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Gewalt, Amok und Medien - Erkennen - Vorbeugen - Handeln

Gewalt, Amok und Medien - Erkennen - Vorbeugen - Handeln

Christoph Paulus, Fred Berger, Wilfried Schubarth, Sebastian Wachs

 

Verlag Kohlhammer Verlag, 2019

ISBN 9783170342606 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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26,99 EUR

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Gewalt, Amok und Medien - Erkennen - Vorbeugen - Handeln


 

 

 

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Gewalt, Amok und die Medien


Christoph Paulus


Insbesondere die Medien als Einflussfaktor im Kontext Gewalt stehen immer wieder im Fokus der Aufmerksamkeit, gerade dann, wenn ein besonderes Ereignis wie z. B. ein Amoklauf stattgefunden hat. Gebetsmühlenartig wird dann sofort nach einer Verschärfung des Waffengesetzes und einem Verbot von Gewaltspielen verlangt. Warum eigentlich? Man geht naiverweise davon aus, dass Verbote von Waffenbesitz bzw. von Gewaltspielen Amokläufe verhindern können bzw. dass zumindest Gewaltspiele als Hauptursache für aggressive Handlungen gesehen werden. Beides ist aber falsch. Natürlich muss man feststellen, dass der Zugang zu gewalthaltigen Inhalten insbesondere im Internet gerade für Jugendliche immer leichter wird und dass das aus erziehungswissenschaftlicher Sicht keine wünschenswerte Entwicklung darstellt. Bedenkt man, dass Webseiten wie z. B. 4chan.org lediglich eine »formelle« Altersprüfung verlangen (man muss einfach bestätigen, dass man alt genug ist, den Inhalt – u. a. Videos mit expliziten Tötungs- und Verletzungsinhalten, pornografische Kurzvideos etc. – anzuschauen), dann bedeutet das nicht wirklich einen Jugendschutz, wie er vom Gesetz her vorgesehen ist. Natürlich ergibt sich daraus folgend die Frage, ob es nicht andererseits Sache der Eltern ist, den Medienkonsum ihrer Kinder zu kontrollieren oder den Kindern selbst sog. Medienkompetenz zu vermitteln? Aber gerade in problematischen familiären Kontexten findet man beides kaum, wie dies auch z. B. Uwe Henrichs in seinem Beitrag erwähnt. Die Unterscheidung zwischen Spiel und Realität ist dabei ein sehr wichtiges Argument im Sinne einer Jugendgefährdung.

Dass es einen Zusammenhang (statistisch gesprochen eine »Korrelation«) zwischen häufigem Anschauen oder Spielen von Gewaltmedien gibt, ist unbestritten. Eine Korrelation beschreibt aber nur einen Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Variablen, jedoch nicht eine Wirkrichtung im Sinne von: »Weil jemand Gewaltspiele spielt, wird er aggressiv« (s. dazu Paulus, 2006). Die in vielen Studien nachgewiesenen Effekte zwischen Gewaltspielen und Aggression sind zwar vorhanden, aber nicht sehr hoch; sie liegen im Allgemeinen zwischen 0,14 bis 0,30 (Anderson et al., 2010; Witthöft et al., 2012). Es gibt aber auch Studien, die versuchen, genau diese Wirkungsrichtung experimentell aufzuzeigen. Dazu werden üblicherweise Probanden dazu angehalten, eine kurze Zeit lang gewalthaltige und gewaltfreie Videospiele zu spielen, wobei während des Spiels und/oder anschließend Indikatoren für Aggression (z. B. physiologische Erregung oder Aggressionsbereitschaft) gemessen werden (z. B. Kirsh & Mounts, 2007; Anderson & Dill, 2000; Baldaro et al., 2004; Carnagey, Anderson & Bushman, 2007; Funk, Buchman, Jenks & Bechtoldt, 2003; Giumetti & Markey, 2007). Die hierbei beobachteten Effekte zeigen mehr oder weniger deutliche Anstiege in allen Bereichen: Im sogenannten Wolfenstein-Experiment von Anderson & Dill (2000) spielten 210 College-Studenten (104 Frauen, 106 Männer) entweder das gewalthaltige Spiel Wolfenstein 3D oder das gewaltfreie Rätsel-Abenteuer-Spiel Myst. Nach 15 Minuten Spieldauer wurde die Erregung der Testpersonen mittels eines Fragebogens geprüft. Weitere 15 Minuten später absolvierten die Probanden einen kognitiven Reaktionstest, in dem sie 192 aggressionsgeladene und neutrale Wörter so schnell wie möglich vom Bildschirm ablesen mussten. Die Wörter mit aggressiver Bedeutung wurden von den Wolfenstein-Spielern signifikant schneller erkannt und gelesen; die Wolfenstein-Spieler schlugen im Schnitt 17% heftiger zurück als ihre Myst-Kollegen, und sie ließen sich auch leichter provozieren. Man fand als Fazit heraus, dass Gewaltspiele die kurzfristige Aggressivität im Denken und Verhalten der Testpersonen erhöhen. Fast nie wurden in diesen Studien längerfristige Effekte untersucht. So konnten Frindte & Obwexer (2003) zeigen, dass das kurzfristige Spielen gewalthaltiger Computerspiele nicht linear-kausal zu höheren aggressiven Neigungen führte.

Allen Argumenten, die für einen gefährlichen Einfluss von Gewaltspielen auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen genannt werden, liegt i. d. R. das General Aggression Model (GAM) von Anderson & Bushman (2002) zugrunde, das beschreibt, welchen steigernden Einfluss das wiederholte, andauernde Spielen von Gewaltspielen auf die Persönlichkeit von Menschen haben kann ( Abb. 2.1).

»Die wiederholte langfristige Nutzung gewalthaltiger Bildschirmspiele kann nach dem GAM zur Entwicklung, Festigung und Automatisierung von aggressionsbegünstigenden Wissensstrukturen (Skripten und Schemata) und zu Habitualisierungseffekten führen, die eine Veränderungen in Richtung einer aggressiven Persönlichkeit zur Folge haben. Regelmäßige Nutzer gewalthaltiger Bildschirmspiele können demnach in ihren Einstellungen, Erwartungen und in ihren Verhaltensweisen aggressiver werden.« (Witthöft et al., 2012)

Das GAM stellt also ein Modell dar, in dem beschrieben wird, welche Folgen das wiederholte Nutzen gewalthaltiger Bildschirmspiele auf Überzeugungen, Wahrnehmungs- und Erwartungsschemata sowie aggressive Verhaltensskripte und die Desensibilisierung bzgl. aggressiver Hinweisreize haben kann. Diese Faktoren zusammengenommen

Abb. 2.1: Das General Aggression Model (GAM): Kurz- und Langzeiteffekte von Bildschirmspielen mit hohem Gewaltgehalt (modifiziert nach Anderson & Bushman, 2002)

können nach dem GAM zu einer Zunahme aggressiver Persönlichkeitsmerkmale führen. Hierbei wird oft vergessen, dass das GAM keine unbedingte und zwingende Wirkrichtung vorhersagt, sondern nur von einer Möglichkeit spricht. Dazu wird in den Beschreibungen auch immer nur von einer möglichen Beeinflussung der Persönlichkeit gesprochen (die negativen Folgen »können« auftreten, müssen aber nicht unbedingt), denn wenn dem so wäre, würden ja alle jugendlichen Spieler von Gewaltspielen automatisch und unbedingt zu aggressiven Persönlichkeiten heranwachsen, was aber natürlich nicht der Fall ist. Es muss also Kriterien und Bedingungen geben, die zutreffen müssen, damit eine schädigende Wirkung überhaupt erst zu erwarten ist.

Das GAM geht von andauerndem Gewaltkonsum aus, kurzfristige Erregungssteigerungen beim Spielen sind nicht bedeutsam, diese gibt es auch bei Autorennen oder Fußballspielen (FIFA), wie wir bereits oben beschrieben haben. Es wäre auch naiv anzunehmen, dass eine Änderung der Persönlichkeit allein durch das gelegentliche Spielen eines Spiels, sei es gewalthaltig oder nicht, zustande käme. Dafür ist die menschliche Persönlichkeit viel zu änderungsresistent und normalerweise darauf bedacht, eigene Vorstellungen und Sichtweisen beizubehalten (Konsonanz vs. Dissonanz). Die Autoren des GAM benutzen deshalb auch explizit dem Terminus »repeated violent game playing«. Gentile & Gentile (2008) haben zeigen können, dass nur eine fast tägliche Nutzung von Gewaltspielen im Umfang von mehreren Stunden zu einer Erhöhung der Feindseligkeit führen und insofern körperliche Aggression begünstigen kann. Eine kürze oder seltenere Spieldauer hat dagegen keinen schädlichen Einfluss.

Die Grundlage des GAM liegt in der Theorie von Albert Bandura (1973), nach der beobachtetes Verhalten unter bestimmten Bedingungen durch Imitation, also Nachmachen oder Übernehmen, erlernt werden kann. Dies geschieht nicht automatisch, sondern nur, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: So muss das Modell oder Vorbild, dessen Verhalten übernommen werden soll, für den Zuschauer attraktiv sein und im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, es muss Ähnlichkeit zum Zuschauer besitzen und muss mit seinem Verhalten auch erfolgreich sein. Zudem muss der Zuschauer theoretisch in der Lage sein, das Verhalten auch selbst ausführen zu können. Unter diesen Bedingungen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, beobachtetes Verhalten, wie z. B. Konflikte mit Gewalt zu lösen, zu übernehmen. Hat man dann mit dieser Handlung ebenfalls Erfolg, so wird diese Handlungsstrategie verfestigt und beim nächsten Mal wieder angewandt.

Obwohl viele dieser Bedingungen beim Spielen von Gewaltspielen zutreffen, bedeutet das aber nicht, dass jeder jugendliche Spieler sofort durch das Spielen dauerhaft aggressiver wird, wie eben fälschlicherweise häufig angenommen. Insbesondere der Punkt der Aufmerksamkeit unterscheidet hierbei, ob Gewaltspiele einen schädlichen Einfluss haben können oder nicht. Aggressives Verhalten ist nicht nur als gelerntes Verhalten zu betrachten, sondern die Lerneffekte, die unzweifelhaft bestehen, dürfen nicht ohne angeborene Aspekte der Persönlichkeit betrachtet werden. Eine Sicht auf die reine...