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Reformen wagen - Kommentare zum Wiederaufstieg der SPD.

Reformen wagen - Kommentare zum Wiederaufstieg der SPD.

Klaus Wettig

 

Verlag Schüren Verlag, 2019

ISBN 9783741000928 , 120 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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Reformen wagen - Kommentare zum Wiederaufstieg der SPD.


 

Der Wandel der Wählerschaft


Das Ergebnis der Bundestagswahl 1976 demonstrierte die Mängel im sozialdemokratischen Politiksystem. Der Verlust von 3,2 Prozent auf das herausragende Ergebnis von 1972 verlangte nach Erklärung. Vordergründig konnte einiges vorgebracht werden: Die Konjunktur war nach dem Ölpreisschock von 1973 eingebrochen. Der ÖTV-Streik und der Fluglotsenstreik 1974 ließen die Bundesregierung begrenzt handlungsfähig erscheinen. Schließlich kam Anfang Mai der Rücktritt Willy Brandts. Der Nachfolger Helmut Schmidt trat mit einem Regierungsprogramm an, das andere Akzente zur Politik Willy Brandts setzte. Die Antwort der SPD-Organisation fiel unsicher bis kritisch aus. Jedenfalls verstummte die innerparteiliche Kritik nicht, obwohl der einstimmige Beschluss des OR ’85 auf dem Parteitag in Mannheim 1975 die SPD auf einen Konsenskurs verpflichtet hatte. Der Absturz der Niedersachsen-SPD bei der Landtagswahl 1974 zeigte überraschende Schwächen bei der Wählerbindung an. Im Februar 1976 folgte dann ein Debakel in Niedersachsen, als die SPD/FDP-Koalition bei der Neuwahl eines Ministerpräsidenten scheiterte und überraschend der CDU-Kandidat Ernst Albrecht aus den geheimen Wahlen als Sieger hervorging. Mit dem Untergang der SPD/FDP-Regierung ging auch die Bundesratsmehrheit der Sozialliberalen Koalition verloren. Das Regieren in der Bundesrepublik wurde seitdem von der Union mitbestimmt.

Die Union hatte 1973 unter dem neuen Vorsitzenden Helmut Kohl sehr schnell Tritt gefasst. Mit den von dem neuen Generalsekretär Kurt Biedenkopf ausgehenden Impulsen gelang der CDU mit der CSU ein Wahlkampf, der von Modernität und Aggressivität bestimmt war. In dem stark polarisierenden Wahlkampf konnte die SPD zwar finanziell mithalten, doch die Union glich die Schwächen des Jahres 1972 deutlich aus. Sie nahm der SPD allein 16 Direktmandate ab und mit ihrem Zugewinn von 3,7 Prozent streifte sie knapp die Kanzlermehrheit. Die schwere Niederlage von 1972 war ausgeglichen, nur die Koalitionstreue der FDP sicherte Helmut Schmidt die Kanzlerschaft.

Das Wahlergebnis von 1976 ließ sich nur so deuten, dass die Organisationsarbeit der SPD, die mit dem OR ’85 als Vertrauensarbeit bezeichnet wurde, nicht ausreichend gegriffen hatte. Die neu aufgestellte Union, die zu einem aggressiven Politikstil motiviert war, hatte die SPD-Wählerschaft von 1972 erschüttert.

In einer sorgfältigen Wahlanalyse – der Börner/Koschnick-Studie – wurden die Gründe für die Wahlverluste benannt, darunter der beunruhigende Verlust bei den ungelernten und angelernten Arbeitern: – 6 Prozent wurden festgestellt, während bei den gewerkschaftlich organisierten Facharbeitern der SPD-Anteil konstant blieb. Und es gab auch die kritische Feststellung: «Die SPD hat allen Grund, sich mit der eigenen Organisation zu beschäftigen.» Was jedoch nicht in umfassender Weise geschah (s. S. 67). Die Namen Holger Börner und Hans Koschnick verliehen der Studie Gewicht. Börner war von 1971 bis zur Bundestagswahl 1976 Bundesgeschäftsführer gewesen, hatte zwei erfolgreiche Bundestagswahlkämpfe geleitet und galt als intimer Kenner der SPD-Organisation. Koschnick war aus der Gewerkschaftsarbeit kommend in der SPD aufgestiegen, seit 1968 war er Erster Bürgermeister und Chef des Senats in Bremen und 1975 war er stellvertretender Vorsitzender der SPD geworden. Trotz der Prominenz der Autoren blieb die Studie überraschend folgenlos, sie teilte das Schicksal des Kapitels Vertrauensarbeit aus dem ein Jahr zuvor beschlossenen OR ’85: kurz diskutiert, zur Kenntnis genommen, abgelegt, zur Tagesarbeit zurückgekehrt.

Die Rückkehr der Union in die Bundesregierung hätte schon 1980 erfolgen können, wenn statt Franz Josef Strauß ein vermittelbarer Kanzlerkandidat mit Helmut Schmidt konkurriert hätte. Strauß konnte nördlich des Mains nicht für die Union punkten, für die FDP war er als Bundeskanzler unakzeptabel. Alles in allem war das SPD-Ergebnis mit 42,9 Prozent zufriedenstellend, bis zu Gerhard Schröders Wahlsieg 1998 blieb es über mehrere Bundestagswahlen unerreicht.

In ihrer Wählerschaft begegnete die SPD ab 1980 einem zweiten Problem, das sie seitdem in jeder Wahl mit unterschiedlicher Wirkung, inzwischen aber mit beachtlichen Verlusten verfolgt: Die Konkurrenz durch die Partei Die Grünen schwächt die SPD bei Landtags- und Bundestagswahlen, macht diese erste erfolgreiche Parteigründung seit 1949 zu einer schwierigen Konkurrenz, die man bekämpfen müsste, die mit zunehmender Existenzdauer jedoch zu einem notwendigen Koalitionspartner wird.

In ihrer chaotischen Parteigründungsphase gelang der Grünen-Partei erstmals in Niedersachsen bei der Landtagswahl 1978 ein Überraschungserfolg. Da er aus einem kurzen Vorlauf und fast ohne Wahlkampf erzielt wurde, deutete er auf ein schlummerndes Potenzial hin, das aus der SPD-Anhängerschaft kommen könnte. In mehreren Analysen wies ich damals auf diese Gefahr hin, doch außer zustimmendem Interesse, dass ich wohl Recht haben könnte, gab es keine politische Antwort aus der SPD-Führung.

Nach 1978 wäre es noch möglich gewesen, durch eine entschiedene Korrektur in der Kernenergiepolitik die Parteibildung von Die Grünen und ihre anwachsenden Wahlerfolge zu begrenzen. Die Parteiwechsler*innen von der SPD halfen ihnen beim Aufbau ihrer Parteiorganisation, was die organisationstrainierten ehemaligen Maoisten und die heimatlosen Linken wohl nicht so schnell geschafft hätten. Mit dem Einzug in das Europäische Parlament 1979 und in den Bundestag 1980 sowie in Landtage und kommunale Vertretungen verfestigte sich die Parteibildung, sodass Die Grünen zum Dauerkonkurrenten der SPD wurden. In den Auseinandersetzungen über die Stationierung von Mittelstreckenraketen erfuhr die SPD in der Zeit des 3. Kabinetts Schmidt in den 1980er-Jahren einen weiteren Verlust an Die Grünen.

Als die Sozialliberale Koalition 1982 zerbrach, konnte aus den Wahlergebnissen gelesen werden, dass wegen der Abwanderung in einem Arbeitnehmersegment und den Verlusten von Wähler*innen mit hoher Berufsqualifikation ein Wahlergebnis über 40 Prozent nicht so leicht erreichbar sein würde. Die Wahlergebnisse bei Bundestags- und Europawahlen in den 1980er-Jahren zeigten diese Wahlschwäche der SPD überdeutlich. Ausnahmen gab es nur bei Landtagswahlen, wo mit anderen Programmakzenten und neuem Personal die Wiedererholung der SPD gelang.

Am Ende der Ära Schmidt wurde die SPD-Führung in einen verbissenen Streit über den Kurs der Partei durch eine Gruppe von Altgenoss*innen verwickelt. Angezettelt von der ehemaligen Bundestagspräsidentin Annemarie Renger hatte der renommierte Politologe Richard Löwenthal ein Sechs-Thesen-Papier Zur Identität der Sozialdemokratie verfasst, das die Führung zu Kurskorrekturen aufrief. Ehemalige Bundesminister und vor allem aktive Gewerkschaftsvorsitzende hatten ebenfalls unterschrieben. Sie forderten den Abstand «zu ausufernden ökologischen Forderungen» und verlangten eine Entscheidung «… für die große Mehrheit der Berufstätigen gegen die Randgruppe der Aussteiger.» Man musste das Thesenpapier als Pronunciamiento gegen den Vorsitzenden Willy Brandt lesen, der damals einen langsamen Kurs der Umorientierung einleitete. Die Thesen fanden wenig offene Zustimmung in der SPD, wurden in ihrer sozialwissenschaftlichen Begründung und politischen Schlussfolgerung vielfach widerlegt, doch konnte die teils verbissen geführte Diskussion ein Problem nicht lösen: Wollte die SPD-Führung einen großen Sprung auf dem Weg der Versöhnung von Industriepolitik und Ökologie wagen, dann musste sie mit heftigem Widerspruch aus den Gewerkschaften rechnen, der durchaus in der SPD Widerhall finden würde. Die damals mögliche, notwendige große Anstrengung wurde verlangsamt, in Teilen vertagt. Eine Entscheidung, die bis heute wirkt, die aber Die Grünen gestärkt hat.

In diesen Jahnzehnten vollzog sich in der Bundesrepublik der Wandel von der Produktions- zur Dienstleistungsgesellschaft, der neue, wenig gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmergruppen entstehen ließ. Wichtige Arbeitnehmergruppen, die der SPD traditionell verbunden waren, schrumpften deutlich, verschwanden sogar: Schriftsetzer und Buchdrucker, Holzarbeiter, Bergleute, Stahlarbeiter, Textilarbeiter, Lederarbeiter usw. Was auch Umstrukturierungen in den Gewerkschaften zur Folge hatte und in den 1990er-Jahren zu Gewerkschaftszusammenschlüssen führte. In vielen Fällen wuchs dabei die Distanz zur SPD. Die DGB-Gewerkschaft als Förderin oder Transmissionsriemen sozialdemokratischer Politik verlor an Mobilisierungskraft. Auch der Wandel bei den Hauptamtlichen der Gewerkschaften, bei den Betriebs- und Personalräten unterstrich die neue Distanz. Die SPD-Führungen auf allen Ebenen der SPD fanden kein Rezept gegen diesen Wandel, sodass die/der aktive Gewerkschafter*in, die früher das Parteileben mitprägten, zu einer Randerscheinung wurde. Viele haben noch ein Parteibuch der SPD, doch die frühere Bindung ging...