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Südlich vom Ende der Welt - Wo die Nacht vier Monate dauert und ein warmer Tag minus 50 Grad hat - Mein Jahr in der Antarktis

Südlich vom Ende der Welt - Wo die Nacht vier Monate dauert und ein warmer Tag minus 50 Grad hat - Mein Jahr in der Antarktis

Carmen Possnig

 

Verlag Ludwig, 2020

ISBN 9783641264260 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Südlich vom Ende der Welt - Wo die Nacht vier Monate dauert und ein warmer Tag minus 50 Grad hat - Mein Jahr in der Antarktis


 

Kapitel 1

Haben Sie gute Witze auf Lager?

»Männer gesucht für gefährliche Reise.

Niedrige Löhne, bittere Kälte, lange Stunden kompletter Finsternis.

Sichere Rückkehr zweifelhaft.

Ruhm und Ehre im Falle von Erfolg.«

Zeitungsinserat, Ernest Shackleton zugeschrieben, auf der Suche nach Teilnehmern für eine seiner Expeditionen.

In einer Novembernacht eineinhalb Jahre zuvor sitze ich im Kreißsaal eines Wiener Krankenhauses. Gerade ist es vergleichsweise ruhig geworden. Halb vier Uhr morgens, und es scheint unmöglich, dass diese Nacht jemals endet. Aus einigen Zimmern ist heiseres Babygeschrei zu hören, aus einer Ecke die murmelnde Stimme der Oberärztin. Die dumpfe Beleuchtung des Saales verstärkt meine Müdigkeit noch, und ich frage mich, wann ich das letzte Mal ein Bett gesehen habe. Die Gesichter von zwei werdenden Vätern, ab und zu ruckartig Ausschau nach einer der Hebammen haltend, die durch die Gänge eilen, machen mir klar, dass ich von Schlaf diese Nacht nur träumen kann. Ich senke meinen Blick auf den Computerbildschirm und tippe die Daten von Baby Nummer drei in das veraltete Programm ein. Draußen vor den Fenstern beginnt es zu schneien. Ich wickle den dünnen Arztmantel enger um mich. Nummer dreis Kopfumfang, 34 cm.

»Ich brauche dich in dreißig Minuten!« Eine Hebamme huscht vorbei, das nächste Baby ist unterwegs. Mein Handy zeigt jetzt vier Uhr an, ein Blinken, ein paar ungelesene E-Mails. Einen Moment lang betrachte ich gedankenverloren die Schneeflocken vor dem Fenster. Dann öffne ich eine der Mails. Den Blick auf das kleine Display gerichtet, brauche ich einige Zeit, um zu realisieren, was dort geschrieben steht.

Call out for the new ESA Research MD in Concordia Station.

Sie wollen ein Jahr lang in völliger Isolation für die ESA forschen?

Schlagartig ist die Müdigkeit verschwunden. Mein Blick fliegt über die Nachricht. ESA, die Europäische Weltraumorganisation, sucht einen Forschungsarzt für Concordia – eine einsame Station inmitten der Antarktis. Fotos einer weißen Wüste. Temperaturen um –80 °C. Komplette Dunkelheit für vier Monate. Eine kleine Crew, völlig isoliert, ohne die Möglichkeit einer Evakuierung, soll Forschung für die Weltraummedizin durchführen, ein Jahr lang leben wie Astronauten auf dem Mars.

Ich bin hellwach. Nehme die Schreie von Babys und Müttern um mich herum wahr, die nervösen Väter und gestressten Hebammen. Ob ich hier weg will? Abenteuer, Expeditionen? Ja, bitte, am liebsten jetzt gleich. Wo kann ich mich bewerben?

Meine Bewerbung für das Projekt geschrieben und abgeschickt, trage ich die nächsten Wochen die ausgedruckte E-Mail in meiner Manteltasche mit mir herum. Es erscheint mir wie ein Ausweg, die Rettung aus dem Chaos, eine Herausforderung, die Möglichkeit, der Monotonie und den ausgetretenen Pfaden zu entfliehen. Ein Abenteuer, das nur auf mich wartet.

Im Februar 2017 folgt eine weitere Nachricht: Die ESA hat mich als einen von vier Finalisten für den Job des Forschungsarztes auserwählt. Ich bin für Anfang März eingeladen zu einem Interview in Paris. Plötzlich wird die Mission, bisher nur ein Gedankenspiel, zu einer greifbaren Möglichkeit.

Concordia ist eine Forschungsstation inmitten der Antarktis. Der Osten des Kontinents besteht aus einem gewaltigen Hochplateau. Die Gegend, in der Concordia sich befindet, nennt sich Dome C und liegt etwa 1 200 Kilometer von der Küste entfernt. Der Name ist darauf zurückzuführen, dass jemand die Erhebungen dieses Hochplateaus einfach alphabetisch benannte. Nach Dome A und Dome B gibt es also auch Dome C. Früher wurde es Dome Charlie oder Dome Circe genannt, inzwischen wird das C mit Concordia, der einzigen menschlichen Siedlung weit und breit, assoziiert.

Es gibt ungefähr 40 Forschungsstationen in der Antarktis, von 28 verschiedenen Ländern betrieben. Nicht viel für einen Kontinent, der eineinhalb Mal so groß ist wie Europa. Die meisten Stationen liegen an der Küste, wo das Klima milder ist, und viele sind nur im Sommer in Betrieb. Im Landesinneren befinden sich nur drei Stationen, die das ganze Jahr bewohnt sind: Amundsen-Scott, von den USA verwaltet und direkt am Südpol; Wostok, eine kleine russische Station, und schließlich Concordia. Letztere ist die einzige Station, die von zwei Ländern, Italien und Frankreich, gemeinsam geleitet wird. Die Polarinstitute IPEV (das Institut Polaire Français Paul-Émile Victor) und PNRA (Programma Nazionale di Ricerche in Antartide) sind federführend.

In den antarktischen Sommermonaten, Ende November bis Ende Januar, herrscht reger Betrieb, bis zu 80 Leute wohnen und arbeiten dann in Concordia. Den Winter aber verbringen dort nur wenige Menschen: 13 bis 15, die eine Hälfte Forscher, die andere Techniker und Support-Personal. Für neun Monate sind diese Menschen vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Die nächsten Nachbarn, auf der russischen Station Wostok, sind 600 Kilometer entfernt.

Während des antarktischen Winters herrscht tiefe Finsternis: Im Mai geht die Sonne ein letztes Mal unter und taucht erst Mitte August wieder auf. Dome C ist neben Wostok der kälteste Ort der Welt. Im Sommer hat es freundliche –30 bis –45 °C, im Winter sinken die Temperaturen auf –80 °C.

Die Umgebung ist also einzigartig und Concordia ein bisschen wie eine Station auf einem anderen Planeten. Das nutzt die ESA für Forschungen hinsichtlich zukünftiger Langzeit-Raumfahrtmissionen zu fremden Planeten oder Monden. Es gibt für diese bisher keine Erfahrungen, aus denen man Schlüsse ziehen könnte. Keine frühere Station auf dem Mond oder Mars, von deren Besatzungen man Dinge hätte lernen können wie: »Jene Mission ging gut, genau solche Leute wollen wir wieder für einen Langzeitweltraumflug einsetzen.« Um herauszufinden, wie sich der Mensch an extreme Umgebungen anpasst, muss man auf vergleichbare Szenarien zurückgreifen. Die offensichtlichste ist die Internationale Raumstation, die ISS. Allerdings ist die Anzahl an durchführbaren Experimenten natürlich begrenzt, auch sind immer nur wenige Personen gleichzeitig an Bord. Einige andere vergleichbare Situationen sind die Mannschaften von U-Booten, isolierte Militärstützpunkte, Unterseestationen wie Nautilus, Isolationssimulationen wie Mars-500 und antarktische Stationen. Unter all denen ist Concordia diejenige, die der Situation auf einem fremden Planeten am nächsten kommt: Die Isolation ist real; die Umgebung extrem. Ähnlich wie auf einem anderen Planeten werden spezielle Anzüge benötigt, um draußen in der Kälte überleben zu können. Die Lichtverhältnisse sind mit dreieinhalb Monaten ununterbrochenem Sonnenschein im Sommer sowie der viermonatigen Dunkelheit im Winter außergewöhnlich. Die atmosphärischen Bedingungen sind mit hypobarer Hypoxie (niedriger Luftdruck, niedriger Sauerstoffgehalt in der Luft) ähnlich, wie sie in einer Mars- oder Mondstation sein könnten. Eine kleine, kulturell gemischte Crew, eingesperrt in einer räumlich beengten Station. Alles in allem eine explosive Mischung – und somit ausgezeichnet geeignet für Weltraumforschungen. Die ESA bezeichnet Concordia mit ihrer Umgebung als Weißen Mars.

Um eine Chance für die Teilnahme an einer Mission am Weißen Mars zu bekommen, muss ich zuerst das Auswahlverfahren meistern. Dafür fliege ich nach Paris, wo die vier Finalisten des ESA-Jobs allerlei erwartet: Interviews, medizinische Untersuchungen und psychologische Tests sind geplant.

Bei meinem Eintreffen Anfang März versinkt die französische Hauptstadt in einer dunklen Wolkenschicht und unerbittlichen Regengüssen. In der Früh kämpfe ich mich durch die Metro, verlaufe mich in den Straßen der Innenstadt und finde schließlich das Gebäude, in dem die medizinischen Untersuchungen stattfinden. Wer ein Jahr in der Antarktis überleben will, sollte kerngesund sein. Die Ärzte zapfen mir die gefühlte Hälfte meines Blutvolumens ab; ich renne quer durchs Haus für Röntgen von Lunge und Zähnen und Untersuchungen sämtlicher Organe. Jeder misst meinen Blutdruck, alle kommentieren meine blasse Hautfarbe.

Die Mittagspause brauche ich, um quer durch die Pariser Altstadt zum nächsten Treffpunkt zu marschieren. Hier gilt es zunächst, zusammen mit den anderen Finalisten psychologische Fragebögen auszufüllen, darunter vier verschiedene Persönlichkeitstests. Im Anschluss daran klopfe ich an die Tür des Psychologen. Sein Büro ist klein, jeder vorhandene Platz vollgestellt mit Aktenschränken. Er sitzt auf einem breiten Sessel und winkt mich lächelnd herein. Der einzige freie Stuhl ist neben einem Fenster platziert, das sich über die Länge des Raumes erstreckt und Ausblick über die Dächer des historischen Paris gewährt. Das Hemd des Psychologen spannt etwas über seinem Bauch, kurz lässt er seine Hand dort liegen, bevor er mir einen Rorschachtest entgegenschiebt. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Tintenkleckse. Sie scheinen primär Pinguine und den einen oder anderen Eisbären darzustellen. Einige davon eigneten sich zudem hervorragend als Tattoo-Vorlagen. Über drei Stunden lang befragt mich der Psychologe zu meiner Motivation, meinen Kindheitserinnerungen und meiner Beziehung zu der Cousine dritten Grades meiner Oma.

»Warum wollen Sie dort überhaupt hin?«

Ja, warum eigentlich? Ich suche Shackletons endlose Einsamkeit, Amundsens Märchenlandschaft, Scotts eisige Finsternis. Um dem Abenteuer, der Wildnis, dem Entdeckergeist zu...