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Emotionen in der Therapie - Von der Wissenschaft zur Praxis

Emotionen in der Therapie - Von der Wissenschaft zur Praxis

Stefan G. Hofmann

 

Verlag dgvt Verlag, 2019

ISBN 9783871594281 , 216 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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17,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Emotionen in der Therapie - Von der Wissenschaft zur Praxis


 

Zweites Kapitel


Individuelle Unterschiede


Menschen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Einige sind groß; andere sind klein. Einige sind stark gebaut und kämpfen mit ihrem Gewicht, während andere dünn sind und in der Lage sind, ein ähnliches Gewicht während ihres erwachsenen Lebens zu halten. Menschen unterscheiden sich auch in ihrer Intelligenz, ihrem Temperament und ihrer Persönlichkeit. Sind einige dieser Merkmale mit Emotionen verbunden? Unterscheiden sich Menschen in ihrer emotionalen Reaktion auf die gleiche Situation? Wenn ja, warum ist das so? Gibt es spezifische Strategien, mit denen Menschen ihre Emotionen bewältigen? Sind einige dieser Strategien mit emotionalen Störungen verknüpft?

Dieses Kapitel versucht, Antworten auf diese komplizierten Fragen zu geben. Es werden verschiedene biologische und psychologische Faktoren, die zu diesen individuellen Unterschieden beitragen, diskutiert. Einige Faktoren sind leichter zu beurteilen als andere. (In Anhang I werden am Ende des Buches einige häufig verwendete und kurze Fragebögen zur Selbsteinschätzung bei der Bewertung einiger dieser Differenzvariablen aufgelistet.) Die verschiedenen Faktoren werden am Ende des Kapitels in ein Diathese-Stress-Modell emotionaler Störungen integriert.

Ebenen individueller Unterschiede


Wie in Kapite  1 definiert, ist eine Emotion eine multidimensionale Erfahrung, die durch verschiedene Ebenen der Erregung und Ausprägungen von Freude bis hin zu Unmut geprägt ist (einige Menschen erleben eine größere Erregung und Freude bei den gleichen Reizen als andere), assoziiert wird mit subjektiven Erfahrungen (einige Personen reagieren mit einer qualitativ anderen Art von Affekt auf die gleiche Situation als andere) sowie

somatischen Empfindungen und Motivationstendenzen (verschiedene Individuen haben unterschiedliche Motive), und schließlich auch gefärbt wird durch kontextbezogene und kulturbezogene Faktoren (verschiedene Kulturen prägen affektive Erlebnisse auf eine spezielle Weise). Wie bereits erwähnt, kann eine Emotion bis zu einem gewissen Grad durch intrapersonelle und zwischenmenschliche Prozesse reguliert werden.

Traditionsgemäß konzentrieren sich Emotionsforscher vor allem auf allgemeine Merkmale von Emotionen, die alle Menschen und sogar verschiedene Spezies gemeinsam haben. Andere Forscher haben individuelle Unterschiede in der Erfahrung von Emotionen untersucht (Feldman, 1995a, 1995b; Remington et al., 2000; Terracciano et al., 2003; Watson et al., 1999; Winter & Kuiper, 1997).

Das Erkennen und Verstehen dieser Unterschiede ist bedeutsam, um Befunde aus der Emotionsforschung in die klinische Praxis zu übertragen. In diesem Kapitel wird die Rolle der Umwelt und die Diathese (Anfälligkeit) einer Person für die Entwicklung und Erhaltung von emotionalen Störungen untersucht. Ein zentrales Element des Modells, das hier vorgestellt wird, ist der affektive Stil der Person, der zu einer Dominanz negativer Affekte und einem Mangel an positiven Affekten führen kann, sowie die unangemessenen Strategien zur Bewältigung negativer Affekte, die schließlich zu emotionalen Störungen führen.

Kultureller Hintergrund


Es ist wichtig, den individuellen Hintergrund einer Person in dieser Diskussion zu betrachten. Sexuelle Orientierung, Kultur, sozioökonomischer Status und Bildungsstand, traumatische Erlebnisse, körperliche Behinderungen und noch viele weitere Faktoren bestimmen den individuellen Hintergrund der Person. Es ist unmöglich, eine ausgewogene und eingehende Diskussion all dieser wichtigen Faktoren im Rahmen dieses Buches zu geben. Stattdessen liegt der Fokus nur auf einer dieser Hintergrundfaktoren: dem Einfluss der Kultur auf die Emotionen. Emotionales Wohlbefinden wird stark durch kulturelle Faktoren beeinflusst (Hofstede, 1984). Kultur ist ein wichtiger Faktor, der individuelle Unterschiede in emotionalen Erfahrungen erzeugt. Ein wichtiger Aspekt, in dem sich Kulturen unterscheiden, sind Individualismus und Kollektivismus. Der Kollektivismus beschreibt die Beziehung zwischen Mitgliedern sozialer Organisationen, die die gegenseitige Abhängigkeit ihrer Mitglieder hervorheben. In kollektivistischen Kulturen hat die Harmonie innerhalb der Gruppe die höchste Priorität, und der individuelle Gewinn wird als weniger wichtig angesehen als der Erfolg der Gruppe. Im Gegensatz dazu werden in individualistischen Gesellschaften individuelle Leistungen und Erfolge honoriert und bewundert. Es hat sich gezeigt, dass soziale Kontakte unterschiedlichen Zwecken in individualistischen und kollektivistischen Kulturen dienen (Lucas, Diener, & Grob, 2000). In individualistischen Kulturen bestimmen einzelne Gefühle und Gedanken direkt das Verhalten. In kollektivistischen Kulturen haben soziale Normen und Rollenerwartungen einen erheblichen Einfluss auf das Verhalten. Daher ist in kollektivistischen Gesellschaften das subjektive Wohlbefinden und Glück auch stärker abhängig vom sozialen Kontakt als in individualistischen Gesellschaften. Das Selbstwertgefühl korrelierte stärker mit der Lebenszufriedenheit in individualistischen Kulturen als in kollektivistischen Kulturen (Diener & Diener, 1995). Es gibt auch kulturelle Unterschiede in der Korrelation zwischen Kongruenz (d.h. der Fähigkeit, über Situationen hinweg gleichbleibend und in Übereinstimmung mit sich selbst zu handeln) und Lebenszufriedenheit. In Südkorea zum Beispiel ist Kongruenz viel weniger wichtig als in den Vereinigten Staaten. Darüber hinaus verlassen sich Menschen in kollektivistischen Kulturen öfter auf soziale Normen, um zu entscheiden, ob sie zufrieden sind und berücksichtigen die sozialen Beurteilungen von Familie und Freunden, um ihr Leben zu bewerten (Suh, Diener, Oishi, & Triandis, 1998). Menschen in kollektivistischen Kulturen sind, verglichen mit individualistischen Gesellschaften, eher dazu geneigt, in einer Ehe oder auf einer bestimmten Arbeitsstelle zu bleiben, obwohl sie unglücklich sind, da sie möglicherweise versuchen, sich an soziale Normen anzupassen und in schwierigen Ehen oder Berufen eher Unterstützung von anderen bekommen (Diener, 2000). Menschen unterscheiden sich in ihren kulturellen Hintergründen und ihrer Erziehung, vor allem diejenigen, die in einer multikulturellen Gesellschaft wie den Vereinigten Staaten leben. Trotz der Unterschiede in den Kulturen (sowie in vielen anderen Faktoren) gibt es eine Reihe gemeinsamer Einflüsse, die die individuellen Unterschiede in den emotionalen Erfahrungen erzeugen. Dazu gehören psychologische und biologische Schwachstellen, die unter dem Begriff der Diathese zusammengefasst werden.

Diathese


Temperament


Eine bestimmender Faktor für individuelle Unterschiede in der Emotionsregulation ist das Temperament, das sich auf den allgemeinen Charakter oder die Charakterzüge einer Person bezieht. Das am häufigsten untersuchte Temperament ist Schüchternheit. Langzeitstudien bei Kindern haben gezeigt, dass die Reaktionen auf eine neuartige Situation oder sozialen Stress über die Jahre hinweg bemerkenswert konstant sind und sich, beginnend im Kleinkindalter, bis ins Erwachsenenalter hinweg fortsetzen (für eine Übersicht siehe Kagan & Snidman, 2004). Darüber hinaus zeigten Erwachsene, die bereits in ihrem zweiten Lebensjahr als schüchtern eingestuft wurden, eine höhere Aktivierung der Amygdala (Gehirnstruktur, die bei Angst aktiv ist) beim Betrachten neuer Gesichter im Vergleich zu bekannten Gesichtern, als Personen, die nicht als schüchtern eingestuft wurden (Schwartz, Wright, Shin, Kagan, & Rauch, 2003).

Diese Ergebnisse zeigen, dass einige temperamentbedingte Aspekte stark von genetischen Faktoren bedingt werden und über die gesamte Lebensdauer hinweg bemerkenswert konstant bleiben. Diese Ergebnisse sind auch im Einklang mit der Vorstellung, dass Menschen, die nicht übermäßig schüchtern sind, besser in der Lage sind, ihre hedonische Stimmung in eine positive Richtung zu modulieren, als schüchterne Menschen.

Emotionale Granularität


Individuelle Unterschiede bestehen bereits auf der Affektebene. Um individuelle Unterschiede auf der Valenz-Erregungs-Skala des Zirkumplexmodells zu berücksichtigen, führten Feldman und Barrett das emotionale Granularitäts-konzept ein (Barrett, 2004; Feldman, 1995a, 1995b). Emotionale Granularität bezieht sich auf die Fähigkeit, zwischen emotionalen Zuständen zu unterscheiden und zeigt sich in dem Prozess, in dem Informationen über Wertigkeit und Erregung in die Repräsentation von Emotionen einbezogen werden (Barrett, 2004). Individuen mit hohem Granularitätsgrad repräsentieren ihre emotionalen Zustände mit hoher Spezifität (z.B. ist die Person dann in der Lage, zwischen ähnlichen emotionalen Zuständen, wie Wut und Ärger, zu unterscheiden), während Individuen mit einer geringen Granularität ihre emotionalen Zustände globaler repräsentieren (z.B. werden dann alle negativ geschätzten emotionalen Zustände als „schlechtes Gefühl“ repräsentiert). Die emotionale Granularität kann fokussiert sein auf die Erregung, auf die Valenz oder sogar auf beides. Der Fokus auf den Grad der Erregung bezieht sich auf die Menge der Informationen über Erregung oder Intensität (Aktivierung vs. Deaktivierung), die in der Repräsentation einer Emotion enthalten ist, während sich der Fokus auf die Valenz auf den Grad bezieht, in dem Informationen über die Valenz (unangenehm vs. angenehm) in der Repräsentation von Emotionen enthalten sind. Personen, die sowohl auf Erregung als auch auf Valenz stark fokussiert sind, integrieren Informationen über beide Dimensionen in ihre Aussagen über Emotionen. Solche Individuen sind besser als andere in der Lage, zwischen emotionalen...