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Die Welt mit anderen Augen sehen - Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität

Die Welt mit anderen Augen sehen - Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität

Markolf H. Niemz

 

Verlag Gütersloher Verlagshaus, 2020

ISBN 9783641263423 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR

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Die Welt mit anderen Augen sehen - Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität


 

WAS KOMMT ZUERST –
SEIN ODER WERDEN?

Was wir tun in dieser Welt,

ewig strahlt am Himmelszelt.

Was würden Sie sagen, wenn jemand Ihnen erzählte, dass er Helmut Schmidt jetzt live als Verteidigungsminister oder als deutschen Bundeskanzler sehen kann? Keine Chance! Nicht wahr? Nun, warten wir es ab. Auch unsere zweite Challenge ist gespickt mit Überraschungen. Wir werden anschauliche Beispiele kennenlernen, die zeigen, wie unvollständig unsere Sicht auf die Wirklichkeit ist. »Wirklichkeit« ist, wie ich die Welt in Raum und Zeit wahrnehme. Es gibt nicht nur eine Wirklichkeit; vielmehr hat jeder Beobachter eine eigene Wirklichkeit, je nachdem, wie er die Raumzeit in räumlich und zeitlich aufspaltet. Raum und Zeit sind relativ – wie könnte es da eine Wirklichkeit für alle geben?

Philosophen begreifen Raum gerne als »Spielwiese des Seins« und Zeit als »Spielwiese des Werdens«. Wie könnte ich ohne Raum jemals sein? Wie könnte ich ohne Zeit jemals werden? Das ergibt Sinn. Und doch ist es nicht ganz so einfach, wie es klingt. Hier ist ein Beispiel: Glauben Sie, dass Sie ein Mensch sind? Ich dachte es auch, bis ich diese Challenge anfertigte. Ist Ihnen niemals in den Sinn gekommen, dass Sie ununterbrochen werden? Nicht nur Ihr Körper verändert sich; auch Ihre Gefühle, Ihr Wissen und Ihre Gedanken werden reicher mit jeder neuen Erfahrung. Was ist also das Grundprinzip der Welt – Sein oder Werden?

PARMENIDES’ KUGEL

Parmenides aus Elea war ein griechischer Philosoph, der als einer der Ersten hinterfragt hat, was Sein und Werden sind. Drehen wir also die Zeit 2500 Jahre zurück und hören ihm zu: »Es ist unmöglich für etwas, nicht zu sein ... Wenn etwas aus dem Nichts geworden wäre, weshalb später als früher? ... Wenn es wurde, dann ist es nicht; auch ist es nicht, wenn es erst in Zukunft sein wird. Also gibt es kein Werden.«25

Parmenides, griechischer Philosoph

(6./5. Jahrhundert v. Chr.)

https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Parmenides_of_Elea#/media/File:Parmenides.jpg [31.10.2019]

Aus logischer Sicht ist Parmenides etwas voreilig, wenn er alles Werden ausschließt. Um all seinen Gedanken folgen zu können, möchte ich ergänzen, dass wir nach Parmenides bloß die wirklichen Dinge denken können: »Es ist ein und dasselbe, was gedacht werden kann und was sein kann.«26 Daraus folgert er: Nicht-Sein könne nicht sein, weil es nicht gedacht werden kann; und Werden könne auch nicht sein, weil es stets mit Nicht-Sein beginnt. Gewiss ist Parmenides’ Ansatz ziemlich vertrackt. Wenn Ihnen seine Argumentation nicht ganz klar ist, dann lesen Sie diese Seite einfach noch einmal. Sie sollten sich für eine Weile in Parmenides hineindenken können, um zu verstehen, wie seine Gedanken viele Philosophen bis heute prägen konnten.

In Bezug auf den Raum lehrte Parmenides, dass er nicht unbegrenzt sei, sondern eine große, mit Sein gefüllte Kugel. Dieses Sein sei die einzige homogene »Substanz«, die alles durchdringt (auch alle Lebewesen und die Luft), die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und die den Kosmos inhaltlich ausmacht. Nach seiner Auffassung ist der Kosmos nicht aus vergänglichen Objekten wie Sternen, Planeten, Wolken, Bergen oder Lebewesen zusammengesetzt, die einer Geburt, einer Veränderung und einem Tod unterliegen. Der gesamte Kosmos würde nur aus Sein bestehen, einer riesigen, kugelförmigen, ewigen, bewegungslosen Substanz, die nie werde, sondern immer gleich sei.

In diesem Kapitel habe ich Parmenides an den Anfang gestellt, weil Sein etwas ist, womit ich mich selbst sehr leicht identifizieren kann. Ich brauche nur meinen eigenen Körper zu berühren – und schon fühlt es sich an wie »ich bin«. Aber wenn ich über den Beginn von mir selbst nachdenke, dann erkenne ich sehr schnell, dass mein Leben mit Werden begonnen hat und nicht mit Sein. Meine Mutter wurde mit mir schwanger, ich wurde lebendig, ich wurde immer größer. Es ging weiter: Meine Sinne wurden scharf, mein Körper wurde reif, mein Gehirn wurde Gedächtnis. Mein Werden vollzieht sich das ganze Leben lang, bis ich eines Tages tot bin! Aber wenn wir doch Tag für Tag werden – warum begreifen wir uns dann als »Mensch-Seiende« und nicht als »menschend«? Uups! Jetzt warnt mich auch mein Rechtschreibprogramm, dass die Verbform »menschend« falsch sei.

Weil wir uns als Wesen mit einer konstanten Identität begreifen, sind Parmenides’ Gedanken gar nicht so weit weg vom Mainstream. Seine simple Frage »Wenn etwas aus dem Nichts geworden wäre, weshalb später als früher?« klingt irgendwie plausibel. Doch mit seiner Grundannahme liegt Parmenides ganz sicher falsch – wir können durchaus etwas denken, auch wenn es nicht wirklich ist. Hier ist ein Beispiel: Ich kann mir ein Licht denken, das sich mit nur einem Kilometer pro Sekunde ausbreitet, auch wenn Licht physikalisch immer eine Geschwindigkeit von 299 792,458 Kilometer pro Sekunde hat. Selbst wenn es eines Tages langsamer werden würde, müsste Parmenides zugeben, dass es Werden gibt.

HERAKLITS FEUER

Wir können uns leicht ausmalen, dass Parmenides’ Philosophie nicht nur auf Zuspruch gestoßen ist. Sein größter Kontrahent war Heraklit aus Ephesus. Heraklit glaubte an eine Welt des Werdens und nicht an die Welt des Seins. Er stellte sich den Kosmos als ein sich immerzu selbst entfachendes Feuer vor: »Das Universum, das alles umfasst, wurde weder von einem Gott noch von Menschen erschaffen; es war, es ist und es wird ewig lebendes Feuer sein, das sich selbst regelmäßig entfacht und ebenso regelmäßig löscht.«27

Heraklit war besessen von der Idee, dass sich die Welt durch Kontraste entwickelt. Alles Werden sei von Gegensätzen verursacht: Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sättigung und Hunger. Doch Heraklit erkennt auch Harmonie in unserer Welt – nicht in einer Kugel wie Parmenides, sondern in Kontrasten: »Die Menschen begreifen nicht, wie das, was auseinanderstrebt, mit sich selbst im Einklang ist. Die Harmonie in unserer Welt beruht auf der Spannung von Gegensätzen, so wie bei Bogen und Leier.«28 Wir täten Heraklit unrecht, wenn wir seine Lehre auf bloßes Werden reduzierten. Parmenides widersprach allen Formen des Werdens, aber Heraklit lehnte nicht alles Sein ab. Vielmehr behauptete er, dass sich die Gegensätze vereinen, um Harmonie hervorzubringen. Mögen sich Nationalisten diese Aussage Heraklits zu Herzen nehmen!

Heraklit, griechischer Philosoph

(6./5. Jahrhundert v. Chr.)

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heraclitus,_Johannes_Moreelse.jpg [31.10.2019]

In einem seiner berühmtesten Zitate vergleicht Heraklit unser Leben mit einem Fluss: »Wir können nicht zweimal in denselben Fluss steigen, weil andere Wassermassen auf uns einströmen.«29 Zu dieser Aussage gibt es zwei Interpretationen. Die meisten Menschen kennen nur die erste: Wenn ich zweimal in den Rhein steige, kann es nicht dasselbe Wasser – also auch nicht derselbe Fluss – in beiden Fällen sein. Die zweite Interpretation geht noch tiefer: Ich kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, weil das erste Bad mich selbst irgendwie verändert hat. Das heißt: Ich kann nicht zweimal als derselbe Mensch in denselben Fluss steigen. Hören Sie die Glocken klingen? Heraklit klärt uns auf, dass wir in jedem Moment, in dem wir etwas tun, zu etwas Neuem werden. Ich bin und war also nie ein »Mensch-Seiender«, sondern ich bin und war immer ein Werden – ein »Menschend«.

Bingo! Wir sind immer noch im 5. Jahrhundert v. Chr., und schon wieder lesen wir: Ich bin nicht, ich werde. Diese tief mystische Erfahrung wird uns ab jetzt wie ein roter Faden geleiten. Irgendwie gefällt mir das Bild vom Leben als Fluss. Die Höhen und Tiefen, Felsen und Strudel – sie alle gehören dazu. Machen Sie es wie Heraklit: Lassen Sie sich treiben, und genießen Sie die Fahrt, so wild sie auch sein mag!

Parmenides und Heraklit wollten den tiefen Grund der Welt erkunden. Sie philosophierten über Sein und Werden, ließen aber außer Acht, dass uns die Welt je nach Blickwinkel anders erscheint. Einstein berücksichtigte auch die Perspektive eines Beobachters – und Einsteins Theorie hält weitere Clous für uns bereit.

DER LICHTSPEICHER

Kehren wir zurück zu Helmut Schmidt. Wie könnte jemand ihn jetzt live als Verteidigungsminister oder als deutschen Bundeskanzler sehen? Hier ist die Antwort: Angenommen, unser Beobachter sitzt in einem Raumschiff, das ein Lichtjahr von der Erde entfernt ist. Ein Lichtjahr ist die räumliche Distanz, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Falls er nun ein sehr großes Teleskop an Bord hat und damit zurück zur Erde schaut, würde er Ereignisse live sehen, die vor genau einem Jahr auf der Erde stattgefunden haben; denn das von diesen Ereignissen abgestrahlte Licht bräuchte ein Jahr, um ihn zu erreichen. Wenn sein Raumschiff 30 Lichtjahre von der Erde entfernt wäre, könnte er live zuschauen, wie gerade die Berliner Mauer fällt. Was würde er also sehen, wenn sein Raumschiff 50 Lichtjahre von der Erde entfernt wäre? Von dort könnte er Helmut Schmidt jetzt live als...