir hatten Wünsche, aber die betrafen nicht den weißen Schnee. Die waren weitaus größer. Es ging um das Wichtigste, was wir Menschen uns auf dieser Erde wünschen können: um die Gesundheit. Der sehnlichste Wunsch unserer ganzen Familie sollte uns an diesem Heiligen Abend des Jahres 1998 erfüllt und vor die Kirchentür gestellt werden.

Die drei Glocken unserer schönen Kirche riefen die Einwohner unseres kleinen Dorfes zum Kirchgang. Wie immer am Heiligen Abend war der Festgottesdienst am späten Nachmittag auf 16.00 Uhr angesetzt. Zum einen, weil die Kinder des Dorfes ihr Krippenspiel nach alter Tradition aufführten, und zum anderen hatte unser Pfarrer noch eine zweite Gemeinde zu betreuen.

»Holst du schon mal das Auto aus der Garage und stellst es vor die Haustüre? Es wird Zeit, dass wir gehen.« Verwundert schaute ich zu meiner Frau hinüber. Sie stand gerade vor dem Spiegel und ordnete ihre Frisur, ohne ihren Blick abzuwenden.

»Ich dachte, wir nehmen den Rollstuhl, dann brauchst du dich nicht in die enge Kirchenbank zu zwängen«, entgegnete ich, während ich bereits den Autoschlüssel von der Ablage nahm.

»Nein, heute nicht«, war ihr Kommentar, als sie sich vom Garderobenspiegel abwandte und nach ihren Krücken griff. Ich bewunderte sie sehr, wie tapfer sie mit dieser heimtückischen Krankheit umging. Seit nunmehr acht Jahren litt sie an Multipler Sklerose, dieser unheilbaren Immunschwäche, die so auf ganz unterschiedliche Art und Weise auftreten kann und die so viele Gesichter hat. Sie kämpfte mit aller Kraft, die ihr noch zur Verfügung stand, gegen diese Krankheit an, obwohl sie wusste, dass sie keine Chance hatte, das Duell zu gewinnen. Der Gegner war zu stark und zu heimtückisch. Es war von Anfang an kein fairer Kampf. Der Sieger stand schon von vornherein fest. Aber immer wieder gab ihr die Hoffnung neuen Mut zum Weiterkämpfen, dass es der Forschung gelinge, ein helfendes Medikament für MS-Patienten zu entwickeln. Die meiste Kraft für ihren Kampf aber schöpfte sie aus ihrem unerschütterlichen Glauben.

Der leichte Westwind wehte den rufenden Klang der Kirchenglocken durch das Tal herauf und mahnte zum Aufbruch. Ich versuchte, die traurigen Gedanken zu verdrängen, und holte den Wagen. Doch bereits beim Einsteigen brachte sich diese teuflische Krankheit wieder in Erinnerung. Das linke Bein wollte mal wieder nicht gehorchen, doch gemeinsam schafften wir auch das. Es war noch einigermaßen hell, als wir die Dorfstraße hinabfuhren. Wie immer an Weihnachten, so waren auch heute wieder viele Wollenberger Einwohner unterwegs. Eingehüllt in ihre wärmende Winterbekleidung, kamen sie aus allen Richtungen und eilten dem Gotteshaus zu.

»Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.« Wer kennt nicht dieses Sprichwort? Und genauso erging es uns damals auch. Erst als ich vor dem Haupteingang der Kirche angehalten hatte, um meiner Frau den weiten Weg vom Parkplatz herüber zu ersparen, da sahen wir sie stehen. Carmen, unsere jüngste Tochter. Bleich, ja beinahe durchsichtig im Gesicht, stand sie, auf Krücken gestützt, vor der Kirchentüre. Hier hatte sie auf uns gewartet, sie wusste, dass wir pünktlich kommen würden. Überraschen wollte sie uns, und das war ihr auch hervorragend gelungen. Meine Frau und ich schauten uns zweifelnd an, dann wieder zu Carmen hinüber. Obwohl wir sie ganz deutlich vor uns sahen, konnten wir es nicht glauben. War das eine Fata Morgana? Oder war das wirklich unsere Tochter? Carmen sah unsere zweifelnden Blicke und mit einem verschmitzten Lächeln ließ sie ihrer Freude über die gelungene Überraschung freien Lauf. Für uns war und blieb es ein Wunder, das hatten wir in unseren kühnsten Träumen nicht erwartet. Um die letzten Zweifel zu beseitigen, stieg meine Frau aus dem Auto und ging Carmen entgegen. Das vorher noch so widerspenstige Bein gehorchte plötzlich wieder. Währenddessen hatte ich das Auto auf den Parkplatz gefahren und war zu den beiden zurückgekehrt. Als ich sie erblickte, blieb ich ergriffen stehen. Das Bild, das sich mir bot, rührte mich und prägte sich tief in mein Herz ein. Da standen Mutter und Tochter eng umschlungen vor dem Eingang zur Kirche und weinten vor Glück. Ihre Gehhilfen lagen, wirr wie überdimensionale Mikadostäbe, neben ihnen auf dem Boden. Nachdem auch ich Carmen herzlich begrüßt hatte, hob ich die Krücken auf und wollte sie den beiden geben. Doch die sahen alle vier gleich aus, hatten dieselbe Farbe und waren auf gleiche Länge eingestellt. Spontan, so wie sie schon immer war, nahm mir meine Jüngste die Entscheidung ab:

»Das spielt doch keine Rolle, Papa, gib halt jedem zwei, sie bleiben doch sowieso in der Familie.«

Wie recht sie doch hatte. Das spielte jetzt wirklich keine Rolle. Viel wichtiger war doch, dass sie wieder bei uns war. Da drängte sich mir auch gleich die Frage auf: »Wann hat man dich aus der Klinik entlassen?«

»Gestern.«

»Und da kommst du heute hierher, ist das nicht viel zu gewagt?«

»Keine Panik«, witzelte Carmen erneut. »Da ist doch alles fest zusammengeschraubt und genagelt. Das hält, das ist deutsche Wertarbeit.«

Bewundernd sah ich sie an. Ja, sie war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihre Mutter. Das eigene Leid wird nicht hochgehängt, das des anderen wiegt viel schwerer und bedarf der Hilfe und der Anteilnahme.

»Wo ist eigentlich dein Freund Dieter? Du bist doch hoffentlich nicht auch noch selbst hierhergefahren«, drängte sich mir besorgt die nächste Frage auf.

»Nein, das geht wirklich noch nicht, das braucht viel Zeit. Dieter ist schon in der Kirche bei den anderen. Ich wollte hier auf euch warten und euch überraschen.«

»Das ist dir auch hervorragend gelungen. Zuerst glaubte ich doch tatsächlich, einen Geist zu sehen. Mit dir haben wir, nach all dem, was passiert war, wirklich nicht gerechnet«, erwiderte meine Frau spontan, wobei ein seliges Leuchten aus ihren schönen blauen Augen strahlte, wie ich es so zuvor bei ihr noch nie gesehen hatte. Leise und nachdenklich, so als ob es nur für sie selber bestimmt sei, hörte ich sie dann vier Worte sagen:

»Jetzt kann ich gehen.«

Erst viel später wurde mir bewusst, was sie damit gemeint hatte. Damals hatte ich es so verstanden, dass es nun höchste Zeit war, in die Kirche zu gehen.

»Ja, lasst uns hineingehen, es hat schon aufgehört zu läuten.«

Wie immer war auch an diesem Heiligen Abend das Gotteshaus fast bis auf den letzten Platz besetzt. Doch wir mussten nicht suchen, wir konnten uns wie gewohnt in die letzte Kirchenbank setzen. Martina und Anja, unsere beiden älteren Töchter, waren mit ihren Partnern schon rechtzeitig gekommen und hielten uns die Plätze frei.

»Wo bleibt ihr denn? Wir warten schon lange auf euch!«

Den leicht tadelnden Unterton überspielend, konterte Carmen wieder in gewohnter Weise: »Die Krücken behinderten uns beim Gehen. Wenn wir stattdessen Flügel gehabt hätten, wären wir schon längst hier.«

Die Organistin beendete bereits den Eingangs­choral und wechselte zum ersten Lied. Es sollte für unsere Familie ein ganz besonderer Weihnachtsgottesdienst werden. Da war der Geburtstag des Gottessohnes, den die Wollenberger Kinder wie immer so einfühlsam mit ihrem Krippenspiel nachvollzogen hatten, und die ›Wiedergeburt‹ unserer Tochter Carmen. Ja, für uns war es, als ob sie uns noch einmal geschenkt worden war. Wir hatten mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Die vielen Stunden lähmenden Bangens werden wir nie mehr vergessen.

Was war geschehen?

Es war der 20.11.1998 und es war ein Freitag. Die Sonne strahlte von einem stahlblauen Himmel, wie sie es um diese Jahreszeit so nur selten tut. In der Nacht zuvor hatte leichter Schneefall das Land mit einer zwei Zentimeter dünnen Schicht überzogen. Alles wirkte wie verzaubert. In der Mittagssonne glitzerten die Schneekristalle wie kostbare Diamanten und kündeten von einem schönen, vielversprechenden Wochenende. Ich hatte mir den Nachmittag freigenommen, und so konnte ich wieder einmal zum Mittagstisch zu Hause sein. Die Straßen waren schneefrei und trocken, schon die Heimfahrt durch die weiße Landschaft stimmte mich positiv auf die kommenden Tage ein. Als ich zu Hause ankam, stand Carmens Polo schon vor der Garage. Carmen, unsere jüngste Tochter, wohnte schon seit vier Jahren nicht mehr bei uns, aber sie kam an jedem ihrer Arbeitstage zum Mittagessen vorbei. Es war nicht Bequemlichkeit von ihr, dass sie die Mittagspause im »Hotel Mama« verbrachte. Nein, wir wussten, dass sie es ihrer Mutter zuliebe tat. Meine Frau wäre sonst den ganzen Tag über allein mit ihrer Krankheit...