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Scheitern an Kontingenz - Politisches Denken in der Weimarer Republik

Scheitern an Kontingenz - Politisches Denken in der Weimarer Republik

Michael G. Festl

 

Verlag Campus Verlag, 2019

ISBN 9783593440897 , 457 Seiten

Format PDF

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Scheitern an Kontingenz - Politisches Denken in der Weimarer Republik


 

Vorwort Wo denn die Parallelen zwischen der Weimarer Zeit und heute liegen, war die Frage, die mir am häufigsten gestellt wurde, während ich an dem vorliegenden Projekt arbeitete. Meist ging diese Frage mit einer pessimistischen Erwartung einher, wonach vordringlich sei, dass auch wir heute in einer gefährdeten Zeit leben würden, auf einer demokratisch abschüssigen Bahn. In der Tat drängen sich einige negative Parallelen auf - steigender Nationalismus und der Aufstieg autokratischer Herrscher als die wohl vordringendsten. Doch unter der Annahme, dass wir unser politisch-gesellschaftliches Schicksal selbst in der Hand haben, gibt es keine Notwendigkeit, sich auf die zweifellos vorhandenen negativen Parallelen zu versteifen. Dies erst recht, wo doch eine der offensichtlichsten Parallelen darin besteht, dass damals wie heute der Glaube Konjunktur hatte, der Liberalismus - verstanden als das Vertrauen auf eine freiheitliche Rechtsordnung, auf das fruchtbare Zusammenspiel emanzipierter Intelligenzen und auf die universale Verbesserungsfähigkeit des Menschen - habe seine besten Tage hinter sich. Dem war, obwohl dem Liberalismus in Weimar, wie wir im Folgenden sehen werden, immer wieder die Todesmesse gelesen wurde, nicht so. Wie wir heute wissen, hatte er zur Zeit der ersten gesamtdeutschen Republik, eine seiner stärksten Phasen erst noch vor sich. Den weitverbreiteten Glauben an den Untergang des Liberalismus ein weiteres Mal zu falsifizieren, scheint mir heute unsere wichtigste Aufgabe zu sein, mit dem Unterschied, dass es dieses Mal gelingen muss, ohne davor einen Weltkrieg zu durchleben. Mein Ziel für die nächsten Jahre wird daher darin bestehen, mit publizistischen Mitteln dazu beizutragen, den Liberalismus zu revitalisierten. Das Projekt, das ich hier präsentiere, ist die gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Jahr 2017 von der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen angenommen wurde. Für hilfreiche Anregungen danke ich den Gutachtern Martin Hartmann, Caspar Hirschi, Philip Kitcher, und Michael Quante. Der wichtigste akademische Dank geht wie schon bei meiner Dissertation an Dieter Thomä. Ohne seine kritischen Interventionen und klugen Ratschläge hätte ich dieses Projekt nicht zur Publikationsreife treiben können. Der Dank an meine Frau und geistige Sparringspartnerin Diana geht über das hinaus, was ich mit Buchstaben auszudrücken vermag. Steisslingen, 10. August 2018 Der Erste Weltkrieg als deutscher Kontingenzschock und die Rolle der Demokratie Mehr noch als der Zweite löste der Erste Weltkrieg einen mentalitätsgeschichtlichen Schock aus. Dieser Krieg, von den Zeitgenossen als der Große tituliert, 'zerbrach de[n] geschichtsphilosophische[n] Optimismus, der das 19. Jahrhundert hindurch vorgeherrscht hatte' (Münkler 2013: 795) und markierte den 'Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters' (Mommsen 2004, Untertitel). Gerade auch für viele Intellektuelle war vor dem Krieg das Gefühl entstanden, die Menschheit wandle auf einem Pfad des gesellschaftlichen Fortschritts, ein Pfad, der sowohl ökonomisch als auch politisch nur eine Richtung kennt: aufwärts. 'Die junge Generation spürt die ?Sekurität? und blickt erwartungsvoll in die Zukunft', lässt Kiesel über diejenigen verlauten, die in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts geboren wurden (2007/2009: 20). Stefan Zweig, Jahrgang 1881, beschreibt das Lebensgefühl vor 1914 mit den Worten: 'Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. [...] Jeder wusste, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht. Wer ein Vermögen besaß, konnte genau errechnen, wieviel an Zinsen es alljährlich zubrachte, der Beamte, der Offizier wiederum fand im Kalender verlässlich das Jahr, in dem er avancieren werde und in dem er in Pension gehen würde.' (1942/2012: 15) Dabei zerstörte der Beginn des Ersten Weltkriegs nicht nur materielle Hoffnungen. Er vernichtete, wofür wiederum Stefan Zweig ein gutes Beispiel abgibt, auch die idealistische Hoffnung auf ein Europa, das in Brüderlichkeit und Frieden vereint ist. Und für diejenigen, welche - vielleicht, weil sie Leser Nietzsches waren - schon geahnt hatten, dass die Diagnose vom Zeitalter der Sicherheit eine Fehldiagnose darstellt, war der Erste Weltkrieg ein Schock, weil er mit Giftgas, Verdun und Schützengraben alles viel schlimmer hatte kommen lassen, als wohl selbst der Pessimistischste es sich ausgemalt hatte. Diese und ähnliche Analysen eines Schocks treffen nicht nur für Deutschland und Österreich zu. So berichtet John Garth für die Vorkriegsverhältnisse in England: 'Trotz der Arbeiterunruhen, der Unabhängigkeitsbestrebungen in Irland und einer zunehmend streitbaren Frauenrechtsbewegung, war [die Ära vor dem Ersten Weltkrieg; M. F.] für viele Briten eine Zeit der Ruhe und des Wohlstands mit wenig Zukunftssorgen. Nur das tragische Scheitern von Captain Robert Scotts Antarktisexpedition und der Untergang der Titanic, beides 1912, trübten diese Sorglosigkeit.' Der Tag, an dem der Große Krieg ausbrach, habe diese 'alte Welt' beendet (2003/2014: 43 und 63). Und aus Frankreich heraus stellte der Zeitgenosse Paul Valéry nach dem Krieg fest: 'Nicht alles ist untergegangen [im Ersten Weltkrieg; M. F.], aber alles hat den Untergang gefühlt. Ein Schauer ohnegleichen hat Europa bis ins Mark durchbebt.' (1924/1956: 7) Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, so das paneuropäische Gefühl, markierte das Ende einer Ära, eine Ära, welche die Mehrheit der Beobachter optimistisch gestimmt hatte. Doch vor allem in Deutschland kam noch hinzu, dass es viele Menschen gab, für die auch das Kriegsende keine Erleichterung brachte, sondern - ganz im Gegenteil - neue Schocks. Manche Kreise fielen ob der Tatsache aus den Wolken, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Dies passte nicht mit dem Gefühl von vor dem Krieg zusammen, dass sich das Land auf der industriellen, aber auch auf der militärischen, ja vielleicht sogar auf der kolonialen Überholspur befand, sich anschickte, England vom Thron zu stoßen. Für diese Kreise zerstörte das Ende des Krieges die Allmachtsphantasie deutscher Herrlichkeit. Für wieder andere - und dies waren sehr viele - stellte der Versailler Vertrag als das Dokument, welches den Krieg offiziell beendete, einen (weiteren) Schock dar, schien er ihnen mit Kriegsschuldklausel und Reparationsverpflichtungen eine neue deutsche Unterlegenheit, sowohl auf moralischem als auch auf politischem und ökonomischem Gebiet zu zementieren. Hinzu kamen der Schock über Gebietsverluste, der Schock des untergegangenen Kaiserreichs, die ökonomischen Schocks, vor allem die Inflation, wie sie die ersten Jahre nach Kriegsende kennzeichneten, die roten Schocks der Räterepubliken insbesondere in München und viele weitere Schocks. Wie man die deutschen Verhältnisse zum Ersten Weltkrieg auch dreht und wendet, überall der Schock. Für fast jeden war einer dabei - oder auch mehrere. Die Schocks selbst konnten zwar durch unterschiedliche Anlässe bedingt sein, doch im Erlebnis eines Schocks war ein gemeinsamer Nenner gegeben. Konzeptionell genauer fassen möchte ich das kollektive Schockerlebnis, wie der Große Krieg es brachte, mit dem Begriff Kontingenz. ?Kontingenz? geht auf das lateinische 'contingentia' zurück, was sowohl ?Möglichkeit? aber auch und vor allem ?Zufall? bedeuten kann. In politischer Hinsicht zeigt der Begriff an, dass etwas, das auf eine gewisse Weise besteht, nicht notwendigerweise so bestehen muss, sondern auch anders möglich wäre. Kontingenz ist also in erster Linie ein negativer Begriff: Auf politische Inhalte angewendet, widerspricht er der Auffassung, dass irgendetwas in der sozialen Welt auf eine bestimmte Weise sein beziehungsweise sich auf eine bestimmte Weise entwickeln muss; es gibt keine feste Ordnung der Dinge, keine Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens, keine determinierte Geschichte etc. In diesem negierenden Sinne führte der Erste Weltkrieg den Zeitgenossen vor Augen, dass - wahlweise - weder die bürgerliche Sekurität, die Einheit Europas, die deutsche Allmacht, der Sieg, noch ein gnädiger Friedensschluss, etc. notwendig waren. Ja, nicht einmal auf bereits vorgenommene Schätzungen über das Ausmaß einer möglichen europäischen Katastrophe konnte man sich verlassen. Der Erste Weltkrieg strich alles durch. Er negierte, was zuvor notwendig und sicher erschien. Er führte vor Augen, dass (fast) alles in der sozialen Welt kontingent ist. Und denjenigen, die das schon vorher gewusst hatten, zeigte er, dass alles noch viel extremer ist als geahnt, demonstrierte er in dem Leid, das er brachte, doch auch, dass die Fallhöhe mit den Fortschritten, welche die beiden vorhergehenden Jahrhunderte vor allem in ökonomischer, aber auch, so zumindest dachten die meisten, in zivilisatorischer Hinsicht gebracht hatten, schwindelerregend hoch geworden war. Nun könnte man meinen, dass dieser Kontingenzschock ein gutes Vorzeichen für die Weimarer Republik als den demokratischen Staat abgab, der in Deutschland auf den Ersten Weltkrieg folgte. Immerhin kann es in theoretischer Hinsicht als gut abgesichert gelten, dass sich Kontingenz und Demokratie symbiotisch zueinander verhalten. Die Demokratie braucht die Kontingenz, insbesondere die Kontingenz der Geschichte, weil es, wenn alles Gesellschaftliche determiniert wäre, nicht sinnvoll sein würde, Ziele gemeinsam aushandeln zu wollen. Ohne Kontingenz wäre es zweckmäßiger, eine Kaste zu installieren, die autoritär herrscht, weil sie die Notwendigkeiten, wie sie etwa die Geschichte bringt, erkannt hat. Wird, andersherum, die geschichtliche Welt als kontingent akzeptiert, ist es überaus plausibel, dass man, weil die Dinge in einer kontingenten Welt als so- oder auch anders-sein-könnend angesehen werden, sich darüber austauscht und am Ende darüber abstimmt, wie man denn nun gerne hätte, dass die Dinge sind. Hat man, weil die geschichtliche Welt offen und gestaltbar ist, verschiedene politische Ziele zur Auswahl, ist es naheliegend, die Ziele, die man konkret verfolgen will, demokratisch festzulegen. Gleichzeitig besagt das epistemische Argument für die Demokratie, nach dem Freiheitsargument das wichtigste Argument pro Demokratie, dass Demokratien besser als alle anderen politischen Systeme, die bisher erprobt wurden, in der Lage sind, auch die besten Wege zu finden, um gemeinsam definierte gesellschaftliche Ziele umzusetzen. Demokratien sind, so das epistemische Argument, besonders gut darin, gesellschaftliche Probleme anzugehen, die auf irgendeine Weise mit Wissen zu tun haben. Aufgrund der Möglichkeit, seine Meinung frei zu äußern, würden gegebene Probleme auch tatsächlich thematisiert werden können, was Voraussetzung dafür sei, sie auch zu lösen. Weil die jeweils Herrschenden in ihrer Funktion als Herrschende von den Beherrschten abhängen, seien sie auch gewillt, die Probleme der letzteren ernst zu nehmen. Indem Demokratien über einen breiten politischen Diskurs verfügen, könnten viele verschiedene Lösungsvorschläge generiert werden. Da die Demokratie dafür sorgt, dass politische Entscheidungen reversibel sind, ließen sich mehrere Lösungsmöglichkeiten für ein Problem experimentell testen; auch könnten einmal eingeführte Lösungen verbessert oder zurückgewiesen werden. Dank des Mehrheitsmechanismus seien getroffene Entscheidungen in hohem Grade legitim. Usw. Gerade in einer unübersichtlichen Welt, einer Welt, in der die Dinge so, aber auch anders sein können, braucht es die Demokratie wie die Luft zum Atmen. Eine kontingente Geschichte verlangt nach demokratischer Ordnung. Das epistemische Demokratieargument, wie ich es hier um der Kürze willen nur angedeutet habe, gehört zum Standardrepertoire der Verfechter demokratischer Ordnungen. Gerade in Deutschland hatte der Erste Weltkrieg nun wahrlich genug Kontingenz und auch Bewusstsein für diese Kontingenz gebracht. Nur mit der Demokratie wollte es nicht klappen - trotz des doch eigentlich symbiotischen Zusammenhangs zwischen Kontingenz und Demokratie. So fungiert die mangelnde geistige Deckung der Weimarer Republik und ihre damit einhergehende 'unablässige publizistische Diskreditierung' (Mommsen H. 1989/2009: 244) als einer der Hauptgründe, um zu erklären, warum diese erste gesamtdeutsche Republik scheiterte, ja vielleicht sogar von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Die vorliegende Studie hat es sich zum Ziel gesetzt, diesen kausalen Zusammenhang - sprich: ?mangelnde geistige Deckung trug signifikant zu Weimars Scheitern bei? - genauer in Augenschein zu nehmen. Meine Leitthese hierbei lautet, dass es dem politischen Denken in Weimar nicht gelang, die Tatsache angemessen zu konzeptualisieren, dass die Welt kontingent ist, und das heißt, so zu konzeptualisieren, dass der Befund der Kontingenz die Demokratie als politische Ordnung stützt, wie es eingedenk der Symbiose zwischen Kontingenz und Demokratie ja eigentlich sein sollte. Mit dem Begriff der Kontingenz als Hebel lässt sich zeigen, dass Weimar nicht nur dadurch destabilisiert wurde, dass ein Großteil des politischen Denkens der Zeit direkt gegen die Demokratie gerichtet war, nicht nur durch das 'Antidemokratische' (Sontheimer) also, sondern dass auch politisches Denken destabilisierend wirkte, das es sich eigentlich zum Ziel gesetzt hatte, Weimar zu verteidigen. Auch diesen affirmativen Ansätzen gelang es nicht, die Kontingenz als Fakt der modernen Welt so zu konzeptualisieren, dass die real existierende Republik davon profitiert hätte. In diesem Sinne spreche ich von Weimars ?Scheitern an Kontingenz? als dem Kerninteresse der vorliegenden Abhandlung. Zusätzlich zu diesem historischen Sachverhalt möchte die vorliegende Studie aus den Erfahrungen der Weimarer Republik auch Schlüsse für die Demokratie im Allgemeinen ziehen. Auf Basis des symbiotischen Zusammenhangs zwischen Kontingenz und Demokratie und der historischen Feststellung, dass das politische Denken in Weimar daran scheiterte, die Kontingenz der Welt angemessen zu konzeptualisieren, interessiert natürlich insbesondere die Frage, welche Konzeptualisierung von Kontingenz demokratischen Ordnungen förderlich ist, gerade in Zeiten, in denen die Demokratie, wie heute wieder der Fall, unter Rechtfertigungsdruck steht. Die Auseinandersetzung dieses Zusammenhangs wird darin kulminieren, dass ich auf Basis des Scheiterns der Weimarer Modelle ein politisch-philosophisches Modell zum Umgang mit Kontingenz vorstelle, das diese Anforderung erfüllen soll, ein Modell, das in Weimar aber eben nicht oder allenfalls kaum, jedenfalls nicht prominent vertreten wurde. Doch bevor ich erarbeite, was sich aus meiner Studie einerseits an neuen Erkenntnissen über Sein und Wirkung des politischen Denkens in Weimar und andererseits an Lehren für die Demokratie im Allgemeinen ergibt, expliziere ich im Folgenden fünf paradigmatische Haltungen zu Kontingenz, wie sie das politische Denken Weimars kennzeichnen, ja vielleicht sogar - aber wie wäre das exakt festzustellen? - repräsentieren. Dies liefert das Material, das notwendig ist, um weitergehende - sowohl historische als auch demokratietheoretische - Erkenntnisse abzuleiten.