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Allein und frei - Rückkehr nach Kenia

Allein und frei - Rückkehr nach Kenia

Vivienne de Watteville, Susanne Gretter

 

Verlag Edition Erdmann in der marixverlag GmbH, 2020

ISBN 9783843806206 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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17,99 EUR

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Allein und frei - Rückkehr nach Kenia


 

VORWORT


I


Sieben Jahre hatten Bernhard von Wattenwyl und seine Tochter Vivienne für eine Expedition gespart, die sie durch Kenia, Uganda und Belgisch-Kongo führen sollte. Zwischen 1914 und 1916 war Bernhard bereits zwei Jahre in Zentralafrika gewesen, hatte eine Safari durch den Nordosten Rhodesiens unternommen und eine Sammlung von Trophäen mitgebracht, die er dem Naturhistorischen Museum Bern überließ. Bernhard von Wattenwyl beziehungsweise Bernard de Watteville, 1877 in Trélex in der französischsprachigen Schweiz geboren, stammte aus einer Berner Patrizierfamilie, war in Genf aufgewachsen und hatte in England Malerei studiert. Seine eigentliche Leidenschaft galt jedoch der Jagd, vor allem der Großwildjagd. Als das Berner Museum einen Kurator berief, der sich für die Erneuerung der Sammlung afrikanischer Tierwelt einsetzte, bot sich die lang ersehnte Gelegenheit: Die Museumsleitung erklärte ihre Bereitschaft, sich finanziell an der Expedition zu beteiligen, vor allem die Kosten für die Verpackung und den Transport von Häuten und Skelettteilen zu übernehmen. Bernard und Vivienne überschlugen ihre Ersparnisse: Aufgestockt mit einem Teil des Familienvermögens würde es reichen, um zwei Jahre unterwegs zu sein.

Am 4. Mai 1923 brachen die beiden von England aus auf und liefen einen Monat später in den Hafen von Mombasa ein. Vivienne war zweiundzwanzig Jahre alt. Sie hatte zugunsten dieses Abenteuers auf ein Studium verzichtet. Sie würde das Reisetagebuch führen und die Expedition fotografisch dokumentieren. In Nairobi kauften sie Ausrüstung und Proviant und warben mit Hilfe des Jagdaufsehers nahezu vierzig Lasten- und Waffenträger, Abbalger und Hilfskräfte an, ehe sie sich im Juni zu Fuß auf den Weg in die Wildnis machten. Selbst damals war diese Art der Safari bereits aus der Mode, man bewegte sich in speziellen Jagdwagen, die großen Safaris waren in jeder Hinsicht weit großzügiger ausgestattet. Aber Bernard und Vivienne ließen sich ihren Enthusiasmus nicht nehmen. Fußmärsche erschienen ihnen entschieden romantischer als Autofahrten.

Sie wanderten nach Norden und an den Osthängen des Mount Kenia bis zum Oberlauf des Tana, weiter nach Meru, von dort über die Isiolo-Ebenen zum Uaso-Nyiro-Fluss und den Lorian-Sumpfgebieten, eine unendliche Weite aus Gras, Schlamm und Fata Morganas, stießen dann wieder auf den Tana und fuhren in Einbäumen bis zur Küste hinunter. In Lamu wurden die bisher erbeuteten Häute – Antilopen, Zebras, Giraffen, Hyänen, einige Löwen und ein Elefant –, an deren Konservierung Vivienne im Laufe der Zeit zunehmend verantwortlich beteiligt war, in Kisten verpackt, nach Marseille verschifft und von dort nach Bern transportiert. Sieben Monate dauerte dieser erste Marsch, bei dem sie etwa zweitausend Kilometer zurücklegten, mehrmals in Todesgefahr gerieten, sich beide mit Malaria infizierten und sporadisch unter heftigen Fieberanfällen litten. Doch die Jagd war erfolgreich, und Bernards Durst nach Aktion nahm unaufhörlich zu. Er schoss, was ihm an Großwild vor die Flinte kam.

Viviennes größte Freude lag in der Beobachtung der Tiere und der Landschaft. Die afrikanische Wildnis hatte sie gefangengenommen. Sie war in sie eingezogen. Bereits in ihrem ersten Buch Out in the Blue bemerkt sie, »dass wir nicht ein unendlich kleiner, von Raum und Zeit begrenzter Funke sind, sondern ein Teil von Himmel und Erde und allen Elementen, dass unsere Seele so weit ist wie die großen Fernen …«. Schon bald begann sie, in Afrika »die wahre Freiheit« zu erfassen. Was sie trotz anfänglicher Gewissensbisse nicht daran hinderte, die »herrlichen Tiere« zu töten, fasziniert von dem Nervenkitzel, den sie bei ihrer Verfolgung empfand, »diesem Wahnsinn, wenn dir das Herz bis zum Halse schlägt, wenn du vor Angst und Aufregung keuchst, ja, dich fast Todesangst ergreift und du gleichzeitig fast gleichgültig und furchtlos bist«.

II


Vivienne de Watteville kam am 19. August 1900 in Hopesay, Shropshire, zur Welt. Bernard, kaum bei seinem Mallehrer Sir Hubert Herkomer in England eingetroffen, hatte sich in Florence Emily Beddoes verliebt, die Tochter von Henry Willoughby Beddoes, einem pensionierten Marinekapitän. Bernard und Florence heirateten am 13. Oktober 1899. Als kleines Mädchen besaß Vivienne, wie Fotos zeigen, viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, hatte deren verträumte graue Augen. Mit zunehmendem Alter ähnelte sie zusehends ihrem hochgewachsenen Vater – die gleichen auffällig geschwungenen Lippen, der gleiche ruhige, direkte Blick. Als Kind nannte sie ihren Vater »Dadboy«, als junges Mädchen »Brovie«. Beide Namen passten zu Bernhard von Wattenwyl, einem Peter Pan, der nie wirklich erwachsen geworden war und den man häufig für Viviennes älteren Bruder hielt. Er war künstlerisch, musikalisch, philosophisch, aber sein Herz hing am Abenteuer.

Weihnachten 1909 starb Florence, kaum dreißig Jahre alt, an Krebs. Für Vivienne und Brovie brach eine Welt zusammen. Viviennes Erziehung teilte Brovie nun mit seiner Mutter Blanche Eléonore de Gingins, genannt Grandminon, eine emanzipierte und eigenwillige Frau, und mit Florences unverheirateter älterer Cousine Alice Mary Blandford, Tante Semi. Drei Individualisten, die Vivienne mit Zuneigung überschütteten, aber nicht in der Lage waren, eine Harmonie herzustellen, sodass Viviennes Leben, wie sie bald bemerkte, einem »Strudel aus Widersprüchen« glich. Vorbei war auch die Zeit der Kleider, Röcke und Rüschen, Brovie machte einen Jungen aus ihr, brachte ihr Fischen, Klettern und Schießen bei. »Seit ich klein war, habe ich alles durch die Augen eines Mannes gesehen, habe mich unter Männern zuhause gefühlt, ihre Gesellschaft bevorzugt und wusste wenig über Frauen«, berichtete Vivienne, »meine Jugend war die eines abenteuerlichen Jungen … Trotz dieser eigenartigen Erziehung war ich zum Glück ganz weiblich, besaß einen großen mütterlichen Instinkt, habe mich aber nie für häusliche Kleinigkeiten interessiert …« Grandminon hatte zweimal geheiratet, konnte die Männer im Grunde genommen aber nicht ausstehen. Tante Semi scheint diejenige gewesen zu sein, die zu vermitteln suchte und in der Vivienne eine schwesterliche Freundin fand. Von Brovie wurde sie fest an die Kandare genommen, er wachte eifersüchtig über jede ihrer Regungen. Fünfzehn Jahre lang übernahm sie die schwierige Rolle von Sohn, Tochter und Lebensgefährtin in einer Person.

Seit dem Tod der Mutter besuchte Vivienne eine Internatsschule, die Sommer verbrachte sie mit Brovie in Norwegen. Im Sirdal in der südnorwegischen Provinz West-Agder hatte er kurzerhand einen Berghang, einen Forellenfluss und zwei Seen gepachtet und eine Holzhütte gebaut. Brovie war der Kapitän, Vivienne hieß Murray, der erste Maat. Brovie jagte Schneehühner und Rentiere und trieb Vivienne die Berge hinauf, bis sie um Gnade flehte oder sich weinend vor Wut ins Heidekraut warf. Und doch war es, wie sie erinnerte, »die schönste Zeit, die man sich nur vorstellen konnte … und ich wurde dadurch so robust wie ein kleines norwegisches Pony.« Wenn dann gar nichts mehr half, fand sie Trost bei der Natur, die ihr im Laufe der Jahre immer mehr bedeutete: »Sie trat an die Stelle der Mutter, die ich geliebt und verloren hatte.«

III


Nach kurzer Station in Nairobi machten sich Brovie und Vivienne im Sommer 1924 zum zweiten Teil ihrer Safari auf. Zwei Monate wurde im kenianischen Aberdare Gebirge gejagt, dann ging es weiter nach Uganda und an die Grenze zum Kongo. Das unberührte Seengebiet im östlichen Kongo war damals ein Paradies für wilde Tiere. Es wimmelte von Antilopen, Wasserböcken, Büffeln und auch von Löwen. Brovie konnte nicht genug bekommen. »Es schien«, schrieb Vivienne, »als hätte er jede Hemmung, jede Vorsicht über Bord geworfen.« Zwölf Löwen hatte er bereits geschossen, in einer Woche allein fünf. Manche waren nur verwundet, und er setzte ihnen nach, bis er sie – oft aus nächster Nähe – töten konnte. Mit Mwanguno, dem Chefabbalger, und einigen Helfern schabte Vivienne die Häute – vor wenigen Monaten noch den Tränen nah beim Anblick der Kadaver, war sie nun fasziniert vom Auskratzen der Nasenlöcher, dem Abziehen der Ohren und dem Säubern der Lippen, verätzte sich die Hände durch die Säuren, die zum Gerben der Häute verwendet wurden, und hatte wegen ihrer Tatkraft im Camp Anerkennung gefunden.

Südlich von Lake Edward, im Grenzgebiet zwischen dem Kongo und Uganda, erlitt Vivienne einen schweren Anfall von Spirillumfieber. Brovie machte sich daher am 30. September 1924 allein auf den Weg ans Seeufer, zur Löwenjagd. Nur Stunden später schleppte er sich ins Camp, blutüberströmt, das Gesicht leichenblass, kaum fähig zu sprechen. Einem Löwen, den er angeschossen hatte, war er unüberlegt ins dichte Schilf gefolgt. Das Tier hatte ihm aufgelauert, ihn angegriffen, ihm furchtbar zugesetzt und seine Arme und Beine bis auf die Knochen zerfleischt, ehe er es mit einem letzten Schuss töten konnte. Der Löwe...