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Allein deine Schuld

Allein deine Schuld

J.C. Lewin

 

Verlag beTHRILLED, 2019

ISBN 9783732555338 , 716 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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3,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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Allein deine Schuld


 

Kapitel 1


Sie war tot. Das wusste ich schon.

Und da war sie, und das Bild mit ihrem frischen Gesicht überall in den East Anglian Nachrichten bestätigte, dass niemand dieses traurige Lächeln je wieder sehen würde. Ich hatte die Verantwortung für sie gehabt. Meinem Schutz war sie anvertraut gewesen.

Ich stand mitten im Wohnzimmer und starrte auf den Bildschirm, während ein überwältigendes Gefühl der Hilflosigkeit über mich hinwegschwappte. Ich hatte gewusst, dass es heute in den Nachrichten sein würde – die ganze Nacht hatte ich wachgelegen und mich davor gefürchtet – aber ihr Gesicht hier in meinem Wohnzimmer zu sehen, erwischte mich irgendwie kalt. Im Fernseher lief eine Präsentation ihres Lebens ab. Skurrile Bilder von ihrem Facebook-Konto. Instagramfotos, auf denen sie in Schuluniform posierte. Selfies mit Freunden in Norwich. Alles Lügen. Emma Beale hatte kein schönes Leben gehabt.

Ich schaute mich in meinem eigenen behaglichen Leben um, einem Leben, das ich oft für selbstverständlich hielt. Meine Blicke wanderten von dem Haufen nicht zueinanderpassender Schuhe und Stiefel auf dem Fußboden zu der Kerze mit dem Kirsch-Vanille-Duft auf dem Second-Hand-Couchtisch, zu dem cremefarbenen Sofa, auf dem ich mich am Feierabend mit einem Glas billigem Wein zusammenrollte. Es war nicht das tollste Haus der Welt – ein gewöhnliches einstöckiges Reihenhaus in Norwich – aber es gehörte uns. Teigan und ich hatten alles, was wir brauchten. Sie war geborgen und wurde geliebt. Und das war etwas, was Emma nie gehabt hatte.

Ich sah zu den gerahmten Fotos auf dem Kaminsims. Mutter und Tochter. Mein Lieblingsbild war das von uns in den Ferien auf den Kanaren, auf dem wir mit einem Eis in der Hand grinsen wie Honigkuchenpferde. Teigan musste damals zehn gewesen sein – bevor sie ein Teenager wurde und beschloss, dass es ätzend war, auf einem Bild mit Mum zu lächeln. Ich dachte wieder an Emma. Sie hatte nie einen Fuß in einen Flughafen gesetzt, geschweige denn in einen Flieger auf die Kanaren. Und jetzt würde sie es auch nie tun.

Ein vertrauter Zweifel fing an, an mir zu nagen, als die unvermeidlichen Fragen auf mich einstürmten. Hätte ich sie retten können? Ich tigerte im Zimmer herum und ging die Liste verpasster Anrufe von vor zwei Tagen durch.

 

  • 11:10 Unbeantworteter Anruf von Emma Beale.
  • 11:45 Unbeantworteter Anruf von Emma Beale.
  • 11:55 Unbeantworteter Anruf von Emma Beale.
  • 12:01 Unbeantworteter Anruf von Emma Beale.
  • 12:02 SMS von Emma Beale: Bitte rufen Sie mich an. Ich muss mit Ihnen reden.

Hätte ich sie da nur angerufen. Hätte ich nur gewusst, was passieren würde.

Ich zuckte zusammen, als mein Handy in meiner Hand vibrierte. Hilary Andrews. Ich hätte es wissen müssen. Ein Anruf von der Chefin vor acht Uhr morgens bedeutete, dass sich die Sache von schlecht zu schlechter entwickelte.

»Hallo. Ich hab’s gesehen.« Ich hielt inne, als der Kloß in meiner Kehle fester wurde. »Es tut mir so furchtbar leid.«

»Ich habe dir gestern schon gesagt, dass es nicht deine Schuld ist, dass die Mutter eine Kriminelle ist.«

»Aber ich hätte sie früher da rausholen müssen. Ich habe gewusst, dass das passieren würde. Ich hab’s gewusst.«

»Nein, das hast du nicht. Und sag solche Sachen bloß nicht vor dem Untersuchungsausschuss – die werden sich die Finger lecken.«

»Aber …«

»Es ist nicht deine Schuld, Suzanne. Wenn ich mich recht erinnere, hast du im Gegenteil etwa vor zwei Monaten den Wunsch geäußert, Emma aus dem familiären Umfeld herauszuholen.«

»Ja, aber es ist nicht passiert.«

»Nun, das hattest du nicht zu entscheiden. Du weißt besser als irgendjemand sonst, dass, wenn die oben sagen, es gebe nicht genug Beweise, die Sache gelaufen ist.«

Das stimmte. Niemand konnte einem besser einen Knüppel zwischen die Beine werfen als ein Vorgesetzter, der sagte, die Schwelle sei noch nicht erreicht. Mir fiel blitzartig der Tag wieder ein, an dem ich aus dem Büro gestürmt war. Monate harter Arbeit, und wofür? Ich hatte mir geschworen, dass ich weitere Gutachten schreiben, genügend Indizien sammeln würde, um Emma da herauszuholen. Doch ehe ich mich versah, hatten meine anderen Fälle Vorrang gehabt, und Emma war auf der Prioritätenliste nach unten gerutscht. Die vergessenen Kinder.

»Ich hätte mehr tun müssen.« Meine Stimme kam erstickt heraus, während ich gegen die Tränen ankämpfte. Das Bild von Emmas mattem Gesicht beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte, kam mir erneut in den Sinn. Sie wandte sich vom Auto ab, nachdem ich sie zu Hause abgesetzt hatte, und wappnete sich für die nächste Runde emotionaler Misshandlungen.

Ich hörte, wie Hilary am anderen Ende einen Seufzer ausstieß. Mit Gefühlen hatte sie es noch nie gehabt, die gute Hilary.

»Du musst dich bei der Falluntersuchung zusammenreißen. Ich werde auch mit dem Ausschuss sprechen, damit du nicht allein stehst.« Sie hielt inne. »Wann wirst du hier sein?«

Ich räusperte mich. »Bald. In zwanzig Minuten.«

»Gut. Der Untersuchungsausschuss kommt um neun.«

»Okay. Kannst du die Zentrale bitten, mein Interview zur Walker-Stiftung heute abzusagen?«

»Ach, herrje, ist das heute?«

»Heute Nachmittag. Aber wir sagen’s ab, ja?« Ich quetschte das Handy in meinen Fingern. »Das schaffe ich heute nicht. Nicht nach der Sache.«

»Suzanne, ist dir klar, wie viel dieser ganze PR-Quatsch gekostet hat?« Hilarys Stimme klang streng und autoritär wie die einer alten Schullehrerin. »Das können wir auf keinen Fall absagen. Wenn es erst am Nachmittag ist, gut. Du kannst nach dem Untersuchungsausschuss hingehen.«

»Ist das nicht ziemlich unsensibel?«

Bei meiner Andeutung ging Hilary an die Decke. »Vor allem mal war das deine Scheiß-Idee, Suzanne. Du bist diejenige, die mit dem Jugendamt von Norfolk dafür zusammenkommen wollte. Und da Norfolk ebenfalls eine Menge Mittel dafür aufgewendet hat, werden wir nicht absagen. In Ordnung?«

Ich fiel aufs Sofa zurück und ließ geschlagen die Schultern hängen. Ich wusste sehr wohl, dass man es sich gut aussuchen musste, wann man sich mit Hilary anlegte. »Okay … solange die Sache sensibel behandelt wird.« Ich legte auf und schaute wieder zum Bildschirm. Man konnte sehen, dass Wahlen bevorstanden. Emma Beales Tod würde bald von all den Politikern und ihren Machtkämpfen verdrängt werden. Für die meisten würde sie zu einer schwachen Erinnerung, zum Nichts verblassen. Doch für mich würde sie immer jemand sein, bei der ich versagt hatte.

»MUM!«

Teigans aufgeregte Stimme riss mich aus meinen düsteren Gedanken, als sie die Treppe herunter und fuchsteufelswild ins Zimmer getrampelt kam.

»Mum, was hast du mit meinem roten Schal gemacht?« Eine Hand in die Hüfte gestemmt, ihr Handy in der regenbogenfarbenen Hülle in der anderen, stand sie da. Ihre langen dunklen Haare fielen nach vorn und verdeckten ihr halbes Gesicht.

»Welchem Schal?« Ich sprach so deutlich, wie ich konnte, und versuchte die unterdrückten Tränen in meiner Stimme nicht zu verraten.

»Meinem roten! Mit den Schmetterlingen.«

»Ich habe überhaupt nichts damit gemacht.«

Schnaufend verschränkte sie die Arme übereinander. »Das machst du immer. Du räumst Sachen dorthin, wo sie deiner Meinung nach hingehören, und dann vergisst du total, dass du irgendwas damit gemacht hast.«

Vor Entrüstung liefen meine Wangen rot an. Wenn die nur wüsste. Teigan betrachtete den Ausdruck auf meinem Gesicht, hielt inne und ließ die Arme sinken, als meine pampige Teenager-Teigan dem warmherzigen Mädchen darunter Platz machte.

»Mum? Ist irgendwas?«

»Ach, nichts. Nur … die Arbeit.«

Teigan nickte. »Hat es was mit dieser Emma zu tun, die heute Morgen im Fernsehen war? War das eine von deinen?«

Bei der Erinnerung, dass Emma meinem Schutz anvertraut gewesen war, ließ ich den Kopf hängen. »Ja. War sie.«

»Das tut mir leid, Mum.« Sie kam herangeschlurft und umarmte mich, wobei ihre langen Haare an meinem Arm kitzelten. Ich blinzelte die Tränen zurück und zwang mich nicht zu weinen.

»Danke, mein Schatz.” Ich strich ihr die Haare hinter die Ohren, als wir uns voneinander lösten. »Versuch’s mal in dem Schrank unter der Treppe – ich meine, ich hätte den Schal dort gesehen.«

»Aha, du hast ihn also doch weggeräumt.« Sie grinste triumphierend.

»Einigen wir uns darauf, dass wir uns da nicht einigen können.«

Ich ging durch das mittlere Zimmer – das zum allgemeinen Abstellraum verwandelte Esszimmer – und entdeckte zwei Ladungen von Teigans Wäsche auf dem Wäscheständer in der Ecke.

»Ich habe dich gestern Abend gebeten die wegzuräumen, Teigan.«

»Was?« Sie schaute kurz von ihrem Handy hoch, das nun, da ihr Schal gefunden war, wieder ihre volle Aufmerksamkeit beanspruchte. »Ach, ja. Habe ich vergessen.«

Natürlich. Ich hatte versucht, ihr einige Grundlagen beizubringen, haushaltsmäßig. In ihrem Alter war ich schon gut im Waschen, Bügeln, Saubermachen und Kochen gewesen. Hatte ich auch sein müssen. Bisher war es schon ein Kampf gewesen, ihr zu zeigen, wie man eine Waschmaschine bedient. »Na schön, könntest du sie jetzt bitte wegräumen?«

»Gleich«, murmelte sie, ohne den Blick von ihrem Handydisplay zu wenden.

»Sofort, bitte.«

Schwer seufzend verdrehte sie die Augen.

Ich ging in die Küche, um mir für die Arbeit mein Mittagessen zu machen – es stank immer noch nach dem Fisch von gestern Abend. Die einst fröhliche gelbe Farbe sah matt und schmuddelig aus. Mein Blick wanderte zu...