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Georg Simmel zur Einführung

Georg Simmel zur Einführung

Werner Jung

 

Verlag Junius Verlag, 2019

ISBN 9783960600879 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR

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Georg Simmel zur Einführung


 

2. Ein Leben, nach mittleren Maßen gemessen, gerundet und gut abgeschlossen


Über Georg Simmels äußere Biografie ist nur wenig bekannt, und dasjenige, was bekannt ist, schöpft zumeist aus zwei Quellen, Michael Landmanns »Bausteinen zur Biographie« (1958) und Hans Simmels Lebenserinnerungen (1976). Ein anderer Unbekannter, der Schriftsteller Karl Otten, aus dessen Biografie ebenfalls nur Bruchstücke überliefert sind, bemerkte einmal treffend über diesen Sachverhalt, dass die Lücken in seiner Lebensgeschichte »jeder nach Belieben oder Unbehagen selber ausfüllen kann, am einfachsten durch das Lesen meiner Bücher«. Ein beherzigenswerter Vorsatz.

Simmels Vater Edward wurde 1810 in Breslau geboren. Er war Kaufmann und trat irgendwann in den frühen 1830er Jahren vom Judentum zum Katholizismus über. 1838 heiratete er Flora Bodstein aus Breslau, die ebenfalls jüdischer Herkunft war, jedoch schon als Kind evangelisch getauft wurde. Nach der Übersiedlung der Familie nach Berlin gründete der Vater die Schokoladenfabrik »Felix und Sarotti«, ein zunächst florierendes Unternehmen.

Am 1. März 1858 kam Georg Simmel als jüngstes von sieben Geschwistern zur Welt. Bedingt durch den frühen Tod des Vaters 1874 bestimmte die Familie Julius Friedländer zum Vormund, der Simmel in seiner Neigung zur Musik bestärkte und dem Simmel als seinem »väterlichen Freunde« »in Dankbarkeit und Liebe« noch seine Dissertation widmete. Simmel wurde evangelisch getauft, trat jedoch während des Ersten Weltkriegs aus der Kirche aus, was freilich nicht, wie Landmann ergänzt, »eine Rückkehr zum Judentum« bedeutete, »sondern […] lediglich dem Bedürfnis nach weltanschaulicher Ungebundenheit [entsprach]«3.

Auch wenn Simmel selbst Äußerlichkeiten der Biografie keine weitere Bedeutung zugemessen hat, gibt es doch eine entscheidende Erfahrung, die schon das Kind geprägt hat: das pulsierende Leben der Großstadt. Dazu Margarete Susman, die Schülerin und spätere Freundin der Familie: »Nicht nur die Zeit, auch der Ort seiner Geburt im Herzen des damals schon großstädtischen, lebendig quirlenden Berlin, an der Ecke der Leipziger- und Friedrichstraße, war für sein Leben und Denken entscheidend. Vieles in Simmels Problematik scheint sich ursprünglich an dem Anblick gebildet zu haben, der sich alltäglich seinen Kinderaugen bot. Sicher hängt vor allem die einzigartige Lebendigkeit, Bewegtheit und Fülle, das Überwache seines Geistes mit diesem großstädtischen Ursprung zusammen.«4 Kritiker und Bewunderer, Schüler und Gegner haben immer wieder auf dieses prägende Erlebnis der Großstadt hingewiesen, und der englische Soziologe David Frisby hat diese Lebenserfahrung zum Anlass genommen, um Simmel als zentralen Theoretiker der frühen Moderne zu deuten.5 Wir werden darauf zurückkommen.

1890 heiratete Simmel die Tochter eines Eisenbahningenieurs und Ministerialbeamten, Gertrud Kinel, die unter dem Pseudonym Marie Louise Enckendorf später selbst vier »bedeutende Bücher«6 als philosophische Schriftstellerin veröffentlichte. Gertrud Kinel war zwar katholisch getauft, von ihrer Mutter jedoch protestantisch erzogen worden, »was ihr Wesen bis zuletzt prägte«7. Gemeinsam mit ihr hatte Simmel einen Sohn, Hans, der später außerordentlicher Professor der Medizin in Jena wurde und dem wir Lebenserinnerungen verdanken, die einen Eindruck von der Kultur und dem Lebensstil im Hause Simmels vermitteln. Eine uneheliche Tochter hatte Simmel mit seiner Studentin Gertrud Kantorowicz, die eine Zeit lang zum engsten Freundeskreis zählte und die auf Simmels Veranlassung Bergsons Evolution créatrice übersetzte. Doch hat sich Simmel, wie Margarete Susman zu berichten weiß, »da er seine Frau bis zuletzt liebte, nie erlaubt, dies Kind zu sehen«8.

Simmels akademische Laufbahn war – von außen betrachtet – ein einziges Desaster. Nach dem Abitur immatrikulierte er sich an der Berliner Universität zunächst in den Fächern Geschichte und Völkerpsychologie, schließlich in Philosophie. Geschichte studierte er bei Theodor Mommsen, Moritz Lazarus und Heinrich Steinthal, Philosophie bei Eduard Zeller und Friedrich Harms, profitierte aber auch von den Veranstaltungen der »professoribus illustrissimis« Hans Droysen, Heinrich v. Sybel, Heinrich v. Treitschke, Herman Grimm und Heinrich Jordan (vgl. Simmel 1881, 33; GA 1, 40). 1881 wollte Simmel mit einer Arbeit über Psychologisch-ethnologische Studien über die Anfänge der Musik, in der er Aspekte der Darwin’schen Evolutionstheorie mit solchen völkerpsychologischer Theoreme vermittelte, promovieren. Doch die Arbeit wurde abgelehnt. Außer formalen Gründen wie häufigen Rechtschreibfehlern, Ungenauigkeiten der Zitation und Schwächen in der Argumentation mögen sicherlich auch das ungewöhnliche Thema und der dazu gewählte methodische Bezugsrahmen maßgeblich gewesen sein. Die zuständigen Professoren empfahlen Simmel jedenfalls, eine zuvor preisgekrönte Abhandlung, Das Wesen der Materie nach Kaufs Physischer Monadologie, die Simmel anlässlich einer 1880 von Julius Gillis aus St. Petersburg ausgeschriebenen Preisfrage verfasst hatte, einzureichen. Diesmal gelang der Versuch, und nach der mündlichen Prüfung in den Fächern Philosophie, Altitalienisch und Kunstgeschichte schloss Simmel die Promotion mit cum laude ab. Interessant, weil auf einen Grundzug des Simmel’schen Stils verweisend, der ihm später häufig die Schelte der soziologischen und philosophischen Kollegen eingetragen hat, ist Zellers Gutachten über die abgelehnte Studie zu den Anfängen der Musik. Darin heißt es u.a., dass Simmels »ganze Ausführung einen aphoristischeren Charakter« trage, »als dies einer streng wissenschaftlichen Untersuchung erlaubt ist«9.

Ähnliche Schwierigkeiten hatte Simmel auch mit der Habilitation. Zwar akzeptierte die Fakultät noch die Arbeit über Kants Raum- und Zeitlehre, nachdem sich vor allem Dilthey und Zeller dafür stark gemacht hatten – Letzterer mit einem Gutachten, das von Simmels »ernste[m] Streben und eine[r] anerkennenswerthe[n] Fähigkeit« sprach, »in den Kern der philosophischen Fragen einzudringen«10 –, zum Eklat kam es jedoch bei Simmels Antrittsvorlesung. Denn im anschließenden Kolloquium strafte Simmel forsch Zellers Ansicht ab, wonach ein Gehirnlappen der Sitz der Seele des Menschen sei. Daraufhin ließ man ihn zunächst einmal durchfallen. Im Oktober 1884 reichte Simmel drei neue Themen für die zu wiederholende Probevorlesung ein, von denen die Fakultät den Vortrag »Über die Lehre von der Assoziation der Vorstellungen« auswählte. In der öffentlichen Antrittsvorlesung referierte Simmel dann »Über das Verhältnis des ethischen Ideals zu dem logischen und ästhetischen«. Für eine Berufung Simmels zum Professor langte es dennoch nicht. Seinen Berliner Kollegen waren die Person und die behandelten Gegenstände überaus suspekt. Hinzu kamen ein berufsüblicher Neid auf den überragenden Lehrerfolg Simmels – so saßen etwa in Simmels öffentlicher Vorlesung »Über den Pessimismus« vom Wintersemester 1894/95 immerhin 269 eingeschriebene Hörer – sowie Ressentiments gegen seine jüdische Herkunft. Der exzentrische Privatdozent sprach und las über schier alles: über sozial- und völkerpsychologische Themen, soziologische Aspekte der modernen Kultur und Gesellschaft, über logische, ethische und ästhetische sowie geschichtsphilosophische Gegenstände. Die »Grundzüge der Ethik« waren ihm ebenso vertraut wie »Neueste philosophische Theorien, insbesondere in ihren Beziehungen zu den Naturwissenschaften«, die »Probleme der Sozialwissenschaft« geradeso wie die »Hauptlehren der Psychologie«. Und Kant und Schopenhauer zählten zum ständigen Repertoire.

Entlarvend ein Gutachten des Berliner Historikers Schäfer anlässlich eines Bewerbungsverfahrens für eine philosophische Professur in Heidelberg: »Er ›sc. Simmel‹ spricht überaus langsam, tropfenweise und bietet wenig Stoff, aber knapp, abgerundet und fertig. Das wird von gewissen Hörerkreisen, die hier in Berlin zahlreich vertreten sind, geschätzt. Dazu würzt er seine Worte mit Pointen. Seine Hörerschaft setzt sich dementsprechend zusammen. Die Damen bilden ein selbst für Berlin starkes Kontingent. Im übrigen ist die orientalische Welt, die seßhaft gewordene und die allsemesterlich aus den östlichen Ländern zuströmende, überaus stark vertreten. Seine ganze Art ist ihrer Richtung, ihrem Geschmack entsprechend. Allzuviel Positives wird aus den Vorlesungen nicht hinweggenommen; aber mancherlei prickelnde Anregung und vorübergehenden geistigen Genuß läßt man sich gern bieten.« Und schließlich als Resümee: »Ich kann überhaupt nicht glauben, daß man...