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Überbitten

Überbitten

Deborah Feldman

 

Verlag btb, 2020

ISBN 9783641269937 , 704 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Überbitten


 

»Alle sieben Jahre sollst du ein Erlassjahr halten.«

Deuteronomium 15:1

VORWORT


IN WILLIAMSBURG, wo ich innerhalb der Grenzen der chassidischen Satmarer Gemeinde aufwuchs, lehrte man uns Kinder früh die alten biblischen Gesetze aus der Zeit der Tempel, jener Periode vor der Diaspora, als die jüdischen Menschen noch einen Sinn dafür hatten, was ein Zuhause bedeutete und die Würde, die sich daraus ergibt. Diese Gesetze fühlten sich für uns wie abstrakte Ideen an, sie waren Teil eines großen Erbes, das uns zum Trost gereichen sollte, das auch einzusetzen wir aber nur selten die Gelegenheit erhielten.

Die Ausnahme bildete der Garten meiner Großmutter, vielleicht sogar eines der letzten Fleckchen Erde in Williamsburg, das nicht völlig zubetoniert war. Dieser Garten war die persönliche Zufluchtsstätte meiner Bubby, ein Stück Natur im Kleinen, in das sie sich zurückzog, wenn es sie nach Ruhe und Frieden verlangte, wohingegen mein Großvater alles dafür tat, diesem Refugium eine religiöse Ordnung aufzubürden, ganz so, wie er es mit allen Dingen in seinem Leben hielt. Gut möglich, dass ihm dies nach dem Chaos, das er während des Krieges hatte durchleben müssen, ein wenig Trost spendete.

Wie auch immer, es war die Ordnung der Natur selbst, der sich meine Großmutter, auch sie eine Holocaustüberlebende, verpflichtet fühlte. Der Konflikt, der während ihrer gesamten Ehe zwischen ihnen gärte, kann sehr wahrscheinlich auf diese beiden miteinander im Wettstreit liegenden Formen der Loyalität zurückgeführt werden, und vielleicht gilt das auch für jenen Konflikt, der schon früh in mir selbst zu gären begann. Im Falle meiner Großeltern war es mein Zeide, der schließlich triumphierte. Der Garten, den meine Großmutter über Jahre hinweg so liebevoll kultiviert hatte, wurde einem uralten religiösen Gesetz unterworfen, dessen starre Anwendung sich für dieses Paradies im Kleinen als tödlich erwies und in gewisser Weise zum Verlust jener Großmutter führte, die ich kannte und liebte, was ich jedoch erst Jahre später realisieren sollte, als ich mit ihrer plötzlichen körperlichen Abwesenheit schwer zu kämpfen hatte.

Während meiner ausschließlich religiösen Erziehung auf der privaten Mädchenschule wurde ich unter anderem über die umfangreichen landwirtschaftlichen Gesetze im alten Israel unterrichtet, und mir wurde beigebracht, dass man damals das Land jedes siebte Jahr ruhen ließ. Auf Hebräisch sagt man dazu Schmitta, oder Schabbatjahr. Gott hatte befohlen, das Land in dieser Zeit brachliegen zu lassen. Keine landwirtschaftliche Tätigkeit war erlaubt, nichts, was in irgendeiner Form dem Wachstum hätte dienlich sein können. Jegliche Frucht galt als herrenlos, sie war sich selbst überlassen und fiel zu Boden, sobald ihre Zeit gekommen war. Den Armen war gestattet, private Ländereien zu betreten und sie dort für sich aufzusammeln. Jegliche Schuld war erlassen. Es war wie ein Neubeginn, für das Land, aber auch für die Menschen, die sich auf ihm abplagten. Es galt als eine Art Prüfung religiösen Gehorsams, der in den nachfolgenden Jahren mit reichen Ernten belohnt werden würde.

In der Welt, in der ich aufwuchs, kam man in der unerbittlichen Ordnung religiöser Dogmen nicht zu Atem. Aber ich erinnere mich, wie sich schon damals, als mein Großvater gnadenlos die alten landwirtschaftlichen Gesetze auf dieses kleine, überforderte Stück Land hinter unserem Wohnhaus anwandte, abwegige Gedanken durch den lockeren Nährboden meines jungen Geistes gruben, ganz ähnlich den rundlichen Regenwürmern, wie sie meine Großmutter häufig unter den Sträuchern sich windend vorgefunden hatte, denn ich mutmaßte bereits damals, dass die Gesetze Gottes doch nicht dafür vorgesehen sein konnten, das Land abzutöten, sondern es wieder aufzufrischen. Ich stellte mir vor, dass ich Gott besser kannte als irgendeiner der alten und weisen Menschen um mich herum; ich nahm an, dass sie ihn schmerzlich missverstanden hatten. So denkt die Arroganz einer Kindheit, die keine elendsvollen Erniedrigungen oder Leiden gekannt hat. Diese Menschen jedoch hatten die Apokalypse überlebt, und sie hatten einen neuen, postapokalyptischen Gott beschworen, einen Ausbruch unkontrollierter Wut, und folglich machte meine Gemeinschaft keinen Gebrauch mehr von den vielen Nachsichtigkeiten und Freiheiten, wie etwa den ausgefeilten Stickarbeiten auf einfacher Kleidung, die unsere Religion einst ausgezeichnet hatten. Stattdessen trachteten sie danach, die schlichtesten Kleider fortwährend noch fester zu binden, und hofften dabei, die Enge von Ordnung und Glauben würde den Sinn für Sicherheit wieder heraufbeschwören, der ihnen auf ewig entrissen worden war. Je offener die Welt um sie herum wurde, desto weiter zogen sie sich zurück.

Auch ich hätte mich wohl, als ich in unserem kleinen Shtetl mündig wurde, diesen Regeln anheimgeben sollen, aber irgendwie hatten sich die Kräfte in mir verschworen und genügend geistigen Freiraum geschaffen, um darin unabhängiges Gedankengut gedeihen zu lassen. Später, als ich dringend jenen physischen Raum benötigte, in dem ich meine Vorstellungen umsetzen konnte, ging ich fort, um niemals mehr zurückzukehren. Und indem ich diesen Schritt in die Außenwelt tat, war ich prompt versucht, die zwingend notwendige Persönlichkeit, die ich in all diesen Jahren wie eine Schutzhülle getragen hatte, abzustoßen, voller Hoffnung, dass das, was sich von unten emporarbeiten würde, mein wahres Selbst wäre, gleich einem Schössling in frisch gepflügter Erde.

Ich entdeckte recht bald, dass meine beiden Persönlichkeiten – jene, die ich als authentisch, und jene, die ich als falsch ansah – Wurzeln geschlagen hatten, die beim Fluchtprozess untrennbar voneinander, als Bündel eines Ganzen, der Erde entrissen worden waren. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass jegliches Abhacken vom Wurzelballen mit dem Ziel, diejenigen Teile meiner Identität abzusondern, von denen ich mich befreien wollte, mehr Schaden anrichtete, als Gutes bewirkte.

Als ich mich auf der anderen Seite jener unsichtbaren Barriere, die mich immer eingeengt hatte, wiederfand, spürte ich, dass meine Zukunft irgendwo dort draußen lag und meiner wartete, aber ich verfügte über keine Orientierungsmittel, um durch den leeren Raum zwischen diesen beiden Punkten – dem, was war und dem, was kommen sollte – zu navigieren, abgesehen von dem moralischen Kompass, den meine Großmutter in mich eingepflanzt hatte, deren Geist nun in mir lebendig zu werden schien und wie eine zitternde Magnetnadel dem geografischen Norden zustrebte. Es war diese Kraft, die mir zu verstehen half, dass der Schlüssel, mit dem eine auch noch so dunstverschleierte Küste erreicht werden konnte, nicht etwa in der Ablösung von meiner Vergangenheit lag, sondern vielmehr im Zurückgreifen auf ihre Fäden, die es mit der Zukunft zu vernähen galt. Also tastete ich den Stoff rückwärtslaufend ab, um eine Stelle zu erfühlen, wo das Gewebe noch fest genug war, um Ankerfäden halten zu können. Ich wollte die Risse verweben, so wie man eine Wunde näht; die Kräfte miteinander versöhnen, die stets als Widersprüche in Erscheinung traten, in Wahrheit jedoch die ganze Zeit über sich ergänzende Teile eines Ganzen waren.

Ich spürte die magnetische Wirkung des europäischen Kontinents, jenes Raumes, den meine Gemeinschaft zu verbrannter Erde erklärt hatte, und ich bereiste ihn, um diesen großen Mythos, der über meiner Kindheit schwebte, aus nächster Nähe zu betrachten. Aber wo ich erwartete, auf Ödnis zu stoßen, fand ich im Gegenteil eine Vielfalt an Arten vor. Ähnlich, wie es die Beschreibung jener landwirtschaftlichen Zyklen im Heiligen Land vorsah, hatte Verzicht unweigerlich und auf natürliche Weise den Weg zu Heilung und Regeneration geebnet.

Auf sieben Schmitta-Zyklen folgt das Jubeljahr, das Jahr der Barmherzigkeit, ein Jahr, in dem Sklaven und Gefangene freigelassen werden. Wie es im Levitikus 25 heißt: Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt ein Freijahr ausrufen im Lande allen, die darin wohnen; denn es ist euer Halljahr. Da soll ein jeglicher bei euch wieder zu seiner Habe und zu seinem Geschlecht kommen. Natürlich war mir stets bewusst, dass ich nie wieder zu jener Familie zurückkehren konnte, die mich großgezogen hatte, aber ich konnte zurückkehren zu dem Landstrich, auf dem meine Familie einst ansässig war, und der nun brachgelegen hatte für eine Spanne von zehn Schmittas, drei Menschengenerationen, siebzig Kalenderjahre, und auf ihm zu leben, würde bedeuten, ihn wiederzubeleben.

Inzwischen sind genau sieben Jahre seit meiner Flucht vergangen, und jenen beiden Persönlichkeiten, die sich Seite an Seite und doch getrennt voneinander entwickelt hatten, war es schließlich erlaubt, sich zu verflechten, und damit ging das erste wirkliche Gefühl für ein vollständiges Selbst einher, hier in dieser alten und doch neuen Welt. In meinem Bewusstsein trage ich noch immer die Erinnerung an die Vergangenheit, aber nicht nur an die jüngste, sondern auch an die entferntere, ältere Vergangenheit, die dieser vorangeht, jene, die die letzten drei Generationen auf einen Webfehler in einem fadenscheinigen Stoff reduziert hatte, und aus diesem Grund habe ich die Fähigkeit erworben, die Zukunft als etwas Grenzenloses und Unbestimmbares zu vergegenwärtigen, als etwas, das in unseren vielen Händen liegt und nicht etwa in den Händen eines reizbaren und einzelnen Gottes.

Sieben Jahre lang war ich eine Art Flüchtling. Ich platzte in diese Welt, indem ich jene Öffnungen nutzte, die Globalisierung und Technologie in ihre alten Mauern geschlagen hatten,...