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Fieber - Universum Berlin 1930-1933

Fieber - Universum Berlin 1930-1933

Peter Walther

 

Verlag Aufbau Verlag, 2020

ISBN 9783841219732 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR

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Fieber - Universum Berlin 1930-1933


 

Der Tugendhafte
Heinrich Brüning


Reichskanzler Heinrich Brüning während eines Festessens, 1931/32.

1


Das kleine, rostrot angestrichene Holzhaus in der Carpenter Street in Norwich in Vermont liegt nur wenige hundert Meter vom Connecticut River entfernt. Nach Osten breiten sich weite Felder aus, im Norden und Westen grenzt ein Waldstück an, Richtung Süden aber ist das Städtchen zu sehen. Die größte Attraktion in Norwich ist der General Store.

Der alte Mann, der vor dreizehn Jahren Haus und Garten mit einer Anzahlung von fünfundzwanzigtausend Dollar gekauft hat, freut sich, die Bäume Jahr um Jahr wachsen zu sehen. Durch die breiten Fenster des Hauses schaut er im Herbst den Vögeln hinterher, die sich zum Zug formieren. Claire Nix, seine dreiunddreißig Jahre jüngere Lebensgefährtin, liest ihm manchmal aus Büchern von Alexander von Humboldt und Annette von Droste-Hülshoff vor. Gemeinsam hören sie das »Kaiserquartett« von Haydn und die »Winterreise« von Schubert. Bewacht wird das kleine Anwesen von Puli, dem ungarischen Schäferhund.

Die deutschen Zeitungen und Zeitschriften kommen stets mit ein paar Tagen Verzögerung an. Aber die Nachrichten, die der Rundfunk aus Bonn sendet, sind aktuell. Jahrelang schon verfolgt der alte Mann die Sendungen auf Kurzwelle. Längst vorbei ist die »Oberbürgermeisterei« Adenauers, wie er die Regierungsarbeit seines einstigen Kontrahenten etwas despektierlich nennt, auch Heinrich Lübke, sein alter Bekannter, ist nicht mehr Präsident in der Heimat. Dagegen hat Walter Ulbricht, dessen Fistelstimme ihm von damals noch im Ohr klingt, im Osten weiter das Sagen.

Verrutscht er auf der Skala seines Radios mit dem Zeiger, hört er »Honky Tonk Women« von den Stones oder »I Heard It Through the Grapevine« von Marvin Gaye. Es ist der 30. März 1970. Auf den Tag genau vier Jahrzehnte nach seinem Amtsantritt stirbt Heinrich Brüning, der ehemalige Kanzler des Deutschen Reichs, im fernen Vermont. Sein Hausrat ist nach Unterlagen des Gemeindearchivs Norwich fünfhundertvierzig Dollar wert, seine unveröffentlichten Papiere werden auf hundert Dollar taxiert.

Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.

2


»Ihr Werk, Ihr Mann«, gratuliert Theodor Wolff, Chefredakteur des »Berliner Tageblatts«, dem General Kurt von Schleicher am Abend des 30. März 1930 nach der Vereidigung Heinrich Brünings zum Reichskanzler. Drei Tage zuvor sitzt Brüning im Kreis von Freunden aus der Zentrumspartei in seinem Lieblingsrestaurant, im »Weinhaus Rheingold«.

Das Restaurant an der Potsdamer Straße ist in vierzehn Säle aufgeteilt. Wie in einem großen Themenpark ist jeder Saal von einer bestimmten Epoche oder einem Kulturkreis inspiriert. Für das weltläufige Publikum ist die »Bar Americain« gedacht, während die vaterländische Kundschaft den »Kaisersaal« vorzieht, den sich die Gäste mit Skulpturen von Karl dem Großen, Otto dem Großen, Barbarossa und Wilhelm I. teilen.

Die Ausstattung ist luxuriös – Mahagoni, Onyxmarmor und Ebenholz –, die Küche gehoben. Bis zu viertausend Gäste finden Platz im »Weinhaus Rheingold«, was den überbordenden Luxus in einem befremdlichen Kontrast zur fehlenden Exklusivität des Ortes erscheinen lässt. Das Großrestaurant ist auch bei anderen Parteiführern beliebt, etwa bei den Nationalsozialisten. Wenn der »Chef« in Berlin ist und die Parteikasse es zulässt, steigt er im »Kaiserhof« ab und lädt am Abend ins »Rheingold«. Hier sitzt er dann mit seiner hübschen Nichte Geli, mit Heß und Göring, Amann und Goebbels.

Thema des Abends in Brünings Stammkoje ist der Sturz des Kabinetts Müller. Allgemein gilt es als Wunder, dass die Regierung mit den Sozialdemokraten überhaupt so lange gehalten hat. Am Ende sei Reichskanzler Hermann Müller, meint Brüning über das Regierungsende seines Vorgängers, »von der eigenen Partei langsam zu Tode gequält« worden. Zu lange schon hat die SPD alle möglichen Kröten geschluckt, zuletzt noch das Lieblingsprojekt des Reichspräsidenten, den »Panzerkreuzer A«. Was haben die Sozialdemokraten vor den Wahlen plakatieren lassen? »Für Kinderspeisung – gegen Panzerkreuzerbau!« Und dann doch für den Panzerkreuzer gestimmt.

In der Wilhelmstraße, dem Zentrum des Regierungsviertels, versucht Hindenburgs Staatssekretär Otto Meissner an diesem Abend zunächst vergeblich, Brüning zu erreichen. Schließlich wird die Gesellschaft im »Rheingold« ausfindig gemacht, nur zehn Gehminuten entfernt, und Brüning über dessen alten Studienfreund Treviranus die Bitte übermittelt, sich am kommenden Morgen um 9 Uhr im Palais des Reichspräsidenten einzufinden. Alle am Tisch wissen, worum es geht: Joseph Wirth, der die Bürde des Amts, das seinen Parteifreund jetzt erwartet, schon einmal getragen hat, bringt es auf den Punkt: »Heinrich, du musst ans Ruder.«

3


Der Eintrag im Taufbuch von St. Ludgeri in Münster vom November 1885 lautet auf Heinrich Aloysius Maria Elisabeth Brüning, aber in der Familie wird der Junge kurz Harry genannt. Heinrich ist das jüngste von sechs Kindern, drei seiner Geschwister sind im frühen Alter gestorben. An seinen Vater, der eine Essigbrennerei und eine Weinhandlung betrieb, hat er keine Erinnerungen, er ist anderthalb Jahre bei dessen Tod. Nun ist die Mutter allein mit den drei verbliebenen Kindern, dem elfjährigen Bruder Hermann Joseph, der sechsjährigen Schwester Maria und Heinrich. Wenn der Junge mit der Mutter in Münster spazieren geht, schlägt er gern Rad oder Purzelbäume vor Übermut. Der kleine Heinrich legt sein Ohr an die Telegrafenmasten und deklamiert Botschaften, die er um die Erde zu senden gedenkt.

Seit elf Jahrhunderten ist die Stadt Bischofssitz. Katholizismus und Preußentum, die tiefe religiöse Bindung und zugleich die Vorstellung, es sei das Höchste, dem Gemeinwohl »in Freiheit zu dienen«, prägen sich schon dem Heranwachsenden ein. Vom »Pater Filucius mit dem E. K. I am Rosenkranz« wird Carl von Ossietzky 1930 mit Blick auf den Reichskanzler schreiben, vom »spitznasigen Pergamentgesicht«. Streicht man das verächtlich Gemeinte ab, das bewusst Verletzen-Wollende in der Formulierung: Hat der Politiker Brüning nicht wirklich etwas Jesuitisches, etwas Elitär-Asketisches? Als Reichskanzler wird er Entscheidungen aus eisiger Höhe »rein nach Sachzwängen« treffen und sich nicht beirren lassen »vom Geschrei der Welt«. Dann wieder, in Zeiten nachlassender Belastung, ereilen ihn Anfälle von Schwermut.

Die Grundzüge seiner seelischen Gestimmtheit, ein Hang zur Melancholie und zur Depression, sind ererbt. Doch scheinen Ereignisse in der Kindheit diese Anlagen verstärkt zu haben. Der schmächtige Junge muss wegen Kurzsichtigkeit schon früh eine Brille tragen. Mit sieben Jahren erleidet Heinrich bei einem Unfall einen Herzkrampf. Heftige Schmerzen greifen das Herz an, der Puls rast und scheint dann wieder stillzustehen, minutenlang halten Atemnot und Angstgefühle an. Bis er fünfzehn ist, muss er körperliche Anstrengungen meiden. Er ist von Sport und Spiel, vom Toben mit den Klassenkameraden ausgeschlossen und flüchtet sich in die Welt der Bücher.

Am Paulinum, das er nach der Grundschule besucht, gehört er zu den guten Schülern. Es ist die älteste humanistische Lehranstalt Deutschlands, gegründet in legendenhafter Urzeit, im Jahr 797. Joseph Frey, der Direktor des Gymnasiums, führt ein unnachgiebiges Regiment: Wirtshausgänge der Schüler sind generell verboten, Besuche des städtischen Theaters werden nur in besonderen Fällen gestattet. Dagegen wird die Anwesenheit beim Gottesdienst in der Jesuitenkirche zweimal die Woche streng überwacht, ebenso die Beteiligung an der Beichte, die alle sechs Wochen zu erfolgen hat. Die Sommerferien verbringt Heinrich fast jedes Jahr bei Freunden der Mutter in der Normandie, in Elbeuf. Hier lernt er die Sprache und Lebensweise der westlichen Nachbarn kennen, eine Erfahrung, die ihn imprägniert gegen den Hass auf den »Erbfeind«.

Heinrich liest eifrig die katholische Zeitung des Elternhauses, vergleicht sie mit anderen Blättern und legt sich ein kleines Archiv an. Er muss am Paulinum wenig Grund zur Klage gegeben haben, sonst hätte ihm der Gymnasialdirektor nicht die »Libri Carminum« von Horaz geschenkt, versehen mit einer handschriftlichen Widmung in lateinischer Sprache: »Den Mann des Rechts, der fest am Entschluss hält, lässt nicht der Volkszorn, der ihn zu Schlechtem drängt, nicht eines Zwingherrn drohendes Antlitz wanken«, beginnen die Verse des Horaz, und Dr. Frey lässt sie in gespenstischer Hellsichtigkeit mit dem Satz enden: »Selbst wenn der Weltbau krachend einstürzt, treffen die Trümmer noch einen Helden!«

4


Der Abend im »Weinhaus Rheingold« dauert länger als gedacht. Brüning hat Bedenken, sich in die Abenteuer zu stürzen, die ihn jetzt erwarten, nicht nur politische, sondern auch gesundheitliche. Sein Parteifreund, der Ex-Kanzler Joseph Wirth, ist robuster, er bietet sich sogleich als Außenminister an. Brüning lässt sich ein Taxi kommen. Früher ist er häufig mit der S-Bahn nach Hause gefahren. Doch als Geschäftsführer des Dachverbands christlicher Gewerkschaften hält er das mit seiner Stellung nicht länger für vereinbar. Seine Bleibe liegt auf der anderen Seite des Tiergartens, in Alt-Moabit. Hier wohnt er in zwei möblierten Zimmern zur Untermiete bei Frau Heidemann. Brüning ist Junggeselle geblieben, ebenso sein Bruder, der Missionar und Priester, der nach Reisen...