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DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN - Roman

DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN - Roman

Heike Vullriede

 

Verlag Luzifer Verlag, 2021

ISBN 9783958353558 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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2,99 EUR

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DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN - Roman


 

– 1 –


 

Das Badewasser ruhte, seit er die Luft anhielt – das war alles. Nichts weiter!

Er fühlte keinen Schmerz und auch keine Erstickungsqual; lediglich der Schaum auf dem Wasser schaukelte nicht mehr über seinem Bauch hin und her.

In der Hitze des Bades spürte er, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Sie vereinigten sich zu dünnen Rinnsalen und rannen ihm die Schläfen entlang. Das beruhigte ihn. Es machte ihn angenehm matt und gedankenarm. Reglos schwamm sein Körper, vom Wasser sanft getragen, während die Augen und Ohren das trübe Bewusstsein fütterten. So könnte er es sich wünschen – sein Ende. Es schien ganz einfach, so unbeschwerlich, bloß hinwegzudämmern.

Ungewollt setzte seine Atmung wieder ein. Er ließ es geschehen. Das Leben tut ja, was es will. Es geht auch einfach so weiter – ohne ihn. Sein gedachter letzter Atemzug blieb wieder einmal unbemerkt. Wann sie ihn wohl gefunden hätten? In zwanzig Minuten … in dreißig? Spätestens in einer Stunde, so mutmaßte er, hätten sie ihn entdecken müssen – in der Wanne liegend, untergetaucht, mit abstehenden, um den Kopf herumschwimmenden Haaren – das Gesicht weiß, die Augen starr, den Mund geöffnet unter Wasser, wie ein dahintreibendes Sirenenopfer. Oh … das Geschrei wollte er gern hören!

Aber erst einmal hätten sie es nicht bemerkt, die beiden da unten im Wohnzimmer. Während er gestorben wäre, hätten sich Frau und Tochter über Fernsehfilme oder irgendetwas anderes Banales ausgetauscht, sich unbeschwert auf dem Sofa gerekelt, über dies und das gekichert.

Gestorben wäre er ganz allein.

Nicht zum ersten Mal probte er das Sterben, indem er einfach den Atem anhielt. Er wollte wissen, wie sich das anfühlt, wenn alle anderen weiteratmen; wissen, wie es weitergeht, nach dem Entweichen des letzten Sauerstoffes aus seinen Lungenflügeln. Es war jedes Mal mehr Luft gewesen, als erwartet. Einsam fühlte sich das an.

Er lag also in der Badewanne, und das allabendlich, wie ein Mädchen. Er, Marvin Abel, ein Mann im besten Alter, in heißem, sündhaft aufgeschäumtem Wasser – heute ein Rosenblütenbad. Aber nur hier konnte er sein Gedankensamsara noch so gelassen ertragen. Langsam rutschte er etwas tiefer. Die Beine ein wenig anzuziehen, das reichte schon, um seine schmalen Schultern im Wasser verschwinden zu lassen. Ja, etwas Krafttraining hätte da vielleicht helfen können. Aber wozu jetzt darüber nachdenken? Es spielte keine Rolle mehr. Oder doch?

Von unten drangen Lisas und Julias Stimmen durch die geschlossene Badezimmertür. Ihre Stimmen verwischten zu einem monotonen Brei, unterbrochen von einigen Höhen, in denen sie kicherten. Beneidenswert, diese Lebensleichtigkeit der beiden. Fast schon unverschämt! Niemals mehr würde er das mit ihnen teilen können. Nie mehr entspannt vor dem Fernseher sitzen oder sich unbeschwert auf dem Sofa ausstrecken. Selbst, wenn es vorerst gut ausgehen würde. Vorerst!

Eineinhalb Meter über ihm brummte die Leuchtstoffröhre, die er so eigenhändig wie umständlich hinter einer Wand von dunkelblauen Fliesen angebracht hatte, um die Badewanne indirekt zu beleuchten. Romantisch hatte es werden sollen. Der raffinierte Versuch von Verführung an einem sinnlichen Ort. Doch dazu war es nie gekommen. Leider! Vielmehr weit weggerückt, angesichts der brutalen Wirklichkeit der letzten Wochen.

Was hatte sein Arzt noch zu ihm gesagt?

Ihr Blutdruck gefällt mir nicht!

Hoher Blutdruck? Wäre das alles gewesen, hätte er in diesen Tagen vermutlich ständig an seine Blutdrucktabletten gedacht; immer besorgt, ob sie auch helfen. Nach der Kniearthrose das nächste ernst zu nehmende Zeichen seiner Vergänglichkeit. Wie lächerlich!

Was war schon ein hoher Blutdruck gegen das, was danach entdeckt wurde! Eine kurze Untersuchung im Krankenhaus – eigentlich nur erfolgt, um eine ernsthafte Erkrankung hinter seinen Beschwerden auszuschließen – stellte sein Leben auf den Kopf.

Wäre er doch niemals wegen dieser Kopfschmerzen zum Arzt gegangen! Er wüsste es bis heute nicht. Nichts in seinem Leben hätte sich bis jetzt verändert, besonders das Zukunftspläneschmieden nicht. Er wollte sich doch um diese Stelle als Geschäftsführer in der neuen Tochtergesellschaft der Firma bewerben, und er hätte sie bekommen. Er – und nicht dieser arrogante Jungakademiker aus der anderen Abteilung, der ihm seit zwei Jahren schon im Nacken saß. Lisa wollte er zum vierzigsten Geburtstag im übernächsten Monat mit zwei Wochenend-Tickets nach Stockholm überraschen. Und auf diesem Drei-Tagestrip hätte er, wie in jedem Urlaub, entspannten Sex mit ihr gehabt. Mit der Auszahlung der Tantiemen wollte er sich am Jahresende endlich diesen sündigen Zweisitzer gönnen, von dem er bereits vier verschiedene Prospekte besaß. Eine solche Liste konnte er beliebig fortsetzen. Alles das hatte er geplant, ungeachtet der Möglichkeit, jemals ernsthaft zu erkranken. Gut, eine Krankheit im Alter – das konnte man sich ja vorstellen – wann auch immer alt beginnen mochte. Aber nicht jetzt schon. Nicht mit fünfundvierzig – das fand er nicht alt. Als junger Mann von zwanzig Jahren danach befragt, hätte er fünfundvierzig wahrscheinlich als greisenhaft empfunden, aber nicht heute. Alt wird man immer erst später. Und auch sterben wird man immer erst später.

Er stieg aus der Badewanne. Schrumpelig. Noch immer aufgeheizt genug, um in der Nacktheit nicht zu frieren, bewegte er sich in Richtung Waschbecken, ohne sich abzutrocknen. Kleine Wasserpfützen in Fußform legten eine Spur auf die Fliesen. Doch der schnelle Wechsel zwischen dem Liegen in dem heißen Wasser und der plötzlichen Bewegung bekam ihm nicht. Alles wurde auf einmal schwarz. Er versuchte halbwegs kontrolliert zu Boden zu gleiten, indem er sich am eben noch erreichten Waschbecken festhielt …

Als Marvin die Augen wieder aufschlug, fand er sich auf dem Badvorleger liegend. Rechts neben ihm die weiße Säule des Waschbeckens und links von ihm das Katzenklo. Er starrte hinein. Wahrscheinlich gab ihm der Geruch daraus das Bewusstsein zurück. Diese dämliche Katze seiner Frau, die immer dann ins Klo machte, wenn er badete, sollte also doch für etwas gut sein.

Was war geschehen? Ach ja, zu heiß gebadet, zu schnell aus der Wanne gestiegen und – ach ja, er hatte diesen Tumor im Kopf. Es war kein Traum.

Er setzte sich auf, blieb eine Weile am Boden sitzen, die Arme nach hinten abgestützt. Allmählich drangen auch die Geräusche der Umwelt wieder zu ihm durch. Alles unverändert. Nicht einmal das hatten Frau und Kind bemerkt.

Übelkeit breitete sich aus – vom Kopf her. Zum Kotzen! Das jetzt auch noch! Marvin glaubte plötzlich, sich noch nie so alleine gefühlt zu haben. Dabei war das erst der Anfang. Was sollte da noch auf ihn zukommen? Wenn es auch grammatikalisch nicht möglich war – gefühlsmäßig gab es für ihn eine Steigerung von allein.

Mühselig zog er sich am Waschbecken hoch. Der Spiegel stellte sein Gesicht bloß. Blass sah es aus und schmal. Elf Kilo hatte er abgenommen in den letzten Wochen. Langsam drehte er den Kopf nach beiden Seiten um und betrachtete dabei seine Gesichtshaut genau. Alt und fahl sah sie aus, wie ein schlappes Stück Fleisch über den Schädel gezogen. Es kam ihm nicht wie sein eigenes Gesicht vor, das ihn da anblickte, mehr wie das eines fremden alten Mannes, dessen Schicksal ihm in einem bewegenden Film vorgeführt wurde.

Er packte in das schwammige Wangenfleisch hinein, fest, um sich zu spüren. Trotzdem fühlte er mehr mit den Fingern, als mit der Haut seiner Wangen. Wo war sein Ich geblieben? In einem fremden Körper? Oder besaß sein Körper ein fremdes Ich?

»Marvin?«

Lisa rief von unten hoch und holte ihn aus seinem Dämmerzustand zurück.

»Marvin?«

Er hörte seine Frau die Treppe hochkommen, denn ihre Stimme klang jetzt näher und ihre Füße lösten auch ohne Hausschuhe ein leises kurzes Knacken an einigen Stellen der Holztreppe aus. Hatte sie doch etwas von seinem Sturz bemerkt? Im Spiegel sah er dann, wie Lisa die Tür hinter ihm einen Spalt öffnete und hereinschaute.

»Weißt du eigentlich noch, in welcher Zeitung dieser Witz steht? Du weißt schon, dieser Gezeichnete.«

»Was?«

Mit beiden Händen auf das Waschbecken gestützt, drehte er sich um. Er sah sie an und versuchte angestrengt, aus seiner Gedankenwelt in die ihre zu wechseln.

»Na, dieser gezeichnete Witz mit den Vögeln, die alle in einer Ecke hocken, weil einer geniest hat … wegen der Vogelgrippe! Der ist doch so süß. Ich will ihn Julia zeigen.«

Lisa kam herein, während sie sprach, und stellte sich vor ihn hin. Sie musste hochschauen, um ihm in die Augen zu sehen. Ihr Blick wanderte von seinem Gesicht über seinen nackten Körper auf den Fußboden, bis zur Badewanne und zurück.

»Du hast dir schon wieder nicht die Füße abgetrocknet!«

Es klang vorwurfsvoll und er fand, sie hatte recht. Wie schnell konnte man mit nassen Füßen im Bad stürzen! Vor einer Minute war es ihm passiert.

»Hast du eigentlich eine Ahnung, was für Flecken das auf diesen dunklen Fliesen hinterlässt?«, hielt sie ihm vor.

»Welche Flecken es hinterlässt, wenn ich stürze?«

Irritiert sah er in Lisas zartes Gesicht. Sie versuchte trotz ihres mädchenhaften Aussehens einen strengen Ausdruck, indem sie die Haut zwischen ihren zusammengewachsenen dunklen Augenbrauen zu senkrechten Falten zog. Es gelang ihr nicht, aber das wusste sie nicht. Lisa hasste diese zusammenwachsenden Brauen und trimmte sie gelegentlich durch Auszupfen. Doch Marvin mochte sie. Er fand Lisa so...