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Gute Ökonomie für harte Zeiten - Sechs Überlebensfragen und wie wir sie besser lösen können

Gute Ökonomie für harte Zeiten - Sechs Überlebensfragen und wie wir sie besser lösen können

Esther Duflo, Abhijit V. Banerjee

 

Verlag Penguin Verlag, 2020

ISBN 9783641251529 , 560 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR

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Gute Ökonomie für harte Zeiten - Sechs Überlebensfragen und wie wir sie besser lösen können


 

KAPITEL 1

MEGA: Make Economics Great Again

Eine Frau erfährt von ihrem Arzt, dass sie nur noch ein halbes Jahr zu leben hat. Der Arzt rät ihr, einen Wirtschaftswissenschaftler zu heiraten und nach South Dakota zu ziehen.

Die Frau: »Werde ich dann wieder gesund?«

Der Arzt: »Nein, aber das halbe Jahr wird Ihnen ziemlich lang vorkommen.«

Wir leben in einem Zeitalter wachsender Polarisierung. Von Ungarn bis Indien, von den Philippinen bis zu den Vereinigten Staaten, von Großbritannien bis Brasilien, von Indonesien bis Italien ist aus der öffentlichen Diskussion zwischen der Linken und der Rechten mehr und mehr ein lautstarkes gegenseitiges Beschimpfen geworden, bei dem hemmungslos ausgeteilte Ruppigkeiten einem praktisch keine Möglichkeit mehr lassen zurückzurudern. In den Vereinigten Staaten, wo wir leben und arbeiten, kommt es heute seltener denn je vor, dass ein Bürger bei einer Wahl, bei der mehrere Ämter zu besetzen sind, seine Stimmen auf Kandidaten unterschiedlicher politischer Parteien aufteilt.1 81 Prozent derjenigen, die sich mit einer Partei identifizieren, haben eine negative Meinung von der anderen Partei.2 61 Prozent der Anhänger der Demokraten sagen, Republikaner seien rassistisch, sexistisch und intolerant. 54 Prozent der Republikaner nennen Demokraten gehässig. Ein Drittel aller Amerikaner wäre enttäuscht, wenn ein naher Verwandter jemanden von der anderen Seite heiraten würde.3

In Frankreich und Indien, den beiden anderen Ländern, in denen wir viel Zeit verbringen, wird der Aufstieg der politischen Rechten in den Kreisen der liberalen, »aufgeklärten« Elite, in denen wir verkehren, in zunehmendem Maße als eine drohende Apokalypse dargestellt. Man ist fest davon überzeugt, dass die Zivilisation, wie wir sie kennen, auf der Grundlage von Demokratie und rationalem Diskurs, in Gefahr ist.

Als Sozialwissenschaftler ist es unsere Aufgabe, Tatsachen und Interpretationen von Tatsachen vorzulegen, von denen wir hoffen, dass sie dazu beitragen werden, diese Gräben zu überbrücken, indem jede Seite den Standpunkt der jeweils anderen besser versteht und sie so zu einer Art vernünftig begründetem Dissens, wenn schon keinem Konsens gelangen. Eine demokratische Gesellschaft kann mit verschiedenen Meinungen leben, solange man sich gegenseitig respektiert. Aber Respekt verlangt ein gewisses Maß an Verständnis für denjenigen, der anderer Meinung ist.

Das besonders Beunruhigende an der gegenwärtigen Situation ist die Tatsache, dass der Raum für solche Gespräche immer kleiner zu werden scheint. Es kommt augenscheinlich zu einer »Tribalisierung« der Anschauungen nicht nur in Bezug auf Politik, sondern auch im Hinblick auf die Frage, was die wichtigsten gesellschaftlichen Probleme sind und was man gegen sie tun kann. Bei einer großangelegten Erhebung zeigte sich, dass die Anschauungen der Amerikaner in Bezug auf eine breite Palette von Themen sich wie Weinbeeren an einer Traube scharen.4 Personen, die gewisse Grundüberzeugungen teilen, etwa über Geschlechterrollen oder hinsichtlich der Frage, ob sich harte Arbeit immer auszahlt, haben offenbar zu einer ganzen Reihe von Fragen – von Einwanderung bis zu internationalem Handel, von Ungleichheit bis zu Steuern und zur Rolle des Staates – die gleiche Meinung. Diese Grundüberzeugungen sagen ihre politischen Anschauungen verlässlicher vorher als ihr Einkommen, ihre demografische Gruppe oder ihr Wohnort.

Diese Themen stehen im Zentrum des politischen Diskurses, nicht nur in den Vereinigten Staaten. Zuwanderung, Handel, Steuern oder die Rolle des Staates sind in Europa, Indien, Südafrika oder Vietnam genauso umstritten. Aber Meinungen zu diesen Fragen basieren allzu oft ausschließlich auf bestimmten persönlichen Wertvorstellungen (»Ich bin für Zuwanderung, weil ich ein großmütiger Mensch bin«, »Ich bin gegen Zuwanderung, weil Zuwanderung unsere nationale Identität bedroht«). Und sofern sie sich überhaupt auf irgendetwas stützen, dann auf einseitig interpretierte Zahlen und stark vereinfachende Auslegungen der Tatsachen. Niemand denkt wirklich gründlich über die Probleme selbst nach.

Das ist fatal, denn wir durchleben offensichtlich schwere Zeiten. Die Jahre schwungvollen globalen Wachstums, das von der Handelsausweitung und dem erstaunlichen wirtschaftlichen Erfolg Chinas gespeist wurde, sind möglicherweise vorüber, da sich das Wachstum in China abschwächt und allenthalben Handelskriege ausbrechen. Länder, die von dieser weltwirtschaftlichen Dynamik profitierten – in Asien, Afrika und Lateinamerika –, beginnen, sich bange zu fragen, wie es jetzt wohl weitergehen wird. Selbstverständlich ist in den meisten Ländern des reichen Westens niedriges Wachstum kein neues Phänomen, aber was diese Wachstumsschwäche besonders beunruhigend macht, ist die rasche Auflösung des Gesellschaftsvertrags, die wir in all diesen Ländern sehen. Wir scheinen in die Dickens’sche Welt von Harte Zeiten zurückversetzt worden zu sein, in der die Begüterten gegen die zunehmend entfremdeten Habenichtse kämpfen, ohne dass ein Ausgleich der Interessen in Sicht wäre.5

Wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Fragen sind von zentraler Bedeutung für die gegenwärtige Krise. Lässt sich das Wachstum ankurbeln? Sollte dies überhaupt eine Priorität für den wohlhabenden Westen sein? Was sonst? Was ist mit der explodierenden Ungleichheit überall? Ist der internationale Handel das Problem oder die Lösung? Wie wirkt er sich auf die Ungleichheit aus? Wie sieht die Zukunft des Welthandels aus? Können Länder mit niedrigeren Arbeitskosten die globale Industrieproduktion von China weglocken? Und was ist mit Migration? Gibt es tatsächlich eine zu hohe Zuwanderung von Geringqualifizierten? Wie steht es mit neuen Technologien? Sollte uns zum Beispiel der Vormarsch der Künstlichen Intelligenz (KI) beunruhigen, oder sollten wir ihn begrüßen? Und, was vielleicht am dringendsten ist: Wie kann die Gesellschaft all jenen Menschen helfen, die die Märkte zurückgelassen haben?

Die Antworten auf diese Probleme lassen sich nicht in einem Tweet formulieren. Und daher gibt es den Wunsch, ihnen einfach aus dem Weg zu gehen. Nicht zuletzt aus diesem Grund tun Staaten sehr wenig, um die drängendsten Herausforderungen unserer Zeit zu lösen; vielmehr nähren sie weiterhin die Wut und das Misstrauen, die uns polarisieren. Und dies macht uns noch unfähiger, miteinander ins Gespräch zu kommen, gemeinsam nachzudenken und etwas gegen diese Probleme zu unternehmen. Es scheint, als wären wir in einem Teufelskreis gefangen.

Wirtschaftswissenschaftler haben viel über diese grundlegenden Probleme zu sagen. Sie erforschen Zuwanderung, um herauszufinden, wie diese sich auf die Löhne auswirkt, Steuern, um in Erfahrung zu bringen, ob sie unternehmerische Initiative hemmen, Umverteilung, um zu ergründen, ob sie Trägheit fördert. Sie denken über die Folgen des Handels zwischen Nationen nach, und sie machen nützliche Vorhersagen darüber, wer wahrscheinlich die Gewinner und die Verlierer sein werden. Sie haben sich intensiv darum bemüht, zu verstehen, warum einige Länder wachsen und andere nicht und was, gegebenenfalls, Regierungen tun können, um das Wachstum zu fördern. Sie sammeln Daten, um diverse Fragen beantworten zu können: Was macht Menschen großzügig beziehungsweise misstrauisch? Was veranlasst einen Menschen dazu, seine Heimat zu verlassen und in die Fremde zu gehen? Wie machen sich soziale Medien unsere Vorurteile zunutze?

Die jüngsten Studien warten, wie sich zeigt, mit oftmals überraschenden Erkenntnissen auf, vor allem für diejenigen, die die oberflächlichen Antworten von »Wirtschaftsexperten« im Fernsehen und in gymnasialen Lehrbüchern gewohnt sind. Sie können diese Diskussionen bereichern.

Leider vertrauen nur sehr wenige Menschen Ökonomen so sehr, dass sie ihnen aufmerksam zuhören. Unmittelbar vor der Abstimmung über den Brexit bemühten sich unsere britischen Kollegen verzweifelt, die Öffentlichkeit zu warnen, der Brexit werde teuer. Sie hatten jedoch das Gefühl, mit dieser Botschaft nicht durchzudringen. Sie hatten recht. Niemand schenkte ihnen viel Beachtung. Anfang 2017 führte YouGov eine Umfrage in Großbritannien durch, in der die Frage gestellt wurde: »Den Meinungen welcher der folgenden Berufsgruppen vertrauen Sie am meisten, wenn deren Vertreter über ihr jeweiliges Fachgebiet sprechen?« An erster Stelle rangierten Krankenpflegekräfte. 84 Prozent der Befragten vertrauten ihnen. Politiker kamen an letzter Stelle, mit 5 Prozent (auch wenn Unterhausabgeordneten des eigenen Wahlbezirks, mit 20 Prozent, etwas mehr Vertrauen entgegengebracht wurde). Ökonomen rangierten mit 25 Prozent knapp vor Politikern. Das Vertrauen in Meteorologen war doppelt so hoch.6 Im Herbst 2018 stellten wir 10 000 Personen in den Vereinigten Staaten die gleiche Frage (sowie mehrere weitere, die sich auf Ansichten zu wirtschaftlichen Themen bezogen, auf die wir an verschiedenen Stellen in diesem Buch eingehen werden).7 Auch hier vertrauten nur 25 Prozent der Befragten dem Sachverstand von Ökonomen. Nur Politiker rangierten noch niedriger.

Dieses Vertrauensdefizit spiegelt sich in der Tatsache wider, dass sich der fachliche Konsens von Ökonomen (sofern er vorhanden ist) oftmals systematisch von den Ansichten der Durchschnittsbürger unterscheidet. Die Booth School of Business an der Universität Chicago befragt regelmäßig eine Gruppe von rund...