Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Fortschritt - Ein Motivationsbuch für Weltverbesserer

Fortschritt - Ein Motivationsbuch für Weltverbesserer

Johan Norberg

 

Verlag FinanzBuch Verlag, 2020

ISBN 9783960925316 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

14,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.

Mehr zum Inhalt

Fortschritt - Ein Motivationsbuch für Weltverbesserer


 

Kapitel 7
Alphabetisierung


»Der Geist ist nicht wie ein Gefäß, das gefüllt werden soll, sondern wie Holz, das lediglich entzündet werden will.«

PLUTARCH1

Als Lasse Berg und Stig Karlsson im Jahr 1977 den armen Landwirtschaftsarbeiter Bhagant in dem indischen Dorf Saijani trafen, wusste dieser nicht, dass er in Indien lebte. Anfangs dachte er, dass der Fotograf Karlsson ein Problem mit seinem Auge habe, da er immer eine Maschine davor halten musste. Seine acht und zwölf Jahre alten Töchter arbeiteten hart im Haus, auf den Feldern und mit den Tieren. Bhagant war ein Dalit, und keiner aus den unteren Kasten in seinem Dorf erhielt eine Ausbildung. Sie konnten nicht die Nachrichten verfolgen, nichts über andere Orte hören oder sich selbst Gehör verschaffen. Das ist einer der Gründe dafür, dass sie in absoluter Armut leben mussten.

Wie wir bereits in Kapitel 4 erfahren haben, ist diese Geschichte glücklich ausgegangen. Als Berg im Jahr 2010 zurückkehrte, kam er in ein Dorf, in dem die Menschen lesen und schreiben konnten. In Bhagants Generation hatte fast niemand eine Ausbildung genossen. In der Generation seiner Kinder erhielten einige eine Ausbildung (leider nicht seine eigenen Kinder). Doch in der Generation seiner Enkel hat fast jedes Kind Zugang zu Bildung. Die Menschen verfolgen die Nachrichten im Internet, laufen mit ihren Mobiltelefonen herum und begreifen sich als Teil einer größeren Welt. Sie diskutieren über Kriege auf anderen Kontinenten und über die globale Preisentwicklung. Bhagant hat jetzt einen Traktor, und sein Enkelsohn nutzt ihn, um für Großbauern zu arbeiten. Seine Enkeltochter Seema wird niemals auf dem Land arbeiten müssen, denn sie wird Computertechnikerin.

Wenn ich verschiedene indische Städte besuchte, war ich immer fasziniert davon, wie häufig man große Kindergruppen in Uniform sah, die zur Schule liefen oder von dort kamen. Seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1947 ist die Alphabetisierungsrate von 12 Prozent auf 74 Prozent gestiegen. Trotzdem hat Indien auch heute noch die größte nichtalphabetisierte Bevölkerung der Welt. Die Alphabetisierungsrate unter den 15- bis 24-Jährigen liegt heute allerdings bei mehr als 90 Prozent.

Lesen und schreiben zu können, hat einer neuen Generation von Indern Zugang zu Informationen und eine Stimme in der Gesellschaft gegeben. Es hat es ihnen ermöglicht, neue Fertigkeiten zu erlernen und neue Ideen zu erhalten, bessere Berufe zu ergreifen und unabhängiger von großen Landeigentümern zu werden. Doch Bhagant hat auch Grund zur Beschwerde. Als Folge der besseren Bildung wissen die Jungen nicht mehr, wo ihr Platz sein soll. Sie widersprechen ihren Eltern und beschweren sich über die Umstände. Sie sind nicht mehr zufrieden, sie wollen mehr vom Leben. Wie Berg es beschreibt: »Es geht meist darum, dass die Dorfbewohner nunmehr ihren Blick von den Äckern, die sie für Generationen gepflügt haben, heben und mit Neugier in eine Welt blicken, die etwas weiter weg ist. Sie haben begonnen, zu träumen.«2

Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, ist eine der wichtigsten, zumal sie uns viele andere Fertigkeiten erst zugänglich macht. Sie ermöglicht es uns, vom Wissen anderer stärker zu profitieren. Das hilft häufig direkt bei der Reduzierung von Armut, weil man sich nun Fertigkeiten und Ideen aneignen kann, durch die man produktiver und fähiger wird, die Technik zu nutzen. Von Bedeutung ist aber auch, dass man dadurch ein aktiver und informierter Bürger wird, dass man der Welt des Wissens und der Unterhaltung folgen und daran teilnehmen kann. Es zeigt sich, dass das einen starken Einfluss auf die eigene Gesundheit und die Gesundheit der Kinder hat.

Gemäß den besten Schätzungen der OECD konnten vor 200 Jahren etwa 12 Prozent der Weltbevölkerung lesen und schreiben.4 Bis dahin war diese Fertigkeit meist etwas, was man in der Bürokratie, der Kirche oder als Händler gebrauchen konnte. Entlang der Seidenstraße, der europäischen Flüsse und über die Sahara hinweg haben Händler Buchstaben und Zahlen entwickelt, um ihre Vorräte und ihre Geschäftsabschlüsse festhalten zu können. In einigen nordeuropäischen Ländern wurden die Fähigkeiten, zu lesen und schreiben, seit der Reformation durch die Kirche verbreitet, doch dabei war das Ziel in der Regel, religiöse Texte lesen und nicht notwendigerweise schreiben zu können. Die meisten Schulen wurden von der Kirche organisiert und fokussierten sich auf religiöse Bildung.

Analphabetismus 1820–2010

Quelle: OECD 20143

Viele Mitglieder der europäischen Elite dachten, es wäre gefährlich, wenn die Armen Zugang zu Bildung erhielten. Sie könnten unzufrieden mit ihrem Leben werden und ihr Schicksal nicht mehr ertragen. Doch während des frühen 19. Jahrhunderts gründeten Philanthropen und gemeinnützige Vereine Armenschulen in Ländern wie Großbritannien, und das Parlament begann, zu diesem Zweck Geld auszugeben. In den 1870er-Jahren wurde eine Grundschulbildung verpflichtend, und ärmere Eltern wurden von den Gebühren befreit. Die Gesellschaft war bereit für die Idee einer weitergehenden Bildung. Gemäß einer Untersuchung aus jener Zeit besuchten sogar vor Einführung der Grundschulpflicht 95,5 Prozent der Kinder in England und Wales eine Schule.5

Alphabetisierung ist ein sogenanntes klassisches Beziehungsgut. Je mehr Menschen tatsächlich lesen und schreiben können, desto mehr kann man davon profitieren, wenn man diese Fertigkeiten besitzt. Und wenn eine ausreichende Anzahl an Menschen alphabetisiert ist, wandeln sich Geschäftswelt und Kultur, sodass es immer schwieriger wird, daran teilzuhaben, wenn man nicht lesen und schreiben kann. In den meisten Gesellschaften wird diese Fähigkeit zum Selbstläufer, je mehr Menschen sie beherrschen. Bereits im Jahr 1631 schrieb Anders Bure über die Einwohner von Norrland, dem dünnbesiedelten nördlichen Teil Schwedens, dass »die Menschen ihre Buchstaben so sehr lieben, dass sie, obwohl es nur wenige öffentliche Schulen gibt, darauf schauen, dass diejenigen, die bereits lesen und schreiben können, die anderen darin unterrichten. Das tun sie mit solch einem Enthusiasmus, dass der größte Teil der einfachen Leute und selbst die einfachen Bauern bereits lesen und schreiben können.«6

Alphabetisierungsfortschritte folgten immer recht rasch auf wirtschaftliche Entwicklung. In Westeuropa, den USA und Kanada hatten ein Anstieg des Einkommens und die Einrichtung eines Bildungssystems die Folge, dass im späten 19. Jahrhundert ungefähr 90 Prozent aller Kinder zur Schule gingen. Zu dem Zeitpunkt hatte eine große Mehrheit grundlegende Lese-, Schreibund Rechenkenntnisse. Es dauerte immerhin noch einmal ein halbes Jahrhundert, bis der gleiche Stand in Osteuropa, Italien und Spanien erreicht war.

Die Verbreitung der Alphabetisierung ereignete sich in Ländern, die später industrialisiert wurden, ebenfalls später. Doch wie bereits in anderen Gebieten festgestellt, passierte auch dies umso schneller. Im frühen 20. Jahrhundert konnten einige der Entwicklungsländer wie Chile, Kuba und Argentinien auf eine Alphabetisierungsrate von 50 Prozent stolz sein, doch in Ländern wie Indien und Ägypten blieb sie unter 10 Prozent. Während die Verbreitung der Lese- und Schreibkenntnisse in Nordeuropa und Nordamerika häufig vor der Einführung staatlicher Schulen bereits weit verbreitet war, spielte das allgemeine staatliche Bildungssystem eine viel größere Rolle im Rest der Welt.

Im Jahr 1900 waren weniger als 10 Prozent der Menschen in Südasien, im mittleren Osten und in Subsahara-Afrika in den Genuss grundlegender Bildung gekommen. Um 1990 herum lag der Anteil bereits bei 50 Prozent; heute liegt er schon bei 70 Prozent. Sogar in Subsahara-Afrika sind es 65 Prozent. In Lateinamerika ist der Anteil der Lese- und Schreibkundigen von 23 Prozent im Jahr 1900 auf 94 Prozent im Jahr 2010 gestiegen und in Ostasien von 30 auf 90 Prozent. Die durchschnittliche Schulzeit eines Kindes ist von 1950 bis 2010 weltweit von 3,2 Jahren auf 7,7 Jahre angestiegen. Das ist mehr als der Durchschnitt in Schweden im Jahr 1950.7

Weltweit stieg die Alphabetisierungsrate von etwa 21 Prozent im Jahr 1900 auf beinahe 40 Prozent im Jahr 1950 und auf 86 Prozent im Jahr 2015. Das bedeutet, dass heute nur noch 14 Prozent der weltweiten erwachsenen Bevölkerung nicht lesen und schreiben können, während im Jahr 1820 nur 12 Prozent lesen und schreiben konnten.8 Trotz aller Unterschiede, die es noch gibt, bedeutet das, dass wir eine enorme Annäherung erleben konnten. Die armen Länder hatten vorher nur etwa ein Achtel des Alphabetisierungsniveaus der reichen Länder. Inzwischen ist es auf die Hälfte angestiegen.9

Einige der bemerkenswertesten Errungenschaften sind erst kürzlich erreicht worden. Seit 1990 ist die Beschulungsquote in Entwicklungs- und Schwellenländern von 80 auf 91 Prozent angestiegen, in Südasien von 75 auf 95 Prozent, in Nordafrika von 80 auf 91 Prozent. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass bei 97 Prozent von einer kompletten Beschulung ausgegangen werden kann. Wenn wir diesen Maßstab nehmen, bedeutet das, dass wir überall auf der Welt eine vollständige Beschulung haben oder kurz davor stehen – außer in Subsahara-Afrika. Doch dort ist der Anteil sehr viel schneller gestiegen als irgendwo anders: von 52 auf 80 Prozent seit 1990.10 Wenn man bedenkt, dass vor dem Zweiten Weltkrieg nur in wenigen Ländern Afrikas mehr als 5 Prozent der Kinder Grundschulen besuchten, ist das eine unglaubliche Errungenschaft.11

Die Zahl der Kinder, die noch nie Schule von innen gesehen haben, ist weltweit zwischen 1990 und 2015 von 100 Millionen auf 57...