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Der Albschreck - Historischer Roman

Der Albschreck - Historischer Roman

Martin C. Eberle

 

Verlag epubli, 2020

ISBN 9783750283626 , 182 Seiten

15. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz frei

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3,49 EUR

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Der Albschreck - Historischer Roman


 

9. Das rote Zunftzeichen


 

Der Ritt nach Nürtingen am 9. August 1806 führte links vorbei an Linsenhofen und Frickenhausen. Nach jeweils ca. 1 Kilometer machte Oktavius eine kurze Pause. Oktavius wollte nur sichergehen, dass keine Soldaten oder Spitzel in der Nähe waren. Wegen der pechschwarzen Nacht musste er sich mehr auf sein Gehör als auf seine Augen verlassen. Sein treues Pferd Blitzle hat gespürt, dass dieser Ritt sehr brisant war. Kein Wiehern war vom Blitzle zu hören. Das Schnauben durch seine Nüstern war kaum noch wahrzunehmen. Bis kurz vor Nürtingen auf dem Lerchenberg ging alles gut. Gott sei Dank.

Oktavius stieg von seinem Pferd ab und hielt es an den Zügeln. Nach fünf langen Wochen sah er auf seine Geburts- und Heimatstadt Nürtingen. Er sah trotz der pechschwarzen Nacht die Silhouette der Stadt mit dem 48 Meter hohen Kirchturm der Laurentiuskirche. Die Häuser mit den Giebeldächern, die sich harmonisch miteinander verbanden. Seine Geburts- und Elternhaus war wegen Dunkelheit nicht zu erkennen. Aber auch ohne klare Sicht wusste Oktavius, wo sich das Haus in der Siedlung Kleintischardt befand. Die Siedlung mit seinem Elternhaus in der seine herzallerliebste Luise wohnte. Die letzte Phase der Befreiungsaktion konnte beginnen.

Er band sein Blitzle an einem Baum fest. Versteckt inmitten von hohem Gestrüpp. Zu Fuß ging es weiter durch Baumwiesen Richtung Elternhaus. Um nicht entdeckt zu werden, huschte Oktavius von Baum zu Baum. Mit einem kurzen Rundumblick vergewisserte er sich, dass nichts Gefährliches in seiner Nähe war.

Kurz nach zwei Uhr in der Nacht. Circa 500 Meter entfernt von seinem Ziel durchdrang ein kaum wahrnehmbares Wimmern und Stöhnen die Stille der Nacht. Ein Wehklagen von mehreren Menschen. Sein zielstrebendes Vorhaben, Luise in Sicherheit zu bringen, kam ins Wanken. Auf der einen Seite sein Elternhaus in der Luise sich befand. Auf der anderen Seite das Wehklagen der Menschen. Was soll er tun? Zwei innere Stimmen, die Stimme des Herzens oder die Stimme des Helfens, kämpften gegeneinander. Wer wird gewinnen? Obwohl seine Sehnsucht nach Luise unermesslich war, entschied er sich für die wehklagenden Menschen. Mit der Gewissheit, dass Luise diese Entscheidung ihm später verzeihen würde, machte er sich schleichend auf den Weg.

Er wusste noch nicht genau, woher dieses Wehklagen kam. Doch sein Gehör ließ ihn nicht im Stich. Es wies ihm in der Dunkelheit den Weg zu einem der Nürtinger Mauertürme. Es war der Blockturm. Nach dem Durchwaten der Steinach, einem Zufluss zum Neckar, verharrte Oktavius bäuchlings an der Uferböschung. Inmitten eines der vielen städtischen Sträucher- und Blumenbeete. Einst, eines der Zierden von Nürtingen, waren diese jetzt in einem desolaten Zustand. Denn es galt das Motto von König Friedrich I.: "Mit Blumen gewinnt man keinen Krieg".

Mit nassen Füssen und der Angst im Genick konnte Oktavius aus dem Wehklagen die Wörter heraushören:

»Hilfe«, »Lasst uns hier heraus«, »Erbarmen«,

»Wasser«.

Besonders das Wort Wasser traf Oktavius wie ein Stich in seine schwäbische Seele. War es Wirklichkeit, dass Nürtinger oder andere Bürger in den Blockturm gesperrt wurden? Ohne Wasser? Oktavius überlegte, wie er den Insassen des Blockturmes helfen könnte. Er hob seinen Kopf etwas in die Höhe, um einen besseren Überblick über den Vorplatz des Blockturmes zu bekommen.

Da sah er zwei Soldaten des Königlichen Regimentes friedlich schlafend links neben dem Blockturm liegend. Deren Gewehre mit Bajonetten standen achtlos angelehnt an der Blockturmmauer. Für Oktavius war es die Chance. Oktavius robbte nun in Richtung Blockturm. Etwa 10 Meter vor dem Blockturm, erhob er zum zweiten Mal seinen Kopf, um die Lage genauer zu erspähen. Neben den schlafenden Soldaten sah er mehrere Glasflaschen herumliegen. Handwerkerutensilien wie Hammer, Seile, Farbkübel, Pinsel und andere Werkzeuge waren am Blockturm abgestellt. Handwerkszeug von Maurern und Anstreichern. Sollte der Turm ausgebessert werden?

Oktavius hatte eine Idee. Er ging vorsichtig zum Blockturm. Hoffentlich hatten die zwei Soldaten einen tiefen Schlaf. Er nahm einen leeren Handwerkerkübel. In den Kübel legte Oktavius ein Seil und einen Holzpflock. Vom Boden hob er vier Glasflaschen auf. Sie waren leer. Eine der Glasflaschen schaute er kurz genauer an. Auf dem fast abgegriffenen Etikett stand "Edler Nürtinger Wein". Dieser Nürtinger Semsakrebsler hat wieder einmal zugeschlagen. Aber diesmal mit hartem Resultat. Denn bei der Anzahl der leeren Weinflaschen konnte Oktavius sicher sein, dass die königlichen Wachen ihren Dienst in den nächsten Stunden nicht mehr wahrnehmen könnten. Und selbst wenn diese aufwachen würden, könnten ihre Soldatenschädel keinen klaren Gedanken fassen.

Oktavius ging zur Steinach und füllte die Flaschen mit dem klaren Wasser. Hastig eilte er zurück. Oktavius stellte die gefüllten Flaschen in den Handwerkerkübel. Den Kübel, gefüllt mit Seil, Pflock und den Wasserflaschen unter den Arm geklemmt, ging er zum Blockturm auf die rechte Seite. Durch die Rundung des Blockturmes war ein Sichtschutz zu dem Schlaflager der Soldaten gegeben. Neben der Dienstunfähigkeit der Soldaten war mit diesem Sichtschutz ein weiterer kleiner Sicherheitsfaktor vorhanden. Doch musste Oktavius immer mit unregelmäßigen Kontrollgängen anderer Soldaten rechnen. Es war trotz der zwei Sicherheitsfaktoren höchste Vorsicht geboten.

Als "alter" Nürtinger wusste Oktavius, dass sich auf der rechten Seite des Blockturmes in circa fünf Meter Höhe eine Maueröffnung befand. Die Öffnung hatte etwa die Größe eines Fensters und diente als Luft- und Lichteinlass zu dem Verlies mit den wehklagenden Gefangenen.

Mit flinken Fingern verknüpfte Oktavius das Seil mit dem Handwerkerkübel. Am anderen Ende des Seiles schnürte er den Holzpflock fest. Einen Sichtkontakt zu den Gefangenen war wegen der Bauweise des Blockturmes nicht möglich. Somit musste nun alles blindlings geschehen.    Oktavius packte das Seil mit dem Holzpflock und schwang es hin und her wie ein Pendel. Bei diesem Hin und Her steigerte er die Schwingung kontinuierlich. Als er die Schwingungskraft für ausreichend hielt, schleuderte er den Holzpflock nach oben Richtung Maueröffnung. Doch der Pflock verfehlte das Ziel und knallte links an die Mauer. Ein Fehlschlag, hoffentlich drang der Aufprallknall nicht in die Gehörgänge von wachen Soldaten. Ein zweiter Versuch scheiterte rechts an der Mauer.

Noch ein drittes Mal. Jetzt musste es funktionieren. Oktavius darf den Risikobogen nicht überspannen. Nach dem wiederholten Schwingungsprozedere schleuderte er den Holzpflock nochmals Richtung Maueröffnung. Gespannt verfolgte er die Flugbahn des Pflockes. Dieses dritte Mal musste es doch klappen. Ein Volltreffer, es hat geklappt. Der Holzpflock flog exakt in die Maueröffnung, ohne anzuecken. Ein leises Geklapper auf den Holzdielen im Verlies des Blockturmes gab Oktavius die Gewissheit, dass der Holzpflock sein Ziel erreicht hat.

Das Wehklagen der Menschen in diesem Verlies verstummte. Einer der Insassen nahm den Holzpflock mit dem Seil auf und schaute sich fragend um. War es ein Wink des Schicksals oder war es ein Soldatenspaß? Dieser Insasse zog zunächst etwas zögerlich und nur kurz an dem Seil. Oktavius bemerkte dies und zog ebenfalls nur kurz am anderen Ende des Seiles. Für den Insassen im oberen Blockturmbereich war es das Zeichen, dass er etwas hochziehen sollte. Mit kräftigen Zügen zog er den Kübel mit den Flaschen hoch.

Oktavius konnte noch sehen, wie der Kübel durch die Maueröffnung in den Blockturm verschwand. Dort wurden die Glasflaschen mit Wasser verteilt. Im Nu waren die Flaschen leer. Oktavius ungeplanter kleiner Hilfsdienst war erledigt. Mehr konnte er im Moment nicht tun. Nach einem kräftigen Durchatmen galt es jetzt sein ursprüngliches Vorhaben zu erfüllen. Seine Herzensmission Luise.

Vom Blockturm schlich Oktavius vorbei an den noch schlafenden Soldaten. Von diesen Soldaten bestand keine Gefahr. Denn der Nürtinger Semsakrebsler hatte eine verheerende Langzeitwirkung. Nun aber schnell in Richtung Elternhaus. Doch ohne Grund blickte Oktavius noch einmal auf die Handwerkerutensilien. Wie von Geisterhand geführt ging er zielstrebend auf einen Farbkübel gefüllt mit roter Farbe.

Er nahm eine der herumliegenden Pinsel und malte flink das Zunftzeichen der Wagner an die Mauer des Blockturmes. Das Zunftzeichen war ein Wagenrad mit acht Speichen. Warum er das gemacht hat? Sollte das rote Wagenrad ein Denkzettel für die württembergische Obrigkeit sein, mit der schwäbischen Deutung Grad zom Bossa!?

Jetzt aber gilt nur eins, seine Herzensmission! Denn die Nacht am 9. August 1806 wird sich bald verabschieden. In östlicher Richtung wurde es am Horizont schon etwas hell. Die Natur bereitete sich langsam auf einen neuen Sommertag vor.

Oktavius eilte zu seinem Elternhaus, zu seiner Luise. Er durchwatete die Steinach, nein er durchpflügte das Wasser des Baches. Mit jedem Schritt, der ihn zu seiner geliebten Luise näherbrachte, schwand seine Angst von den Soldaten entdeckt zu werden. Kein Blick nach links, kein Blick nach rechts und kein Blick zurück. Die Liebe zu Luise hatte ihn fast blind werden lassen. Unbemerkt erreichte Oktavius sein Elternhaus. Hielt der Schwabengott schützend seine Hände über Oktavius Sorglosigkeit?

Am Elternhaus angelangt öffnete Oktavius die Haustür. Mit schnellem Schritt die Treppe hoch. Er benötigte nur jeden vierten Treppenabsatz. Endlich stand er vor...