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No Exit

No Exit

Daniel Grey Marshall

 

Verlag cbt Jugendbücher, 2020

ISBN 9783641266141 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR

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No Exit


 

August 1992


Leslie traf sich gestern mit mir an der Bushaltestelle. Ich hatte so eine total dunkle Sonnenbrille auf, dass ich fast alle nur als Schatten sah. Ihren hätte ich sofort erkannt, auch ohne diese weiche, distanzierte Stimme, mit der sie meinen Namen rief wie ein Lied aus weiter Ferne.

»Jim.« Dann sah sie mich irgendwie abcheckend an. Ich wurde ein bisschen rot: Ich trug Fetzen, die ich drüben in Jersey von irgendeiner Getto-Wäscheleine gepflückt hatte, kurz bevor ich zur Bushaltestelle ging. Meine vorherigen Klamotten hatten wie die Pest gestunken, außerdem wollte ich auf der langen Fahrt nach Hause nicht angestarrt werden.

»Geht’s dir gut?«

Da musste ich grinsen. »Irgendwie schon, doch.«

Sie ließ ihre Fingergelenke knacken, während sie redete. »Als ich die Message bekommen hab, dass du wieder angerufen hast, hab ich gar nicht gewusst, was ich davon halten soll, aber du hast gesagt, komm zur Bushaltestelle, und da bin ich.« Sie spuckte das so schnell aus, dass es ein bisschen dauerte, bis ich kapiert hatte, was sie da eigentlich von sich gab. Ganz klar war sie nervös, was mir schon auffiel, wenn ich nur in ihre hellblauen Augen sah. Mann, ich hatte ganz vergessen, wie schön sie aussehen konnte. Sie hatte jetzt längere Haare, den Pony bis zur Nase, und dunkler. Irgendwie aschblond, nicht mehr fast weiß wie damals, als sie kaum länger als einen Zentimeter gewesen waren. »Nüchtern?«, fragte sie.

»Yeah.« Ich nickte, und offensichtlich tat ihr auf der Stelle Leid, dass sie was gesagt hatte. Sie war von mir überrascht.

Was aber egal war. Ich zählte nicht.

Dann sah ich weg. Nach Westen. Die Sonne würde bald untergehen. Ich wollte unbedingt die Sonne untergehen sehen. Das hatte ich nicht mehr gemacht, seit ich die Heimreise angetreten hatte.

»Wo bist ’n gewesen?«, fragte sie mich ganz vorsichtig. Ich wusste nicht mal, wo ich hingegangen war, also konnte ich es ihr nicht genau sagen. »Weiß ich nicht.« Sie kräuselte die Lippen.

»Am Meer«, bot ich an und hoffte, sie würde nicht nachhaken.

Sie sah ein, dass sie nicht viel mehr aus mir rauskriegen würde. »Komm mit.« Sie hob den Arm. »Auto steht da drüben.«

Ich kickte mir die Schuhe von den Füßen, fing sie einzeln in der Luft auf und stopfte sie in meine alte Armytasche, die ich immer über der Schulter trug. Die Tasche war wahrscheinlich das Einzige, an dem ich die ganze Zeit über festgehalten hatte, seit ich abgehauen war. Meine Schwester Mandy hatte sie mir geschenkt, als ich zwölf war, und ich habe sie mindestens vier Jahre lang gehütet wie eine Rettungsdecke oder so etwas. In gewisser Beziehung komme ich mir immer noch wie ein verängstigter kleiner Junge vor, der aus Angst vor der Dunkelheit nach seiner Mutter weint.

Wir mussten nicht weit laufen. Das wunderte mich, weil es so nah an der City nie Parkplätze gab. Ich schätze, sie hatte fürs Laufen nicht allzu viel übrig, weil ihr dunkelgrüner Plymouth vor einer Einfahrt parkte. So wie sie aussah, war sie vielleicht auch nur zu ausgeflippt, um es zu merken.

Mir blieb die Luft weg. Auf dem Rücksitz von Leslies verrostetem alten Auto saß mein kleiner Bruder Billy. Gerade mal sechs Monate älter als bei unserer letzten Begegnung, aber er sah aus, als wäre er um sechs Jahre gealtert. Keine braven Kaufhausklamotten mehr. Er trug ein simples Kapuzensweatshirt und Bluejeans. Leslie musste ihm Nachhilfe in Modefragen erteilt haben. Was ihn aber wirklich so viel älter aussehen ließ, waren seine Augen. Sie waren jetzt grauer, wie meine. Früher waren sie babyblau gewesen. Ich hatte ihn immer beneidet. Ich fragte mich, ob Augen aus Trauer die Farbe ändern, so wie man weiße Haare kriegt.

Als er mich sah, lächelte er schief und sagte leise: »Hey, Jimmy.« Ich glaube, er wollte noch was sagen, saß aber einfach nur da mit offenem Mund und rührte sich nicht.

Mein Lächeln war echt. Trotz all unserer Differenzen war er mein kleiner Bruder und ich liebte ihn. Wir waren zusammen unter dem gleichen Dach aufgewachsen; wir wussten beide, was es hieß, mit den Wutanfällen meines betrunkenen Vaters und mit den stillen Tränen meiner Mutter und ihrer Hilflosigkeit fertig zu werden. Wir wussten beide, was es hieß, eine Schwester zu verlieren. Er war mein Bruder und ich liebte ihn.

Als er mich lächeln sah, entspannte er sich einigermaßen. »Kommst du in den Knast, wenn sie dich schnappen, Jimmy?«, platzte es aus ihm heraus, während Leslie und ich ins Auto stiegen. An seiner ängstlichen, aufgeregten Stimme hörte ich, dass er sich freute, mich zu sehen.

»Genau, ich komm in den Knast. Jugendknast, mindestens. Ich hab einen großen Haufen Scheiße gebaut, Kid.« Ich hatte angefangen, ihn Billy the Kid zu nennen, als er ungefähr fünf war. Ich schätze, er fand inzwischen, dass er da rausgewachsen war, aber ich hatte es mir angewöhnt, ihn so zu nennen, und ich glaube, es machte ihm nicht so viel aus, weil es von mir kam.

»So ein Typ in meiner Klasse hat gesagt, sie würden dich umbringen.« Ich hörte, wie die Frage in der Luft hing.

»Die Typen in der Schule sind ein Haufen Scheiße, weißt du doch«, blaffte ich. Ich fluchte zu viel. Billy war erst elf.

»Ich hab nicht gesagt, dass ich ihm das abgenommen hab oder so. Ich sag ja bloß, dass er mir das gesagt hat. Egal, du musst mich nicht gleich so anschreien.« Er zog die Nase hoch.

»Hör mal, Kid, ich hab dich nicht …«, fing ich an und verkniff mir den Rest. Er konnte nichts dafür. »He, tut mir echt Leid.«

Ich drehte mich zu ihm um. »Okay?«

»Yeah, schon okay. Alles ist okay, Jimmy.«

Das hörte sich nicht sehr überzeugend an, aber als ich in seiner Miene nach mir bekannten Anzeichen für Sorge oder Angst oder so irgendwas suchte, fand ich da nichts. Meinem Blick wich er aus.

Leslie saß mit erstarrtem Gesicht hinter dem Steuer und sagte kein Wort.

»Verdammte Scheiße!« Ich sah gehetzt von einem zum anderen, aber keiner sagte was. Ich schätze, ich an ihrer Stelle hätte zu viel Schiss gehabt zum Reden, aber zu dem Zeitpunkt dachte ich nicht ganz klar. Es war mir egal, ob sie sich Sorgen machten oder Schiss hatten. In dem Moment kümmerte ich mich nur um mich, mein Leben, meine Welt, und ich hatte nicht vor, ihnen irgendwelche unbedacht ausgeteilten Verletzungen zu ersparen. »Jetzt sitz ich hier, mir bleiben ein oder vielleicht zwei Tage, bis sie mich für wer weiß wie lang einbuchten, und mein kleiner Bruder und meine Exgeliebte …« Ich sah, wie sie zusammenzuckte und von mir wegrückte. Mann, warum hatte ich das gesagt, was zum Teufel ist mit mir los, ich mach’s kaputt, ich mach’s kaputt. »Ach, Scheiße, ich mach’s kaputt«, keuchte ich und fing an zu schluchzen. Da saß ich mit gesenktem Kopf und starrte auf meine Hände. Ich spürte, wie Leslie meine linke Schulter berührte, Billy meine rechte. Ohne aufzublicken, aber froh über ihre tröstenden Hände, redete ich ganz leise weiter. »Sagt was, okay? Redet einfach mit mir wie mit einem Menschen, so wie früher, wisst ihr noch?«

»Klar.« Es war Leslie, die das sagte, und es war ihre Stimme, die ich am meisten brauchte, obwohl ich mir sicher war, dass ich ihr gerade das Herz gebrochen hatte. »Wo willst du hin?« Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Ich schätze, ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, was ich tun wollte, wenn ich wirklich mal da war. Einen Tag nach dem anderen, Mann, so hatte ich die Dinge angehen müssen, als ich noch auf der Flucht gewesen war. Ich wollte nicht nach Hause, das war das Einzige, was ich ganz sicher wusste. Ich schwieg eine ganze Weile. In meinem Kopf fand ich nichts, was auch nur entfernt an eine gute Idee erinnerte. Ich wusste, viel Zeit blieb mir nicht. Ich wollte was draus machen, wenn ihr wisst, was ich meine.

Leslie und Billy sagten einfach nichts, ich schätze, sie warteten auf meine Antwort. Ich glaube, sie spürten, was es mir bedeutete, und wünschten mir, dass ich mich entscheiden könnte.

Nichts. Tote Luft, tote Gedanken.

Dann, ganz plötzlich, zong, in einer Millisekunde, wusste ich genau, was ich tun wollte. Wie ein bescheuerter Blitz, der mir direkt ins Genick fuhr, Mann, und außer mir konnte niemand den Donnerschlag hören. »Gehen wir angeln!«

Stille. Sie sahen mich an, als ob ich komplett durchgeknallt wäre, als ob das die schwachsinnigste Idee wäre, die mir einfallen konnte, und ich fand sie großartig. Mir gefiel die Brillanz, die verdammte Großartigkeit, die schlichte Schönheit dieser Idee, so gut hatte mir in meinem ganzen Leben noch nie etwas gefallen.

Ein bisschen Überredungskunst war angesagt, aber nach reichlich irrem Gequatsche meinerseits und vielsagenden Blicken zwischen den beiden – ich vermutete, dass sie eine Menge Zeit zusammen verbracht hatten, während ich weg gewesen war – stimmten sie zu. Wir brüteten einen Plan aus, wie wir an Angelruten kommen konnten, waren alle drei total ausgelassen und albern, redeten durcheinander über unsere kindischen Pläne für den Abend, und dann kam es mir so vor, als ob meine letzte Nacht in Freiheit noch richtig lang werden könnte.

So was liebte ich. Es machte mir tierischen Spaß, vor lauter Aufregung echt auszuflippen, nach Luft zu japsen, mir verrückte Pläne auszudenken und an ihnen herumzufeilen. Und ich weiß nicht genau, warum, aber ich fand, diese Zeit so zu verbringen, war genau das Richtige. Ihr wisst schon, ruhig, heiter, barfuß im dunkelgrünen Seewasser, lachen, reden, einfach abhängen, einfach sein. In letzter Zeit sind manchmal die nackten Grundlagen meines Daseins – atmen, reden,...