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Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9

Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9

Inger Gammelgaard Madsen

 

Verlag Saga Egmont, 2018

ISBN 9788711650127 , 380 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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12,99 EUR

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Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9


 

1


Der Staub kitzelte irritierend in seiner Nase. Er nieste. Ein Bild in dem Pappkarton, den er gerade geöffnet hatte, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er hob es hoch. Es waren Tante Giovanna und Salvatore, fotografiert mit den blaugrauen Kegeln des Vesuvs vor einem leicht bewölkten Himmel und dem ruhigen, blauen Tyrrhenischen Meer im Hintergrund. Sie saßen auf der Mauer am Meer an der Via Nazario Mauro in Neapel unter einer dieser hübschen, alten, dreiflammigen Straßenlaternen, die er liebte. Rolands Mund wurde trocken. Aber nicht aufgrund der nostalgischen Gefühle wegen der Laternen. Wer hatte seinerzeit dieses Foto gemacht? Salvatore musste darauf dreizehn Jahre alt sein, zwei Jahre, bevor er ermordet wurde. Warum lag es eigentlich hier? Es sollte aufgestellt sein. Oben im Wohnzimmer. Er starrte lange darauf. Spürte den Druck im Brustkorb und wie sein Atem schneller ging. Dann wickelte er es wieder in eine von 2009 datierte Zeitungsseite und legte es vorsichtig zurück in die Kiste, wobei ihm einfiel, warum es nicht aufgestellt war. Damit sie nicht jeden Tag an Salvatores Schicksal erinnert wurden.

„Es ist ja nur für eine Weile“, sagte Rikke hinter ihm wie eine Fortsetzung der gedämpften Unterhaltung, die sie geführt hatten, bevor sie mit einem Stapel gefüllter Pappkartons die Treppe hoch verschwand. Roland, der immer noch in die Erinnerungen an Salvatore vertieft war und nicht gehört hatte, dass sie zurückgekommen war, zuckte zusammen. Rikke nahm einen weiteren Pappkarton, um ihn nach oben auf den Anhänger zu schleppen, der zur Mülldeponie gefahren werden sollte. Irene war oben in der Küche. Sie bereite zusammen mit Marianna das Pfingstessen vor. Ab und zu hörte er seine Enkelin lachen; das Geräusch erhellte ein bisschen die düstere Stimmung, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Sie würden draußen im Garten sitzen. Das Wetter war gut. Viel zu gut, um hier unten in einem dunklen, staubigen Keller zu stehen.

„Den Karton hier darfst du nicht wegschmeißen“, sagte er heiser und schob ihn mit dem Fuß in eine Ecke, weg von den anderen Kisten.

„Mama hat ein riesengroßes Herz, dafür lieben wir sie doch, stimmt’s? Wovor hast du Angst?“, fuhr seine Tochter fort.

„Ich habe keine Angst, Rikke. Aber wir wissen ja nicht, wer die sind.

„Sie sind Menschen in Not, Papa. Und sie haben keinen Platz zum Wohnen!“

Rikke drehte ihm mit einem neuen Stapel Kartons im Arm den Rücken zu und ging damit die Kellertreppe hoch.

Roland antwortete nicht. Wie Irene ihn dazu hatte überreden können, verstand er immer noch nicht, aber ihren Argumenten konnte man selten etwas entgegenhalten. Und sie war aufgeblüht, seit sie als Freiwillige für die Dänische Flüchtlingshilfe arbeitete. Und natürlich hatte sie recht. In nächster Zeit würden viel mehr Flüchtlinge nach Aarhus kommen als angenommen, und die Gemeinde hatte es schwer, Platz zu finden. Es ist unsere Pflicht zu helfen, sagte Irene. Aber ganz Europa hatte Probleme, Platz zu finden. Roland putzte sich die Nase und schaute sich um. Sie wurden des Chaos allmählich Herr. Die Zimmer der Mädchen, die seit ihrem Auszug vor langer Zeit ungenutzt waren, waren instand gesetzt worden und nun, da der Keller aufgeräumt und geputzt war, konnte man hier mehrere Betten aufstellen. Nur übergangsweise. Darauf musste er Irene festnageln. Nur, bis die Gemeinde geeignete Unterkünfte für sie gefunden hatte.

Er hörte das Poltern auf der Treppe und schaute auf.

„Ich habe den Staubsauger dabei. Sind wir dann nicht auch bald fertig?“, meinte Rikke und steckte den Stecker rein. Der Apparat röhrte, sodass man schreien musste, um ihn zu übertönen.

„Doch! Ist Tim schon da?“

„Ja, er deckt zusammen mit Marianna den Tisch!“, rief sie und er musste vor der Düse des Staubsaugers flüchten, die vor und zurück um seine Füße herum fuhr.

„Wollte er nicht den Anhänger zur Deponie fahren?“ „Ja, das macht er nach dem Essen!“

Roland verließ den Lärm im Keller und eilte die Treppe hinauf. Angolo stand oben bereit und wedelte mit dem Schwanz. Er hatte kläglich gewinselt, als Roland morgens die Stufen hinuntergegangen war. Der Schäferhund konnte nach der Schulteroperation vor ein paar Jahren keine Treppen mehr laufen. Der Tierarzt hatte prognostiziert, der Hund würde nie wieder normal gehen können. Er humpelte mit Irene um die Wette. Sie teilten das gleiche Schicksal. Roland griff mit beiden Händen in das dicke Fell um den Hals des Hundes und schüttelte es liebevoll, während er ihn gedämpft zum Spielen aufforderte; dann erstarrte er, als er durch die offene Terrassentür die Stimmen im Garten hörte. Dagnys gurrende Stimme tat ihm in den Ohren weh und Carl Ernsts beständiger Tabakhusten folgte. Der Truthahn und die Krähe, wie Roland seine Schwiegereltern gerne nannte. Natürlich nur, wenn niemand es hörte. Der voluminöse Körper seiner Schwiegermutter mit vorgewölbter Brustpartie und zitterndem, fettem Truthahnhals und die magere, zusammengesunkene, verschreckte Erscheinung seines Schwiegervaters und sein Gesicht mit den schmalen, eingefallenen Wangen samt des schnarrenden Hustens hatten diese Assoziationen hervorgerufen. Wie diese Kombination einen Schwan, wie er Irene bezeichnete, hatte hervorbringen können, darüber hatte er sich oft gewundert. Selbstverständlich hielten sie sich über Pfingsten bei dem schönen Wetter in ihrem Zelt auf dem Blommehaven Campingplatz beim Adlerhorst auf. Angolo legte die Ohren an und zog sich ein wenig von den Geräuschen zurück. Roland nickte verständnisvoll und ließ den Hund los. Es war verblüffend, wie Tiere sich erinnerten. Angolo verduftete in der Regel, sobald er ihr Auto hörte. Wie Roland es am liebsten auch tun würde. Dagny hatte dem Hund mal unter dem Tisch mit einem spitzen Schuh einen Tritt versetzt, als sie dachte, niemand würde es bemerken. Damals war Angolo ein Welpe und hatte noch nicht gelernt, in seinem Körbchen zu bleiben, wenn Gäste zum Essen kamen. Es war spannender, unterm Tisch zu liegen und zu sehen, ob ein Leckerbissen runterfiel, und das tat er in der Regel bei Dagnys Stuhl. Sie machte auch kein Geheimnis daraus, dass sie Hunde nicht ausstehen konnte. Überhaupt hielt sie mit ihrer Meinung selten hinterm Berg. Eine Eigenschaft, die Roland normalerweise für lobenswert hielt, aber nicht bei Dagny. Ihre Ansichten ließen ihn in der Regel die Kontrolle über sein Temperament verlieren. Irene warf ihm vor, er wolle die Äußerungen ihrer Mutter als provokant auffassen, egal, was sie sagte, und dass es deswegen immer so schiefginge. Nur um Irenes willen hatte er daher angefangen die Zähne zusammenzubeißen und zu versuchen, die Wut und die Sticheleien zu ignorieren, die die Schwiegermutter ihm entgegengackerte. Und es war nicht nur, weil er sie falsch verstand.

„Ich wusste nicht, dass sie kommen wollten“, flüsterte Irene beinahe entschuldigend, als er sich neben sie stellte und die Hände in der Spüle wusch. Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah die Familie im Garten. Marianna war dabei, Gläser auf den Tisch zu stellen, und Tim unterhielt sich mit Carl Ernst, der nicht überraschend Rolands Stammplatz gewählt hatte und völlig desinteressiert an Tims Redeschwall weiter oben etwas betrachtete. Das Dach natürlich. Die Villa war ursprünglich Irenes Elternhaus gewesen, das sie den Schwiegereltern abgekauft hatten, da sie in etwas Kleineres in der Stadt ziehen wollten. Der Schwiegervater hatte Roland immer kritisiert, er vernachlässige das Dach. Sie hatten auch geplant, es instand zu setzen, aber dann war das mit Irene passiert, was den Großteil der Ersparnisse aufgebraucht hatte - oder besser gesagt: alle. Von diesem Teil von Irenes Operation wussten Dagny und Carl Ernst nichts, sie waren sich trotz allem einig gewesen, es zu verschweigen, obwohl Irene ihren Eltern normalerweise alles anvertraute. Seiner Meinung nach viel zu viel. Dagny lief umher und betrachtete die Bepflanzung. Viele der Bäume und Büsche hatte sie selbst ausgewählt und gepflanzt, damals, als die Villa ihnen gehörte, und die Inspektion lief ganz sicher darauf hinaus, sich zu vergewissern, dass sie korrekt gehegt und beschnitten wurden. Zweifelsohne waren weitere Vorwürfe im Anzug.

„Jetzt mach nicht so ein Gesicht - und lass das Brummen“, flüsterte Irene weiter mit einem kleinen, tadelnden Lächeln.

„Was für ein Gesicht?“, fragte er und trocknete, ohne den Blick von den Geschehnissen im Garten abzuwenden, die Hände am Geschirrtuch, das am Griff der obersten Schublade hing.

„Du bist schon bereit, in die Offensive zu gehen, das kann ich dir ansehen, und du knurrst wie ein Löwe, der eine Beute ausgewählt hat.“

„Quatsch!“ Roland lächelte überzeugend und küsste sie auf die Wange. „Soll ich was mit rausnehmen?“

„Den Schnaps. Das wird Papa freuen“, sagte sie und blinzelte ihm neckend zu.

Es zog nur ein bisschen in dem einen Bein, wenn sie ging. Er bemerkte, dass sie sich schmerzlich bemühte, damit nicht zu viele Fragen zu ihrem Gesundheitszustand kamen. Die Krücken waren nicht an ihrem üblichen Platz in der Ecke, sondern sicher im Flurschrank versteckt. Irene hasste es, über ihre Behinderung zu sprechen. Aber er verstand sie gut und der Drang, sich neben Angolo im Korb in der Wohnzimmerecke zusammenzukauern, war beinahe unwiderstehlich. Die Schwiegereltern hatten ihm nie verziehen, dass er Irene an jenem Abend allein gelassen hatte. Sie wussten offensichtlich nicht, dass er selbst es sich auch nicht verziehen hatte.

Die Schnapsflasche war eiskalt, aber es fühlte sich an den Fingern wie eine Verbrennung an, als er sie nach einem tiefen Atemzug raus in den Garten trug, zusammen mit dem Currysalat, den Irene vergessen hatte mitzunehmen. Es gelang ihm,...