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Bierkind: Roman

Bierkind: Roman

Rex Richter

 

Verlag Schardt Verlag, 2019

ISBN 9783961522118 , 198 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR

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Bierkind: Roman


 

2.


 

Werner Bitter, der Mann, der später mein Vater wurde, trat mit kräftigen Beinen immer wieder den Kickstarter seiner 175er Zündapp. Schwarz mit reichlich Chrom. Ja, das waren noch Zeiten. Da lohnte sich das Putzen und Polieren der Fahrzeuge noch. Überall an verschiedensten Stellen wie Auspuff, Schutzbleche, Scheinwerfer, sogar am halben Tank, hatte man Spiegel. Lustige Fratzen, die einen anstarrten. Meistens die Fratze des Besitzers.

„Saukarre!“, schrie Bitter.

Keiner hörte ihn. Keiner da, niemand war zu sehen. Das Haus, in dem er mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder lebte, stand am Ende einer kleinen Gasse. Kleines Dorf, kleine Menschen. Nicht groß von Gestalt, die Familie Bitter. Kein Vater im Haus. Nein, nicht im Krieg geblieben, der Erzeuger von Werner und Wolfgang Bitter. Einfach nicht wieder aufgetaucht. Sich dünne gemacht, als es ernst wurde mit Berta, der Mutter. Seitdem waren sie nur noch zu dritt.

Sprang nicht, an die Zündapp. Der absolute Luxus in den späten Fünfzigern. Werner war als einer der Wenigen motorisiert. Hattest du damals ein Motorrad, warst du automatisch Chef. Von was auch immer. Werner kannte sich gut aus mit Motoren. KFZ. Gelernt bei Ford in der Stadt. Damals noch jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Lehre gefahren. Er wäre auch auf allen vieren dahin gekrochen, so glücklich war er über die Stelle. Als Dorfschüler eigentlich völlig chancenlos, was einen richtigen Handwerksberuf anging. Die meisten seiner Kumpels endeten als Hilfsarbeiter auf irgendeinem Bau oder Bauernhof. Die Dörfler mit dem Kuhmist an den durchgelatschten Schuhen wollte man nicht in der Stadt. Kein Unternehmer, kein Chef entschied sich für so einen Hinterwäldler, wenn er die Wahl hatte.

Werner schaffte es trotzdem. Fürsprache durch den Dorflehrer. Abramzcik. Der hatte ihn während seiner Schulzeit ordentlich traktiert. Solche Sachen wie Rohrstock auf nacktes Hinterteil. Oder auf die Finger, bis das Blut spritzte. Aber Berta, Werners und Wolfgangs Mutter, hatte einen besonderen Draht zum Herrn Lehrer. Und der hatte einen besonderen Draht zum Ford-Chef Mengemann. Parteikameraden. Aber das war lange her. Für Werner zum Glück noch nicht zu lange. Die Ideale und Träume aus großer Zeit verschwanden nicht einfach so.

„Bömm, bömm, bömm.“ Da war er endlich, der Zweitakter. Es gab nichts Schöneres für ihn als Motorengeräusche und Abgasgeruch.

Drauf auf den Sattel und ab ging es. Schließlich war Samstagabend. Kein Tag für einen Einundzwanzigjährigen, um zu Haus zu sitzen.

Frühherbst, Kirmeszeit. Bier, Mädchen und Musik. Besser ging es nicht. Werner und seine Freunde klapperten zu dieser Jahreszeit jedes Wochenende ein anderes Dorffest ab. Berüchtigt waren sie, die Howaröder Jungs. Wo sie auftauchten, da hatte man Respekt. Werner immer vorne weg. Vom Autoschrauben die ganze Woche über hatte er Arme aus Stahl. Seine rechte Gerade war eine brutale Waffe.

„Krankenhaus“, pflegte er zu sagen, wobei er an seiner linken Faust schnupperte.

„Friedhof“, das war die Rechte.

Eine halbe Stunde nach seiner mühsamen Startaktion mit der Zündapp sausten er, Fritz Beutel, Dieter Starre, Albert Schneider und Berthold Fahrenholz die kurvige, holperige Straße in Richtung Ramelshausen entlang. Es dämmerte bereits. Die Verheißung wartete. Ramelshausen war bekannt für seine Mädchen. Schon letztes Jahr waren die fünf Freunde auf der dortigen Kirmes gewesen.

Leider hatte Werner sich schon ganz am Anfang in der Sektbar mit ein paar Einheimischen in die Wolle gekriegt. Worum es ging, wusste er nicht mehr. War auch egal. Entscheidend war das Ergebnis. Mehrere ausgeschlagene Zähne beim Gegner und kreischend davonrennende Ramelshäuser Mädels. Nichts war’s mit der Romantik. Kennenlernen, Fehlanzeige. Und der Ruf wieder für ein ganzes Jahr ruiniert. Aber diesmal, so hatte er sich vorgenommen, wollten sie die Sache etwas defensiver angehen. Erst mal rein ins Festzelt, ordnungsgemäß ein Tanzband kaufen und dann an die Theke. Die Lage peilen. Ganz in Ruhe ein paar Biere und dann weitersehen.

Knatternd rollten die Motorräder auf den Hof der Kneipe. Direkt vor den großen Misthaufen. Der Wirt war nicht nur Kneipen-, sondern auch Landwirt. Damals auf den Dörfern gang und gäbe. Da hatte man immer frisches Fleisch für die allseits beliebten Schnitzel. Außerdem Kartoffeln, Eier, Wurst und alles, was man sonst im Gasthof anbieten konnte. Um den etwas unschönen Anblick der Miste zu verdecken, standen auch dieses Jahr die Los-, Schieß- und Zuckerbude als Sichtschutz davor. Der Gestank blieb natürlich trotzdem.

Mit dem Kamm glätteten die Jungs aus Howarode die Pomadenfrisuren. Schnell noch eine Zigarette und dann ging’s hinein ins Vergnügen. Allein der Anblick der vielen frischen, kühlen Biere hinter der Theke ließ ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen. Werner zeigte dem Zapfer die fünf Finger seiner rechten Hand und zusätzlich zwei seiner linken. Das bedeutete zehn Bier. Null Komma zwei Liter hatten die Gläser. Was für den hohlen Zahn. Also gleich mal doppelt bestellen. Sonst ruckte das nicht. Das dünne Kirmesbier brauchte keine sieben Minuten, dann lief der herrliche Gerstensaft die trockenen Kehlen hinunter.

„Aaaah“, stöhnten alle fünf im Kollektiv. Gleichzeitig wischten sie sich mit einer martialischen Geste den Schaum vom Mund. Die zwei kleinen Gläser pro Mann waren in weniger als einer Minute vernichtet. Nächste Runde. Das Lebenselixier der kleinen Leute floss in Höchstgeschwindigkeit. Und auf den Alkohol war wie immer Verlass: Die Stimmung stieg von Glas zu Glas.

Die Kapelle Bernie Brammer arbeitete sich am Calypso-Rhythmus des Saisonschlagers „Cindy, oh Cindy“ ab. Der Chef wurde wegen seines schrägen Trompetenspiels auch scherzhaft Blase Bernie genannt.

Ganz scheu, am anderen Ende des Festzeltes, standen die Ramelshäuser Mädels. Neugierige Blicke in Richtung Theke. Herumkichernd, an ihren Limonaden nippend. Die Howaröder Truppe nippte nicht, die schluckte.

„Mehr Bier!“, rief Werner in Richtung Zapfer. Immer dieser verdammte Durst. Seit Jahren dieser Durst. Bierdurst! Dann hielt er kurz inne.

„Fritz“, stieß er seinen Freund an. „Siehst du die?“

„Welche? Meinst du die kleine Brünette?“

„Sag ich doch“, antwortete Werner, ohne die Augen von dem Mädchen im roten Kleid auf der gegenüberliegenden Seite abzuwenden. Ein letzter tiefer Schluck und das sechste oder siebte Bier war erledigt. Er stellte das Glas ab.

„Noch eins?“, fragte der Zapfer.

„Hab ich was gesagt?“, war die klare Antwort.

Die Thekenkraft drehte sich schnell weg, um die Jungs nicht zu verärgern.

„Ich sollte da mal rüber und mit der Kleinen tanzen.“

„Du und tanzen …“ Mit einem Grinsen trank auch Fritz sein Bier aus. Die drei anderen Freunde waren inzwischen nach draußen verschwunden, eine Bratwurst essen.

„Wirst du gleich sehen“, sagte Werner und wollte sich gerade auf den Weg ans andere Zeltende machen.

„Hier stinkt’s!“ Erst eine, dann mehrere Stimmen von der Seite.

„Aber gewaltig!“

„Nach Stall.“

„Und Scheiße.“

„Stimmt, Kuhscheiße. Howaröder Kuhscheiße.“ Der Heimatort der Jungs war leider im ganzen südlichen Landkreis verschrien. Keine Kanalisation. Die Jauche lief förmlich die Dorfstraße hinunter. Schon wenn man sich Howarode näherte, stieg einem der „Duft der großen weiten Bauernwelt“ in die Nase. Werner drehte sich um. Vier Jungs starrten ihn und Fritz Beutel grinsend an. Oh nein, nicht schon wieder Ärger, dachte er. Das Mädchen im roten Kleid interessierte ihn wirklich. Er merkte, wie sich sein Körper anspannte. Die Muskeln an den Armen wurden bretthart. Auch der etwas kleinere Fritz Beutel ging in Habachtstellung und bereitete sich auf den Angriff vor.

Blase Bernie schaute sorgenvoll über den Rand seiner Trompete, wobei er das kleine Solo gründlich versemmelte. Die Musiker waren zwar abgehärtet, was Schlägereien anging, aber sie hatten immer Angst um ihre Instrumente. Fast bei jeder Veranstaltung rumste es unter den sogenannten „Halbstarken“. Die fünfziger Jahre halt. Marlon Brando, Lederjacken, Motorräder, RockʼnʼRoll und fliegende Fäuste. Das gehörte zusammen damals. Hier gab es zwar wenig RockʼnʼRoll, aber so cool wie Marlon Brando waren die Dorfjungs schon lange. Davon waren sie fest überzeugt. Die Auseinandersetzungen endeten aber meistens mit einem Versöhnungsbier an der Theke. Wenn es schlimmer wurde, brauchte mal jemand einen Eisbeutel für das blaue Auge. Die Sache im letzten Jahr mit den ausgeschlagenen Zähnen war eine Ausnahme.

„Willi, hör auf!“ Eine hohe weibliche Stimme unterbrach die Ruhe vor dem Sturm. Das Mädchen im roten Kleid war schnellen Schrittes durchs ganze Zelt gerannt und mischte sich nun ein. Der Anführer der Ramelshäuser Gang, etwa 1,85 Meter groß, schaute auf die kleine Person hinunter.

„Ida, was willst du …?“ Doch er kam nicht dazu, den...