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Reformislam - Der Kampf für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte

Reformislam - Der Kampf für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte

Katajun Amirpur

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2019

ISBN 9783406736896 , 257 Seiten

3. Auflage

Format PDF, ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR

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Reformislam - Der Kampf für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte


 

2   Islamische Reformer heute


Post-Islamismus


Gerade gegen diesen Zwang jedoch wenden sich heutige iranische Reformdenker wie der Mullah Mohsen Kadivar (geb. 1959) und erklären, der Mensch könne nicht in Ketten ins Paradies geschleppt werden. Denker wie er weisen Khomeinis Islamverständnis zurück und versuchen stattdessen, die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie zu begründen.

Kadivars Hauptthese, die ihn als post-islamistischen Intellektuellen klassifiziert, kann man folgendermaßen zusammenfassen: Die Menschen erwarten zwar, dass ihnen die Religion Prinzipien und Werte an die Hand gibt, aber die praktischen Angelegenheiten gehören eher in den Bereich der sogenannten menschlichen Erfahrungen, eine Formulierung, die ein Code sein dürfte für säkulare Normen.

In seinen Schriften beschäftigt sich Kadivar zum Beispiel mit der Frage der Religionsfreiheit. Bei einem Vortrag, den er im Jahr 2001 beim International Congress of Human Rights and the Dialogue of Civilizations in Teheran hielt, kritisierte er das Regime folgendermaßen:

Obschon die gemeinhin wahrgenommene Interpretation des Islams in vielen Fällen nicht die Ideen der Religions- und der Glaubensfreiheit widerspiegelt, existiert eine andere Interpretation des Islams, die auf den ursprünglichen Quellen des Islams basiert und die in Einklang ist mit der Freiheit der Religion und des Glaubens, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt worden ist. (Kadivar 2006, 142)

Die nicht-kompatible Islamdeutung nennt Kadivar traditionellen Islam, die kompatible ist dagegen der Reformislam, der, wie es im Persischen heißt, neugedachte Islam, eslam-e nouandish. Kadivar schreibt:

Wir kommen also zu dem Schluss: Traditioneller Islam und Demokratie sind […] nicht vereinbar, während neugedachter Islam und Demokratie […] vereinbar sind. (Kadivar 2009, 79)

Es war der Ansehensverlust, den der Islam durch den real existierenden Islamismus in der iranischen Theokratie erlitten hatte, der viele iranische Reformdenker dazu brachte, Widerstand zu leisten. Der Geistliche Mohammad M. Shabestari (geb. 1936) beispielsweise legte aus Protest sogar seinen Turban ab und erklärte: «Mir passt in dieser Islamischen Republik kein Turban mehr.» Shabestari sagt pointiert:

Die richtige Frage ist nicht: Sind Islam und Demokratie vereinbar oder nicht? Die Frage ist: Sind die Muslime heute bereit, diese Vereinbarkeit entstehen zu lassen? (Dernbach 2007)

Und weiter:

Das Christentum hat sich gewandelt, das Judentum auch. Warum dürfen die Muslime ihre Religion nicht reformieren? (Dernbach 2007)

Shabestari hat die Wissenschaft der Hermeneutik in Iran eingeführt und im iranischen Diskurs über die Religion hermeneutische Prinzipien etabliert: Jeder Lesende hat ein Vorverständnis und ein Erkenntnisinteresse, das für das Verstehen des Texts ausschlaggebend ist. Wer den Koran im Sinne der Demokratie deuten will, kann es also auch. Und er tut dem Text damit nicht mehr Gewalt an als der, der aus ihm eine Theokratie als Gottes Idealvorstellung herausliest oder die Notwendigkeit, die rigiden Vergeltungsmaßnahmen des islamischen Strafrechts anzuwenden.

Auch der iranische Geistliche Hasan Yusefi Eshkevari etwa (geb. 1950) betont den Kontext bei seiner Koraninterpretation. Ein Beispiel: «Kämpft gegen sie, bis keine Versuchung mehr besteht und die Verehrung Gott gilt!», heißt es im Koran (Sure 2:193). Die Sure klingt kämpferisch und könnte so verstanden werden, als hätten die Muslime auf immer und ewig die Pflicht, gegen die Ungläubigen zu kämpfen und alle zum Islam zu bekehren. Eshkevari argumentiert hingegen, dass sich diese Sure ausschließlich auf ein bestimmtes historisches Ereignis bezieht, nämlich auf die Schlacht von al-Hudaybiya. Im Jahr 630 brach der Prophet Muhammad einen Waffenstillstand, den er zwei Jahre zuvor geschlossen hatte, und marschierte in Mekka ein. Laut Eshkevari geht es in der Sure nur um diese konkrete politische Situation: Die heidnischen Mekkaner sollten bekämpft werden, weil sie sich zuvor an der Gemeinde des Propheten versündigt hatten. Sie hatten seine Anhänger vertrieben und ihn selbst töten wollen. Deshalb bedeute die Sure also nicht, dass bis in unsere Zeit hinein alle Menschen bekämpft werden sollten, bis sie den einen Gott verehren.

Eshkevari wendet eine Methode an, die die Koranwissenschaft bereits seit Jahrhunderten kennt. Ein Zweig der Koranwissenschaft beschäftigt sich nämlich mit den sogenannten «Gründen für die Offenbarung» (asbab an-nuzul). Auch die damaligen Gelehrten gingen also von einer dialektischen Beziehung zwischen Text und Adressat aus. Allein die Tatsache, dass es diese Wissenschaft schon so lange gibt, zeigt, wie widersinnig das Argument vieler Islamisten ist, jede Aussage des Korans müsse wörtlich genommen werden und sei allzeit gültig.

Der Koran ist eine Schrift, die zwischen zwei Buchdeckeln versteckt ist. Er spricht nicht. Es bedarf eines Übersetzers, und wahrlich, es sind die Menschen, die ihn zum Sprechen bringen. (Abi Talib 1972, 386)

Mit diesen Worten hat sich ‛Ali, der erste Imam der Schia, im 7. Jahrhundert zur Deutbarkeit des Korans geäußert. Seit Jahrhunderten wird der Koran interpretiert. Das ist durch eine reichhaltige exegetische Literatur und eine Vielzahl von Auslegungsmöglichkeiten belegt. Es gibt mystische, philosophische und rationalistische Korankommentare, deren Aussagen sich stark voneinander unterscheiden. Die islamische Kultur hat diese Vielfalt meist als belebend und selbstverständlich, selten als bedrohlich empfunden. Thomas Bauer hat kürzlich in seiner hervorragenden Studie Die Kultur der Ambiguität gezeigt, dass die islamische Welt sich historisch gesehen gerade dadurch auszeichnete, dass sie viele Wahrheiten nebeneinander bestehen lassen konnte. So gab es beispielsweise den Weinpokal und das Weinverbot, die Malerei und das Bilderverbot. Die islamische Kultur, so Bauer, war geprägt durch eine extrem hohe Ambiguitätstoleranz. Man schätzte Pluralität und lebte sie – eine Tatsache, die heutzutage von islamischen Fundamentalisten wie Islamkritikern gleichermaßen negiert wird.

Dass eine allgemeingültige Interpretation festgelegt wird, ist also ein Phänomen der Moderne. Erst in jüngerer Zeit beanspruchen manche Gruppen und Personen ein Monopol auf die einzig gültige Auslegung des Korans. Diese ist dann – und das folgt zwangsläufig aus der Art und Weise ihres Zustandekommens – meist sehr restriktiv.

Islamischer Feminismus


Die Freiheit der Interpretation bietet, neben der nicht zu leugnenden großen Gefahr des Missbrauchs, weitreichende Chancen. So gibt es heute Frauen und Männer, die beispielsweise zu geschlechtergerechten Interpretationen hinsichtlich der Stellung der Frau gelangen. Sie weisen darauf hin, dass es vor allem Männer waren, die den Koran interpretierten. Es liege eben nicht an der Rechtsquelle, dem Koran, dass Frauen in einigen islamischen Gesellschaften nur wenig Rechte hätten, sondern am männlichen Monopol auf die Koranauslegung. Viele Frauen machen Männern deshalb heute dieses Monopol streitig und versuchen, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.

Ziba Mir-Hosseini (geb. 1952) beispielsweise: Als ihr Mann ihr die Scheidung verweigerte, fand sie unfreiwillig das Thema, das sie in den nächsten Jahren nicht nur persönlich, sondern auch wissenschaftlich beschäftigen sollte. Fast fünf Jahre lang stritt sie vor einem iranischen Gericht für ihre Scheidung. Nach geltendem iranischem Gesetz, das sich auf das islamische Recht beruft, ist es für Frauen ohne die Einwilligung ihres Mannes fast unmöglich, sich scheiden zu lassen. Doch nach vielen Jahren hatte Mir-Hosseini schließlich Erfolg. Sie setzte ihre Scheidung durch, indem sie den Richter davon überzeugte, dass es ihr islamisch verbrieftes Recht sei, sich scheiden zu lassen. Ein weiteres Ergebnis ihrer «Feldforschung» in Sachen Scheidung ist neben einigen Aufsätzen über das iranische Scheidungsrecht der Film Divorce Iranian Style (Scheidung auf iranisch), ein bewegendes Dokument zur Situation iranischer Frauen.

In der Auseinandersetzung mit der iranischen Gerichtsbarkeit und im Kontakt mit Frauen, die für das gleiche Ziel kämpften, machte Mir-Hosseini eine ganz grundsätzliche Beobachtung: Viele dieser Frauen hatten, wie sie selbst auch, das Gesetz zu ihrem eigenen Vorteil genutzt, um ihr Ziel zu erreichen. Die Frauen beriefen sich vor Gericht gerade auf das islamische Recht, um ihren Anspruch gegen diejenigen durchzusetzen, die ihnen im Namen des Islams die Scheidung verweigerten. Ziba Mir-Hosseini machte noch eine weitere interessante Entdeckung. Als sie für ihr Buch Islam and Gender eine Reihe von führenden Vertretern der Reformfraktion sowie zahlreiche konservative Geistliche in Iran interviewte, stellte sie fest, dass deren Ansichten in der Frauenfrage nicht notwendigerweise mit ihren anderen politischen Meinungen korrelieren. Mir-Hosseini fand zum Beispiel heraus, dass ein Befürworter der Trennung von Religion und Staat und großer Demokratieverfechter wie ‛Abdolkarim Soroush in Bezug auf Frauenfragen ähnlich konservativ denkt wie Ayatollah Javadi Amoli, der einer der größten Anhänger der iranischen Theokratie ist. Machismo ist also nicht auf...