Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Ich bin Gideon - Roman

Ich bin Gideon - Roman

Tamsyn Muir

 

Verlag Heyne, 2020

ISBN 9783641244392 , 608 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ich bin Gideon - Roman


 

1


IM UNZÄHLIGEN JAHR DES HERRN – dem zehntausendsten Jahr des Unsterblichen Königs, des gnädigen Fürsten des Todes! – packte Gideon Nav ihr Schwert, ihre Schuhe und ihre Pornoheftchen zusammen und floh vom Haus des Neunten.

Sie rannte nicht. Gideon rannte nie, wenn es nicht unbedingt sein musste. In der völligen Dunkelheit vor dem Morgengrauen putzte sie sich gelassen die Zähne und wusch sich das Gesicht; sie fegte sogar den Staub auf dem Boden ihrer Zelle zusammen. Dann schüttelte sie ihre große schwarze Kirchenrobe aus und hängte sie an ihren Haken. Nachdem sie das seit über zehn Jahren jeden Morgen so gemacht hatte, brauchte sie dazu kein Licht mehr. Ohnehin war es so spät im Äquinoktium, dass es noch Monate dauern würde, bis es wieder ein Lichtstrahl bis zu ihr herunter schaffte; die Jahreszeit ließ sich stets daran ablesen, wie laut die Heizungsrohre knackten.

Gideon kleidete sich von Kopf bis Fuß in Polymer und Synthetikgewebe. Sie kämmte sich das Haar. Mit einem leisen Pfiff öffnete sie dann ihre Sicherheitsmanschette und legte sie samt dem dazugehörigen, gestohlenen Schlüssel so adrett auf ihr Kopfkissen, wie man in einem Nobelhotel den kleinen Schokoladengruß für die Gäste platziert hätte.

Mit ihrem Rucksack über der Schulter verließ sie ihre Zelle und nahm sich die Zeit, die fünf Treppen bis zu der namenlosen Nische in den Katakomben hinabzusteigen, die ihrer Mutter zugewiesen worden war. Es war reine Sentimentalität, da ihre Mutter sich schon nicht mehr dort befand, seit Gideon ganz klein gewesen war, und sicherlich niemals wieder dorthin zurückkehren würde. Dann folgte der lange Aufstieg über die zweiundzwanzig Treppen zurück nach oben, ohne ein einziges Licht in der zähen Dunkelheit, bis sie die Schachtabzweigung und den Landeplatz erreichte, an dem sie abgeholt werden sollte: Ihr Shuttle würde in zwei Stunden eintreffen.

Hier draußen hatte man freien Blick auf ein kleines Stück vom Himmel des Neunten. Er war dort, wo am meisten Atmosphäre hineingepumpt wurde, wie eine dicke weiße Suppe, an anderen Stellen dünn und dunkelblau. Die schimmernde Perle des Dominicus zwinkerte gütig von der Öffnung des tiefen, vertikalen Tunnels herab. Gideon schlenderte im Dunkeln langsam um das Feld und drückte ihre Hände fest gegen das kalte, ölige Felsgestein der Höhlenwände. Anschließend verbrachte sie viel Zeit damit, systematisch jedes harmlose Häufchen Dreck und jeden noch so kleinen Stein beiseitezukicken, die sie auf dem zerfurchten Boden des Landeplatzes entdecken konnte. Immer wieder stieß die abgestoßene Stahlspitze ihres Stiefels hart in die festgestampfte Erde, und erst, als sie zu der Überzeugung gekommen war, dass sich hier niemand würde hindurchgraben können, hörte sie damit auf. Kein Zentimeter der großen, weiten Fläche entging ihrer sorgfältigen Untersuchung, und als die Generatorlichter zu schwachem Leben erwachten, überprüfte sie es zwei Mal mit den Augen. Sie kletterte auf die drahtummantelten Rahmen der Flutlichter und überprüfte auch sie, obwohl der helle Schein sie blendete, tastete blindlings hinter ihrem Metallgehäuse herum und stellte mit grimmiger Zufriedenheit fest, dass sich auch dort nichts verbarg.

Schließlich parkte sie sich in der Nähe eines der zerstörten Geröllhaufen in der Mitte des Landeplatzes. Die Lampen verbreiteten ein mattes, unwirkliches Licht und ließen überall explo­sionsartig verformte Schemen entstehen. Die Schatten des Neunten waren tief und verschlagen, hatten die Farbe blauer Flecken und waren kalt. In dieser unwirtlichen Umgebung belohnte sich Gideon mit einem kleinen Plastikbeutel Haferbrei, der herrlich grau und eklig schmeckte.

Der Morgen zog herauf wie jeder andere seit Anbeginn des Neunten. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, drehte Gideon eine neuerliche Runde um den Landeplatz und trat dabei geistesabwesend nach einem unordentlichen kleinen Haufen Kies. Sie ging zur Balkonplattform und überprüfte, ob sich unten in der großen Haupthöhle, auf die man von dort hinabsehen konnte, etwas bewegte, während sie sich mit der Zunge die Haferstückchen von den Schneidezähnen pulte. Nach einer Weile ertönte von den Pflanzfeldern das entfernte Klappern der Skelette herauf, die dort stumpfsinnig Schneelauch pflückten. Gideon sah vor ihrem inneren Auge, wie sie sich schlammig beinern in der schwefeligen Düsternis bewegten, die Augen eine Vielzahl unruhiger roter Punkte, und ihre Hacken über die Erde klapperten.

Die Erste Glocke ließ ihren misstönenden, nörgeligen Ton erklingen, der zum Beginn der Gebete rief und sich dabei wie immer so anhörte, als würde der große Metallkörper eine Treppe hinuntergekegelt. Dieses Da-dong … Da-dong … Da-dong hatte sie jeden Morgen geweckt, seit sie sich erinnern konnte.

Auf dem Grund der Höhle waren nun Bewegungen auszu­machen. Schatten sammelten sich vor den kalten weißen Toren von Schloss Drearburh, die stattlich und hochherrschaftlich von der nackten Erde aufragten, in die Felswand hineingeschlagen, drei Leichname breit und sechs Leichname hoch. An der Seite eines jeden Tors stand jeweils eine beständig brennende Kohle­pfanne, die fettigen, ekligen Rauch verbreitete. Über den Türflügeln waren winzige weiße Figuren in den Stein geschlagen worden, Hunderttausende wohl, die eine Vielzahl verschiedener Haltungen einnahmen und dank eines seltsamen Tricks den Eindruck vermittelten, dass sie den Betrachter allesamt direkt ansahen. Jedes Mal, wenn man Gideon als Kind gezwungen hatte, diese Tore zu durchschreiten, hatte sie wie am Spieß geschrien.

Auf den untersten Rängen wurde es jetzt belebter; inzwischen war das Licht so hell, dass es eine gewisse Sicht gestattete. Die Neunten würden nun nach ihrer morgendlichen Andacht aus ihren Zellen kommen und sich zum gemeinsamen Gebet versammeln, während die Dienstboten von Schloss Drearburh damit begannen, alles für den anstehenden Tag vorzubereiten. Zahlreiche feierliche und ziemlich alberne Rituale würden dort unten in den tiefer gelegenen Nischen und Winkeln stattfinden. Gideon warf ihren leeren Haferbreibeutel über den Rand des Balkons und setzte sich hin, legte sich das Schwert über die Knie und begann, es mit einem Lappen zu säubern: noch vierzig Minuten.

Plötzlich wurde die unveränderliche Eintönigkeit eines typischen neunten Morgens unterbrochen. Die Erste Glocke erklang erneut: Dong … Da-dong … Da-dong … Gideon hob lauschend den Kopf und merkte, dass ihre Hände noch immer auf ihrem Schwert ruhten. Erst nach zwanzig Minuten verstummte die Glocke wieder. Ha, der Ruf zum Appell. Nach einer Weile war das Knochenklappern der Skelette wieder zu hören, die gehorsam ihre Hacken fallen ließen und der Versammlung entgegenstrebten. Sie ergossen sich über die einzelnen Ränge wie ein ruckelnder Strom, hin und wieder unterbrochen von einer humpelnden Gestalt in rostschwarzer Kleidung. Gideon nahm wieder Schwert und Lappen zur Hand: Netter Versuch, aber darauf würde sie nicht hereinfallen.

Und sie hob auch nicht den Kopf, als auf ihrem Rang plötzlich schwere, stapfende Schritte ertönten, begleitet vom Klappern einer rostigen Rüstung und keuchendem Atem.

»Ganze dreißig Minuten, seit ich das Ding abgenommen habe, Crux«, sagte sie und putzte weiter. »Man könnte beinahe glauben, Sie wollten, dass ich für immer von hier verschwinde. Ohhh, Scheiße, genau das wollen Sie

»Du hast betrogen, um dir einen Shuttle hierherzuordern«, blubberte der Marschall von Drearburh, dessen Bekanntheit sich vor allem darauf gründete, dass er als Lebender verwester aussah als so mancher offiziell Verstorbener. Er hatte sich vor ihr auf dem Landeplatz aufgebaut und gurgelte vor Ungehaltenheit. »Du hast Dokumente gefälscht. Du hast deine Manschette abgenommen. Du hast dich gegen dieses Haus vergangen, du hast seine Güter missbräuchlich verwendet, du stiehlst sein lebendes In­ventar.«

»Kommen Sie, Crux, wir können uns da doch sicher irgendwie einigen«, säuselte Gideon, während sie ihr Schwert schwungvoll umdrehte und die Klinge mit kritischem Blick auf Scharten überprüfte. »Sie hassen mich, ich hasse Sie. Lassen Sie mich einfach ohne Kampf von hier verschwinden, dann können Sie ganz gemütlich in den Ruhestand gehen. Sich ein Hobby suchen. Ihre Memoiren schreiben.«

»Du vergehst dich gegen dieses Haus. Du hast seine Güter missbräuchlich verwendet. Du stiehlst sein lebendes Inventar.« Crux liebte es, Verben zu betonen.

»Sagen Sie doch einfach, mein Shuttle sei explodiert. Ich sei tot, leider, da sei nichts zu machen. Lassen Sie mich einfach in Ruhe, Crux, ich flehe Sie an – ich würde Ihnen sogar ein Pornoheftchen überlassen. Die heißen Fünften – Titten in Uniform.« Das machte den Marschall kurzzeitig so sprachlos, dass er keine Antwort fand. »Okay, okay. Ich nehme es zurück. Titten in Uniform habe ich gerade erfunden.«

Crux rückte ihr nun mit der finsteren Unausweichlichkeit eines Gletschers entgegen. Gideon ließ sich gerade noch rechtzeitig aus dem Sitz nach hinten abrollen, bevor seine uralte Faust herabsauste, und wich dem Schlag, der Staub und Kies aufspritzen ließ, seitlich aus. Ihr Schwert steckte schon wieder in der dazugehörigen Scheide, die sie nun wie ein Kind in ihren Armen wiegte. Sie federte rückwärts, um seinen Stiefeltritten und seinen riesigen, gealterten Händen zu entgehen. Crux mochte schon so gut wie tot sein, aber er war zäh wie Knorpel und schien an jeder Faust dreißig Knöchel zu besitzen. Er war...