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MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Salvatore Sciarrino

MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Salvatore Sciarrino

Ulrich Tadday

 

Verlag edition text + kritik, 2020

ISBN 9783869168258 , 204 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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31,99 EUR

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MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Salvatore Sciarrino


 

[4|5] Camilla Bork

Hörbare Körper


Rahmung und Transgression in Salvatore Sciarrinos Lohengrin

Das Musiktheater der 1960er bis 1980er Jahre lässt sich in wichtigen Zügen als ein Theater der Stimme beschreiben, vor allem der Frauenstimme. Neben Erkundungen aller möglichen Zwischenbereiche zwischen Sprechen und Singen wurden Alltagstonfälle und Geräusche in die Vokalkunst integriert, wie Schluchzen, Gähnen, Schlucken u. Ä., die nun zum Grundvokabular der sogenannten »New Vocality« gehörten. In enger Zusammenarbeit mit Performerinnen wie Cathy Berberian und Martine Viard erforschten Komponisten wie John Cage, Luciano Berio und Georges Aperghis den affektiven Gehalt von Stimme jenseits wortbezogener Semantik. Dabei geht es in vielen dieser Werke bzw. Performances um das Aushandeln von Geschlechterrollen. Und zwar meist unter Bezugnahme auf historische Modelle: sei es als burleskes Spiel mit typischen Gesten der Belcanto-Oper des 19. Jahrhunderts in Berios Recital 1 for Cathy (1972) oder als Erkundungen verschiedener Formen von Bühnenfeminité in Aperghis’ Récitations (1978). Letztere reichen von den Explosionen mechanischer Wiederholungen in Anspielung auf die Rossini’sche Buffo-Oper bis hin zu typischen Tonfällen Pariser Diseusen des Kabaretts.1

Salvatore Sciarrinos Musiktheater der 1980er Jahre scheint auf den ersten Blick denkbar fern von diesem Repertoire. Exzessive Vokalität weicht bei Sciarrino pulverisierten Gesten am Rande des Hörbaren. Die Stimme ist nicht mehr Zentrum, sondern eingebettet in geräuschhafte Instrumentalklänge, mit denen sie manchmal bis zur Ununterscheidbarkeit verschmilzt. Wie bei Aperghis und Berio aber lässt sich auch bei Sciarrino ein Spiel mit Geschlechterrollen und Operntopoi beobachten, das im Folgenden anhand seines 1983 uraufgeführten Einakters für Frauenstimme Lohengrin in einigen Punkten analysiert werden soll.2 Historischer Bezugspunkt ist dabei weniger Wagners [5|6]Lohengrin, wie man vom Titel her vermuten würde. Abgesehen von einigen harmonischen Anspielungen sind die musikalischen und musikdramaturgischen Anbindungen eher lose. Wichtiger scheint stattdessen das aus der traditionellen Wahnsinnszene der Oper bekannte dramaturgische Muster von Rahmung und Transgression, das hier auf vielfältige Weise dekonstruiert wird.3

Weiblicher Wahnsinn gehört seit jeher zu den großen Themen der Operngeschichte: Donizettis Lucia di Lammermoor, Elvira aus Bellinis I Puritani und Strauss’ Salome – fast immer ist es eine der weiblichen Hauptfiguren, deren Vernunft als Folge sexueller Fantasien oder Exzesse auf dem Spiel steht. Das sollte sich auch im 20. Jahrhundert nicht ändern. Unter dem Einfluss von Jean-Martin Charcots Studien zur Hysterie und der Freud’schen Psychoanalyse entwickelte sich gar eine eigene Gattung des Musiktheaters, die die Traumatisierungen weiblicher Psyche in den Mittelpunkt rückt: das Monodram. Bekannteste Beispiele sind neben Arnold Schönbergs Erwartung (1909) vor allem Francis Poulencs La Voix humaine (1959), in der die Protagonistin am Rande des Selbstmords ihren Geliebten am Telefon zu überzeugen versucht, zu ihr zurückzukehren. Im zeitgenössischen Musiktheater spielt die Auseinandersetzung mit Wahnsinn vor allem im Werk Peter Maxwell Davies eine herausragende Rolle und macht zugleich deutlich, dass die Thematik keineswegs nur Frauen vorbehalten ist.4 In seinen Eight Songs for a Mad King (1969) erkundet er ausgehend von den vokaltechnischen Extremleistungen Roy Harts die Zusammenhänge von Wahnsinn und Gewalt. Seine beiden später entstandenen Monodramen für Frauenstimme Miss Donnithorne’s Maggot (1974) und The Medium (1981) fokussieren hingegen Wahn als Folge enttäuschter Liebeshoffnung bzw. als Erinnerung vergangener Traumatisierung.

Charakteristisch für die Wahnsinnsszenen des 19. Jahrhunderts und zum Teil auch noch für die Monodramen der Avantgarde ist das von der feministi[6|7]schen Kritik immer wieder herausgearbeitete und kritisierte Verhältnis von Rahmung und Transgression: In Lucia di Lammermoor etwa befinden sich auf der Bühne Zuschauer, die Lucias Wahnsinnsanfall kommentieren. Sie und ihre Musik bilden gewissermaßen den »Normalzustand«, von dem sich Lucias Wahnsinn als Überschreitung von Grenzen der Vernunft und der Moral, aber auch des musikalisch Gewöhnlichen abhebt.

Das Verhältnis von Rahmung und Transgression ist in vielen Fällen allerdings alles andere als stabil. Gerade neuere Forschungen, u. a. von Carolyn Abbate, haben gezeigt, wie in der Wahnsinnsszene der herkömmliche, tradierte Dualismus von männlich sprechendem Subjekt und weiblich betrachtetem Objekt immer wieder infrage gestellt wird. Wahnsinn auf der Opernbühne meint im 19. Jahrhundert eben auch eine Explosion weiblicher Kreativität in den Verzierungskünsten der Primadonnen, meint atemberaubende Koloraturen und Virtuosität und in den Monodramen der Avantgarde eine Entfaltung stimmlicher Fähigkeiten und körperlicher Präsenz im Moment der Aufführung, die den Zuhörer betört und in den Bann schlägt und die dramaturgische Rahmung zu unterlaufen droht.5

Auf den ersten Blick reiht sich auch Sciarrinos Lohengrin in die oben skizzierte Tradition des Monodram ein: Wir haben es mit einer Protagonistin (Elsa) zu tun, die zutiefst traumatisiert psychische Extremzustände durchlebt und schließlich im Epilog in der Klinik erscheint. Diese psychischen Extremzustände, so könnte man meinen, bilden für den Komponisten die dramaturgische Motivation, ein hochvirtuoses Vokabular an Geräuschen und Stimmlauten als kompositorisches Material zu entwickeln, das am Schluss, in der Klinik, der Normalität der Musiktheaterbühne, dem Gesang weicht. Aber schon dieser Schluss zeigt, dass diese Deutung nur zum Teil aufgeht. Vor dem Hintergrund zeitgenössischen Musiktheaters wären es wohl eher das Flüstern, Röcheln und Spucken, die zum erwarteten Vokalidiom gehören als das ungebrochene Singen einer volksliedhaften Melodie.

Sciarrinos musiktheatrale Reflexion über weiblichen Wahnsinn vollzieht sich zu einem Zeitpunkt, als »Rahmung« und »Transgression« als Denkmuster über Wahnsinn nicht nur als operndramaturgisches Modell, sondern auch als kulturelle bzw. institutionelle Praktik im Italien der 1970er und frühen 1980er Jahre infrage gestellt wurden. 1978 verabschiedete die italienische Regierung das sogenannte »Basaglia-Gesetz«, das zu einer Schließung aller psychiatrischen Kliniken führte. Es war der Höhepunkt einer jahrzehntelangen Anti-Psychiatrie-Bewegung, die – ganz wesentlich durch den Psychiater Franco Basaglia geprägt – sich gegen Ausschluss psychisch Kranker aus der Gesell[7|8]schaft wandte und darauf drang, die sozialen Ursachen psychischer Erkrankungen ernst zu nehmen.6

Wie verhält sich nun Sciarrinos Lohengrin zum Monodram und den damit verbundenen Weiblichkeitskonzeptionen, und welche Rolle spielen dabei die Setzungen von Rahmung und Transgression? Auf der Ebene des Textes gibt es ganz klar eine Referenz auf diese historische Tradition des Monodramas: So wie bei Lucia die Zuschauer auf der Bühne einen Rahmen bilden und Lucias Wahnsinn als Transgression markieren, so scheint auch die Klinik bei Sciarrino einen institutionellen Rahmen zu konstituieren, der alles vorangehende Geschehen als Wahn entlarvt, es pathologisiert. Allerdings – so die im Folgenden entwickelte These – wirkt das Verhältnis von Rahmung und Transgression hier nur noch als historische Referenz im Text und wird zugleich durch die Musik dekonstruiert. Musikalisch wird der Hörer in Perspektiven geführt, die sich jeder Festlegung von Rahmen und Exzess, von Normativität und Wahn entziehen. Erreicht wird dies u. a. durch eine mehrdeutige Strukturierung musikalischer Zeit sowie durch die Unmöglichkeit, Elsa als klanglichen Charakter klar zu umreißen und von einem wie auch immer gearteten »Außen« abzugrenzen. Zunächst evozierte semantische Bezüge und (Gender-)Identitäten lösen sich im Zusammenspiel von Stimme und Ensemble im Verlauf des Stückes zunehmend auf. Dieser Prozess soll im Folgenden unter den Stichworten »Lektüre«, »Entgrenzung« und »Vielstimmigkeit« an einigen Beispielen verfolgt werden.

I Lektüre


Sciarrinos Lohengrin entstand 1982/83 und wurde am 15. Januar 1983 in der Piccola Scala in Mailand in einer Inszenierung von Pier’Alli uraufgeführt. Gabriella Bartolomei, deren stimmliche Möglichkeiten wesentliche Anregungen zur Konzeption des Vokalparts lieferten, verkörperte die Rolle der Elsa.7 1984 überarbeitete Sciarrino die Partitur und publizierte schließlich die neue, von der RAI in Auftrag gegebene Fassung im selben Jahr bei Ricordi. Er bezieht sich in Lohengrin nicht direkt auf Wagner, sondern auf einen Prosa-Text des französischen Symbolisten Jules Laforgue. Laforgue publizierte diese Wagner-Parodie mit dem Titel »Lohengrin, fils de Parsifal« 1887 in seiner Sammlung Moralités legendaires.8 Er verspottet darin seinen eigenen Wagner- und [8|9]Künstlerkult sowie den seiner Zeitgenossen, indem er das Geschehen der Oper auf einige Kernsituationen reduziert: die Anklage Elsas, die Ankunft Lohengrins, die darauf folgende Hochzeit und die Hochzeitsnacht. Lohengrin ist bei Laforgue weder ein strahlender Held noch ein furchtloser Streiter, sondern...