Suchen und Finden

Titel

Autor

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Creole

Die Creole

Ester Ette

 

Verlag epubli, 2020

ISBN 9783750297012 , 414 Seiten

4. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz frei

Geräte

9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Creole


 

GESTERN_Vergessen

 

Wer die Geschichten hinter der Geschichte liebt.

 

Wie Marko, Susanne und Martina in Portugal landen.

BERLIN 1973

MARKO

Als er sein Zuhause verließ und über die Transitstrecke Richtung Hannover trampte, links und rechts die beunruhigende Ödnis der Deutschen Demokratischen Republik, durfte ihn niemand erwischen. Mit seinen 16 Jahren war er noch lange nicht volljährig. West-Berlin war Geschichte, lag schon weit hinter ihm, als er die Zonengrenze in ­Marienborn in den Westen nach Helmstedt passierte. Er wollte nur weg – weg von seiner Mutter, die er hasste, weil sie ihn hasste, so wie sie alle Männer hasste, inklusive seines Vaters, der sich im Kalten Krieg über die Mauer in den Osten von dannen gemacht hatte und wohl drüben gestorben war.

Viel mehr hatte sie ihm nicht über seinen Vater erzählt, nur noch, dass er Siegfried, kurz Siggi, geheißen hatte und ein „Sozi“ war. Er sei wie sein Vater ein Hallodri. Das behauptete zumindest seine Mutter.

 

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“, verkündete die zittrige Stimme eines alten Mannes an einem schönen Juni-Tag des Jahres 1961, als Siggi und Lotti mit ihrem kleinen Marko das erste Deutsch-­Amerikanische Volksfest besuchten. Zwei Monate später trennte die ­Berliner Mauer Ost und West.

Kurz nach Ulbrichts Lüge und dem Mauerbau, der aus einer Stadt zwei machte, war Siggi Kleinschmidt weg, ohne ein Wort. Lotti Kleinschmidt, geborene Kürmann, schwieg beharrlich. Marko erinnerte sich nicht. Kein Geruch, keine Geste. Und doch hatte er ein gutes Gefühl, wenn er an diesen Mann dachte.

Lotti verdiente ihrer beider Unterhalt als Fotografin im Berliner Zoo, wo sie Kinder mit Löwenbabies auf dem Schoß porträtierte. Löwenbabies, die sie für 1000 Ostmark vom Leipziger Zoo kaufte und nach einem halben Jahr gegen 1000 Ostmark wieder in ein jüngeres tauschte. Und weil die Tierpfleger im Berliner Zoo kein gutes Händchen für Löwenbabies hatten, die friedlich und niedlich auf Kinderschößen Platz nehmen sollten, nahm Lotti die ­Babys hin und wieder mit nach Hause, setzte sie in den Laufstall von Marko und päppelte sie hoch. Marko wuchs in einer Wohnung auf, in der es beharrlich nach Löwenpisse stank. Als er klein war, schleppte sie ihn täglich mit in den Zoo. Und was andere Kinder ersehnten, verbreitete in ihm gähnende Langeweile. Lieber wäre er auf den Bolzplatz am Fehrbelliner gegangen oder zum Herumstreunen im Volkspark, anstatt seine Mutter in den Zoo zu begleiten, wo sie fremde Kinder und ihre Löwenbabys ablichtete, während er seine Hausaufgaben im stinkenden Raubtierhaus machen musste. Er hatte das Gefühl, die Löwenbabys waren ihr wichtiger als er.

Seine Mutter war eine fleißige Kirchgängerin, Gott weiß, warum. Er saß im Kindergottesdienst und hörte, wie der Pfarrer sonntags verkündete: „Herr, ich werde eingehen unter deinem Dach!“ Warum sagt der so was Blödes. Wer will schon eingehen. Er hörte sich das ein paar Mal an und ging dann nie wieder in die Kirche.

Seine Mutter zeigte ihm keine Gefühle. Manchmal schlug sie ihn. Sie schimpfte ihn spöttisch einen Versager, wenn er schlechte Noten nach Hause brachte. Sie nannte ihn verächtlich einen Bruder Leichtfuß, wenn er mit seinen Kumpels um die Häuser zog, die Nächte durchmachte und ihn die Polizei aufgriff, weil er erst 13 Jahre alt war.

Einmal kramte er heimlich in einer ihrer Foto-Schatullen. Er entdeckte ein Foto, wie er als kleiner Steppke an einem alten VW-Käfer lehnte, an seiner Seite ein Mann mit Schiebermütze und Bollerhose. Sein Vater Siggi. Er steckte das Foto ein.

Er fand ein anderes Schwarz-Weiß-Foto zwischen zahllosen Trümmermotiven. Ein nacktes Baby bäuchlings auf einem Schaffell, das in die Kamera strahlte. Auf der Rückseite stand gekritzelt: „Da liegt es, das Schwein!“ War er auf dem Foto zu sehen? Marko zerknüllte das Bild und warf es in den Müll.

Sie verweigerte ihm das ohnehin magere Taschengeld, verhängte Hausarrest und konnte ihn doch nicht halten. Er war nun stärker als sie und hatte keinen Respekt. Er rächte sich an ihr mit Missachtung. Schon mit 13 kam und ging er, wann er wollte und verdiente sich sein Geld mit kleinen Haschisch-Deals, fing das Zocken in Hinterzimmern am Stuttgarter Platz an und klaute hier und da eine Geldbörse, wenn es sich ergab. Erwischt wurde er nie.

Seiner Mutter aber stahl er nie Geld. Das war die einzige Anerkennung, die er ihr zollte; denn er akzeptierte, dass sie allein und selbstständig das Geld für ihrer beider Leben verdiente. Immerhin hatte er in der Schöneberger Altbauwohnung sein eigenes Zimmer. Sie wohnten Parterre, halbe Treppe links. Er konnte nachts bequem aus dem Fenster in den Hinterhof klettern und mit seinen Kumpels durch die Westcity ziehen. Berlin – Stadt ohne Sperrstunde. Bahnhof Zoo war Treffpunkt, lange bevor die Kinder vom Bahnhof Zoo seltsame Berühmtheit erlangten. Er kannte die Typen alle, gehörte aber nicht wirklich dazu. Er war kein Stricher, kein Junkie und auch nicht wirklich ein Dealer oder ein Dieb. Er hörte RIAS Berlin und sah die letzten Ausgaben vom Beat Club mit den Kinks und Johnny Cash. David Bowie, Led ­Zeppelin und Pink Floyd waren seine Helden.

Für all die vielen jungen Westbürger, die in den Siebzigern nach Westberlin kamen, weil sie in der fest umschlossenen Mauerstadt die Freiheit witterten, weil sie die Bundeswehr ablehnten oder weil sie die Emanzipation und den Aufstand gegen das Establishment feiern wollten, hatte er nur Verachtung übrig. „Ton, Steine Scherben“ und „­Keine Macht für niemand!“ verstand er erst Jahre später. Ihn beschäftigte der gegenteilige Gedanke: Bloß weg hier, weg aus dem Dreck, aus dem Schöneberger Kiez, aus der Mauerstadt, raus aus der Umzingelung von Amis, Engländern, Franzosen und Russen. Und vor allem: weg von seiner Mutter und all dem Mief, der sie umgab. Endlich frei sein! School is over!

 

Er trampte von Dreilinden. Transitautobahn nach ­Helmstedt. Dann Hamburg. Ein heißer Tipp brachte ihn nach Altona, in die berüchtigte Villa Blanke Neese, ­Umschlagplatz für Drogen jeder Art, alle Etagen belegt mit Hippies, Freaks, Kommunarden, Linken. Männern wie Frauen. Freie Liebe vom Keller, wo die Drogisten ­hockten und er bei Jens und Winni wohnen durfte, bis hin zum Dachgeschoss, wo die gutbetuchten Hanseaten-­Söhne und -Töchter eine Koks-Party nach der anderen feierten. Ein Paradies, in das Marko freundlich aufgenommen wurde, weil er leidlich Gitarre spielte und sich als Drogenkurier Verdienste erwarb. Alte Schule West-­Berlin. Leider wurden Jens, Winni und die Kollegen bei einer Razzia mit einem Kilo Rohopium erwischt, die Koksnasen aus den oberen Etagen waren rechtzeitig gewarnt worden und die Mittelschicht hatte nur Haschisch und Pillen zum Eigenbedarf dabei.

Als Marko im Morgengrauen von seinem Kurierdienst zurückkam, konnte er nicht einmal mehr sein spärliches Hab und Gut retten. Die Villa Blanke Neese war von Polizisten umzingelt. Er verschwand mitsamt der lukrativen nächtlichen Einnahmen Richtung Mittagssonne

***

Nach einer Irrfahrt durch Südeuropa – immer am Rande der Gesellschaft und der Legalität unterwegs, mit schwulen Männern, die heimlich und illegal Begleitung suchten, mit zugedröhnten Jungs, die auf dem Weg nach Marokko in Italien hängen geblieben waren, mit lauten Emanzen und besorgten Sozialarbeiterpärchen – landete er eines schönen Tages in Lissabon am Bahnhof Santa Apolónia am Tejo.

Eigentlich war er die ganze Zeit auf der Flucht gewesen, auch weil er noch immer nicht volljährig war, sich mit kleinen kriminellen Aktionen über Wasser halten musste und stets auf der Suche nach einem Schlafplatz war. In Rimini bei einem schwulen Hotelbesitzer auf dem Sofa, auf der französischen Nudisten-Insel Ile du Levant im geliehenen Zelt, im Hauptbahnhof in Marseille in einem übergroßen Schließfach und in Barcelona im Schlafsack am Strand.

Lisboa dann – das war seine Stadt! Er liebte die Portugiesen vom Tag seiner Ankunft an. Denen war es gerade gelungen, sich von alten Fesseln zu befreien und die Revolution zu besingen. Musik! Das war Seins. Man stelle sich vor: Der portugiesische Beitrag zum Eurovision Song Contest war das erste verabredete Geheimsignal an die aufständischen Truppen zum Beginn des Staatsstreichs! Der portugiesische Rundfunk hatte ein Liebeslied von Paulo de Carvallo gesendet: „Du kamst in Blumen gekleidet, ich habe dich entblättert.“ Einfach genial! Westeuropas älteste Diktatur gestürzt! Eine bessere Welt schien sich hier aufzutun – mit viel Wein, Weib und Gesang und natürlich einer Nelke im Knopfloch und der Revolution im Schritt. Und einer Menge junger Menschen, die von überall her in die Stadt strömten, sehr gerne kifften und immer neuen Nachschub brauchten.

Da lernte er Paul kennen, den Engländer. Marko gab ihm den Spitznamen Epi-Paul, so wie er es aus dem Zocker-­Milieu in Berlin kannte. Da hatten alle rotlichtigen Gestalten Spitznamen, je nach dem, was sie besonders kennzeichnete. Epi-Paul war Epileptiker. Das wussten alle. Man munkelte, er könne keinen richtigen Sex haben, weil er dann Gefahr liefe, einen Anfall zu bekommen. Marko war das egal. Epi-Paul führte ihn in die Musik-Szene im Bairro Alto ein. Das allein zählte.

Marko fragte sich, warum die Deutschen das Ende ihrer Nazi-Diktatur eigentlich nicht ebenso gefeiert hatten, wie die Portugiesen das Ende ihrer Diktatur – einmal abgesehen davon, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass...