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Zerrissene Leben - Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter

Zerrissene Leben - Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter

Konrad Jarausch

 

Verlag Theiss in der Verlag Herder GmbH, 2018

ISBN 9783806238693 , 456 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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31,99 EUR

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Zerrissene Leben - Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter


 

1

Kaiserliche Vorfahren


Die Traditionen der Vorfahren haben, selbst wenn man sich ihrer nur mehr schwach erinnert, großen Einfluss auf das Leben von Familien. Mögen Jugendliche sich familiären und verwandtschaftlichen Zwängen auch zu entziehen suchen, sind sie doch durch tief verwurzelte Strukturen geprägt, etwa im Blick auf Zugehörigkeiten wie nationale und regionale Bindungen, soziales Milieu und Religion. Direkter geben Großeltern berufliche Vorlieben, Verhaltensmaßregeln und materielles Erbe weiter. Am unmittelbarsten prägen die Eltern durch ihr Vorbild und ihre Persönlichkeit, durch berufliche Erfolge wie Fehlschläge die Chancen und Werturteile ihrer Kinder. Es ist dieser unsichtbare Ballast, den Pastor Erich Helmer anspricht: „Tragen wir nicht alle einen großen oder weniger großen Tornister, in dem wir das eingepackt haben, was uns das Leben beschert hat?“ Dieser Tornister entscheidet über spätere Lebenswege, auch wenn das den meisten Menschen kaum bewusst ist.1

Lebensrahmen und Chancen der nach dem Ersten Weltkrieg geborenen deutschen Kinder gründen in der „Kaiserzeit“, in der Rückschau gern als „die gute alte Zeit“2 bezeichnet. Die Berliner Verkäuferin Edith Schöffski erinnert sich, dass auf dem Land „die Menschen … zufrieden und oft auch glücklicher als heute“ waren. Das Leben schien wohlgeordnet und vorhersehbar. „Sonntags wurde – wenn nicht dringend auf dem Feld zu tun war – nur das Nötigste getan. Nachmittags saßen die Frauen mit Nachbarn oder Vorbeikommenden auf der Bank vor dem Haus, erzählten oder hingen ihren Gedanken nach. Das war der Lohn für die arbeitsreiche Woche.“3 In den reicheren Städten kam bei bürgerlichen Familien sonntags der sprichwörtliche Sonntagsbraten auf den Tisch, danach promenierte man im besten Staat durch einen nahe gelegenen Park, und nachmittags gab es Kaffee und Kuchen. Es war eine festgefügte, sichere Welt, in der alles seinen Platz zu haben schien.

Obwohl die Lebensbedingungen sich im Großen und Ganzen verbesserten, zeigen die Autobiografien, dass die Unterschichten die Vorkriegsjahrzehnte im Kaiserreich dagegen als eine „Zeit, die voll Armut und Not war“, erlebten. Während viele Geschäftsleute sich über steigende Einkünfte freuen konnten und Akademiker die gesellschaftliche Wertschätzung ihres beruflichen Titels genossen, kamen kleine Ladenbesitzer und Handwerker nur so gerade über die Runden.4 Für Dienstmägde und Knechte auf dem Land blieb es ein hartes Leben, wie Edith Schöffski beschreibt: „Das karge Essen reichte gerade zum Leben und Arbeiten. Zwölf bis vierzehn Stunden mußte man am Tag arbeiten. Freizeit gab es nicht.“5 In den Städten lebten proletarische Familien in feuchten Mietwohnungen, die die Gesundheit gefährdeten. Ihre Kinder wurden in der Schule geschlagen, um Zucht und Ordnung durchzusetzen. Der Ingenieur Karl Härtel erinnert sich, dass sein Vater, ein Arbeiter in einem Elektrizitätswerk, „an mehr als 50 Stunden in der Woche mit einer überdimensionierten Schaufel unablässig Kohlen in den unersättlichen Schlund eines Heizkessels“ warf.6 Die glänzende Fassade wachsender imperialer Macht und Prosperität hatte eine Schattenseite, die von harter Arbeit und elementarer Rechtlosigkeit geprägt war.

Historiker haben endlos darüber gestritten, ob das Kaiserreich im Kern reaktionär oder fortschrittlich war. Westdeutsche Apologeten hoben anfangs auf die positiven Aspekte ab, während ostdeutsche Marxisten Preußen als Unterdrücker-Staat brandmarkten – was u.a. den Abriss der königlichen Schlösser in Potsdam und Berlin rechtfertigte. Angeregt durch den Protest der 68er, entwickelten kritische bundesrepublikanische Historiker wie Hans-Ulrich Wehler die Theorie vom deutschen „Sonderweg“: Die verspätete Modernisierung des wilhelminischen Deutschland sei abgewichen von westlichen Demokratievorstellungen, das Deutsche Kaiserreich habe eine Politik des „Sozialimperialismus“ verfolgt. Andere verwiesen wie Thomas Nipperdey dagegen auf Fortschritte in punkto Rechtsstaatlichkeit sowie in Wissenschaft und Kultur, während britische Historiker betonten, dass die Mittelschicht mehr Macht gehabt habe, als gemeinhin angenommen.7 Die ganze Debatte über einen deutschen „Sonderweg“ ist jedoch ziemlich ergebnislos geblieben, weil es letztendlich Belege für beide Sichtweisen gibt.

Die lebhaften Erinnerungen der in den 1920er-Jahren geborenen Kinder eröffnen eine alternative Sicht auf das wilhelminische Deutschland, weil sie die Vorstellungen von einfachen Leuten an diese Epoche wiedergeben. Geprägt von den Erzählungen ihrer Großeltern, schuf das Bild des Kaiserreichs Ausgangserwartungen, auf deren Folie spätere Erfahrungen beurteilt wurden. Der Förster Horst Andrée erinnert sich, dass „bei Familienzusammenkünften … immer von unseren Vorfahren gesprochen [wurde]: Wer sie waren, wo sie herkamen, wo sie lebten und welche Berufe sie hatten.“ Aber auch wenn „aus Urkunden, alten Briefen und Fotografien“ sowie aus Gegenständen der materiellen Kultur eine Familienerinnerung konstruiert werden konnte, die erklärte, wer man war, blieben „doch noch viele Fragen offen“. Im Gegensatz zu Geschichten, die mündlich weitergegeben werden, sind Autobiografien ein bewusster Versuch, Traditionen schriftlich festzuhalten, damit sie dem eigenen Nachwuchs „bessere Einblicke als unserer Generation bieten“.8

DIE TRADITIONEN DER VORFAHREN


Welchen Einfluss frühere Generationen auf die Lebenswege der Nachgeborenen haben, ist schwer dingfest zu machen. Obwohl es damals wesentlich zur geselligen Unterhaltung gehörte, Familiengeschichten zu erzählen, sind die Verweise auf Vorfahren meist vage und spärlich.9 Viele Autobiografien sind voller alter Fotografien, sorgfältig komponierten Porträts wie dem des Großvaters und Vaters von Ruth Weigelt – selbstgefällig dreinblickende Männer in Uniform (Abb. 2). Andere Schnappschüsse halten wichtige Ereignisse im Leben fest, beispielsweise Hochzeiten, Geburtstage oder Konfirmationen. Allerdings sind sich die Nachfahren oft nicht sicher, wer die Leute auf den Fotografien überhaupt sind, wenn Namen und Anlässe nicht auf der Rückseite vermerkt wurden. Einige Verfasser betrieben sogar Ahnenforschung, um ausführliche Familienstammbäume zu erstellen, die oftmals nicht mehr enthalten als einen Namen, ein Datum und einen Ort.10

Die harmlose Ahnenfrage wurde erst zu einem gefährlichen Problem, als die Nationalsozialisten für Eheschließung und öffentlichen Dienst den Nachweis arischer Abstammung verlangten. Nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1933 galt „als nicht arisch … wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt“. Da es unmöglich war, die „Rasse“ mit biologischen Messungen nachzuweisen, führte diese antisemitische Klausel zu hektischen Suchaktionen nach urkundlichen Belegen in Personenstandsregistern und Kirchenbüchern. Das Verschwimmen konfessioneller Grenzen aufgrund von Konversion, Mischehe und Säkularisierung hatte viele Menschen gemischter Abstammung hervorgebracht. Weil die Entdeckung einer jüdischen Großmutter sie in Lebensgefahr bringen konnte, griffen viele betroffene Familien, wie etwa die Helmers, zu Notlösungen, beispielsweise verwandtschaftlichen Banden mit einem prominenten Nazi, um solche mutmaßlichen „Makel“ aus ihrer Vorgeschichte zu tilgen. In der rassistischen Welt des „Dritten Reichs“ wurde der Nachweis arischer Abstammung zur Überlebensfrage.11

2 Kaiserlicher Großvater und Vater.

Ohne solche Veranlassung bedurfte es schon des ungewöhnlichen Stolzes auf eine besondere Abstammung, damit Familien sich früherer Generationen von Vorfahren erinnerten. In proletarischen Lebenserinnerungen finden sich selten die Namen der Großeltern, weil der tägliche Existenzkampf den Menschen kaum Zeit ließ, entsprechende Aufzeichnungen zu machen. Bürgerliche Familien mit einer ungewöhnlichen Vergangenheit, beispielsweise der Abstammung von hugenottischen Flüchtlingen wie im Fall des Försters Andrée aus Pommern, neigten eher dazu, eine solche Erinnerung zu bewahren.12 Angehörige religiöser Minderheiten, die um gesellschaftliche Anerkennung kämpften, wie etwa die Kaufmannsfamilie Gompertz aus dem Ruhrgebiet, pflegten einen gewissen Ahnenstolz, vor allem wenn ihr gegenwärtiger Erfolg sich positiv von ihren bescheidenen Anfängen abhob.13 Und Autoren wie Benno Schöffski, der vertrieben wurde, wollten dem Nachwuchs das nostalgische Bild einer verlorenen Heimat vermitteln.14 Vertreter der Oberschicht schließlich, wie etwa die Scholz-Eule-Sippe, ehemalige Besitzer eines Guts in Schlesien, hielten die Erinnerung wach, um eventuelle Rückgabe- oder Entschädigungsansprüche begründen zu...