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Tiamats Zorn - Roman

Tiamats Zorn - Roman

James Corey

 

Verlag Heyne, 2020

ISBN 9783641224899 , 608 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Tiamats Zorn - Roman


 

PROLOG    Holden


Chrisjen Avasarala war tot. Sie war vor vier Monaten auf Luna im Schlaf gestorben. Ein langes, gesundes Leben, am Ende eine kurze Krankheit, und sie ließ die Menschheit verändert zurück. Die Newsfeeds schickten die im Voraus produzierten Nachrufe und biografischen Dokumentationen zu den dreizehnhundert Welten hinaus, welche die Menschheit geerbt hatte. Die Laufbänder und Schlagzeilen waren übertrieben: Die letzte Königin der Erde, Tod einer Tyrannin oder Avasaralas letztes Lebewohl.

Ganz egal, was sie besagten, es traf Holden schwer. Ein Universum, das sich nicht mehr dem Willen der kleinen alten Frau beugte, vermochte er sich kaum vorzustellen. Auch als in Laconia die Bestätigung einging, dass die Berichte der Wahrheit entsprachen, hielt Holden eisern an der Überzeugung fest, sie sei noch irgendwo da draußen, gereizt und ordinär wie eh und je, und unternehme schier übermenschliche Anstrengungen, um den Lauf der Dinge ein wenig zu verändern und die schlimmsten Gräueltaten zu verhindern. Nachdem er die Nachricht gehört hatte, verging fast ein Monat, bis er sich überwinden konnte, es als wahr zu akzeptieren. Chrisjen Avasarala war tot.

Aber das hieß noch lange nicht, dass sie mit der Welt fertig war.

Ursprünglich war auf der Erde ein Staatsbegräbnis geplant, doch dann schaltete sich Duarte ein. In ihrer Amtszeit als UN-Generalsekretärin hatte Avasarala eine kritische Phase der Geschichte erlebt, und ihr Dienst nicht nur für ihre Heimatwelt, sondern für die ganze Menschheit hatte ihr einen Ehrenplatz gesichert. Der Hochkonsul Laconias hielt es für recht und billig, dass sie den letzten Ruheplatz im Herzen des neuen Reichs finden sollte. Die Beisetzung sollte daher im Staatshaus stattfinden. Man würde ihr ein Denkmal errichten, damit man sie nie vergaß.

Über Duartes Anteil an dem umfassenden Gemetzel auf der Erde, das Avasaralas Amtszeit so sehr geprägt hatte, ging man stillschweigend hinweg. Die Geschichte wurde von den Siegern geschrieben. Holden war ziemlich sicher, dass sich alle noch gut daran erinnern konnten, wie sie und Duarte auf verschiedenen Seiten gekämpft hatten. Er selbst hatte es jedenfalls nicht vergessen.

Das Mausoleum – ihr Mausoleum, da es bisher noch niemanden von hinlänglicher Bedeutung gab, der es mit ihr teilen konnte – bestand aus weißem Stein, den man mit Mikropolitur blitzblank geschliffen hatte. Inzwischen war die große Doppeltür geschlossen, die Feier war vorbei. An der Nordwand des Gebäudes prangte Avasaralas Antlitz. Es war zusammen mit den Lebensdaten und ein paar Gedichtzeilen, die er nicht kannte, in den Stein geätzt. Die Hunderte Stühle vor dem Podium, von dem aus der Priester gesprochen hatte, waren nur noch zur Hälfte besetzt. Die Gäste waren aus dem ganzen Reich angereist und versammelten sich nun, da sie hier waren, mit anderen, die sie kannten, in kleinen Gruppen. Das Gras rings um die Gruft entsprach nicht dem auf der Erde, besetzte aber die gleiche ökologische Nische und hatte ähnliche Eigenschaften, sodass man es als Gras bezeichnen durfte. Ein warmer, angenehmer Wind wehte. Mit dem Palast im Rücken konnte Holden sich beinahe einreden, er dürfte jederzeit in die Wildnis jenseits des Gebäudes spazieren und gehen, wohin auch immer er wollte.

Er trug das militärisch geschnittene laconische Blau, verziert mit den gespreizten Schwingen, die Duarte als Symbol für sein Imperium ausgewählt hatte. Der Kragen war hoch und steif und kratzte am Hals. Die Stelle, wo Holden die Rangabzeichen hätte tragen sollen, war leer. Diese Leere war anscheinend das Kennzeichen eines privilegierten Gefangenen.

»Gehen Sie zum Empfang, Sir?«, fragte ein Wächter.

Holden fragte sich, wie genau die Eskalationsstufen aussehen würden, wenn er ablehnte, weil er doch ein freier Mann sei und die Gastfreundschaft des Palasts jederzeit ausschlagen könne. Jedenfalls war er sich ziemlich sicher, dass man die betreffenden Verfahren gründlich erprobt hatte. Vermutlich würde er es nicht genießen.

»Gleich«, antwortete Holden. »Ich will nur noch …« Er deutete in die Richtung des Grabmals, als sei die Unausweichlichkeit des Todes eine Art universelle Berechtigungskarte. Eine Erinnerung, dass alle menschlichen Regeln vergänglich waren.

»Selbstverständlich, Sir«, antwortete der Wächter und zog sich in die Menge zurück. Trotzdem hatte Holden nicht das Gefühl, frei zu sein. Unaufdringlich eingesperrt war das Beste, worauf er überhaupt hoffen konnte.

Etwas abseits stand eine Frau vor dem Mausoleum und betrachtete Avasaralas Abbild. Ihr Sari war strahlend blau, nahe genug an der laconischen Farbe, um als höflich zu gelten, und weit genug davon entfernt, um zu verdeutlichen, dass die Höflichkeit nicht aufrichtig war. Selbst wenn sie nicht wie ihre Großmutter ausgesehen hätte, wäre sie dank des gar nicht so subtilen »Ihr könnt mich mal« deutlich zu erkennen gewesen. Holden schlenderte hinüber.

Sie war dunkler als Avasarala, doch die Form der Augen, mit denen sie ihn ansah, und das schmale Lächeln kamen ihm bekannt vor.

»Mein Beileid«, sagte Holden.

»Danke.«

»Wir kennen uns noch nicht, ich bin …«

»James Holden«, unterbrach ihn die Frau. »Ich weiß, wer Sie sind. Nani hat manchmal von Ihnen gesprochen.«

»Ah, das war sicher interessant. Sie hat die Dinge mitunter anders gesehen als ich.«

»Ja, das hat sie wohl. Ich bin Kajri. Sie hat mich Kiki genannt.«

»Sie war eine erstaunliche Frau.«

Zwei Atemzüge lang schwiegen sie. Kajris Sari flatterte im Wind wie eine Fahne. Holden wollte sich schon entfernen, da sprach sie weiter.

»Das hier hätte ihr nicht gefallen«, fuhr sie fort. »Ins Lager ihrer Feinde geschleppt, wo sie jetzt gefeiert wird, ohne ihnen in die Eier treten zu können. Vereinnahmt, sobald sie sich nicht mehr wehren konnte. Sie rotiert jetzt sicher so schnell im Grab, dass man mit dem Strom einen ganzen Planeten versorgen könnte, wenn man eine Turbine anschließt.«

Holden gab einen kleinen Laut von sich, der nach Zustimmung klang.

Kajri zuckte mit den Achseln. »Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hielte sie es auch für witzig. Bei ihr war ich nie ganz sicher.«

»Ich habe ihr viel zu verdanken«, sagte Holden. »Das war mir nicht immer sofort klar, aber sie hat getan, was sie konnte, um mir zu helfen. Leider habe ich keine Gelegenheit bekommen, mich bei ihr zu bedanken. Oder … vielleicht doch, aber ich habe sie nicht ergriffen. Wenn es irgendetwas gibt, das ich für Sie und Ihre Familie tun kann …«

»Kapitän Holden, ich glaube, Sie sind nicht in der Lage, irgendjemandem einen Gefallen zu tun.«

Holden blickte zum Palast. »Ja, es ging mir schon besser. Aber ich wollte es trotzdem sagen.«

»Ich weiß die Geste zu schätzen«, erwiderte Kajri. »Und nach allem, was ich gehört habe, genießen Sie inzwischen doch ein wenig Einfluss. Der Gefangene, dem der Imperator Gehör schenkt.«

»Davon wusste ich noch gar nichts. Ich rede viel, aber mir ist nicht klar, ob überhaupt jemand zuhört. Abgesehen von den Wächtern. Die bekommen vermutlich alles mit.«

Sie kicherte, es klang wärmer und mitfühlender, als er es erwartet hätte. »Es ist nicht leicht, wenn man keinerlei Privatsphäre hat. Ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass alles, was ich sagte, aufgezeichnet, gespeichert und daraufhin untersucht wurde, ob es für mich oder meine Familie kompromittierend sein könnte. Irgendwo im Geheimdienstarchiv gibt es eine Akte, in der jedes Datum notiert ist, an dem ich meine Periode hatte.«

»Ihretwegen?« Holden nickte in die Richtung der Grabstätte.

»Ihretwegen. Aber sie hat mir auch das Werkzeug gegeben, mit dem ich es überstehen konnte. Sie hat uns gelehrt, jedes beschämende Detail unseres Lebens als Waffe einzusetzen, um die Leute zu demütigen, die uns angreifen wollen. Genau das ist das Geheimnis.«

»Was für ein Geheimnis?«

Kajri lächelte. »Auch die Menschen, die Macht über Sie haben, sind schwach. Sie scheißen, bluten und machen sich Sorgen, dass ihre Kinder sie nicht mehr lieben. Die dummen Dinge, die sie in der Kindheit getan und die alle anderen längst vergessen haben, sind ihnen peinlich. Deshalb sind sie verletzlich. Wir definieren uns durch die Menschen in unserer Umgebung, weil wir eben genau dieser Sorte von Affen angehören. Da kommen wir nicht heraus. Wenn diese Leute Sie beobachten, geben sie Ihnen gleichzeitig auch die Macht, sie selbst zu verändern.«

»Wer hat Sie das gelehrt?«

»Das war sie«, antwortete Kajri. »Aber sie wusste es nicht.«

Wie um ihr recht zu geben, kam ein Wächter über die Wiese auf sie zu, wartete in respektvollem Abstand, bis er sicher war, dass sie ihn bemerkt hatten, und ließ ihnen Zeit, das Gespräch zu beenden, ehe er sich weiter näherte. Kajri drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihm um.

»Madam, der Empfang beginnt in zwanzig Minuten«, sagte der Wächter. »Der Hochkonsul würde sich freuen, Sie begrüßen zu dürfen.«

»Es würde mir nicht im Traum einfallen, ihn zu enttäuschen«, sagte sie mit einem Lächeln, das Holden schon einmal auf anderen Lippen gesehen hatte. Holden bot ihr den Arm an, und Kajri hakte sich ein. Als sie sich entfernten, nickte er zu der Grabstätte mit den eingravierten Worten. WENN DAS LEBEN DEN TOD ÜBERWINDET, WILL ICH DICH DORT SUCHEN. UND WENN NICHT, DANN AUCH DORT.

»Ein interessantes Zitat«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, ich müsste es kennen. Von wem stammt...