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Endzeit - Krieg und Alltag in Tirol 1945

Endzeit - Krieg und Alltag in Tirol 1945

Horst Schreiber

 

Verlag Michael Wagner Verlag, 2020

ISBN 9783710767012 , 588 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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23,99 EUR

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Endzeit - Krieg und Alltag in Tirol 1945


 

EINLEITUNG


Fünfundsiebzig Jahre nach der totalen Niederlage des Deutschen Reiches liegt erstmals eine Studie vor, die die Endzeit des Nationalsozialismus in Tirol analysiert, den Schwerpunkt auf den Alltag der Menschen legt, ihre Wahrnehmungen und Reaktionen, kollektiv oder individuell, miteinbezieht und in den Gesamtprozess des Untergangs der NS-Diktatur einbettet.

Um die Mikroebene des Handelns auszuleuchten, musste die bisherige Forschungsliteratur in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt und eine literarischere Darstellung als üblich gewählt werden, die die traditionelle, nüchterne Wissenschaftssprache ergänzt und fallweise auch durchbricht. Es galt, Tagebücher und Briefe zu durchforsten und vielfältige Formen der Erinnerungen und Interpretationen in alten wie neuen Dorf- und Heimatbüchern zu heben. Chronistinnen und Chronisten steuerten wertvolle Quellen bei, besonders die Chronisten Bibliothek Mötz. Von unschätzbarem Wert war die Sammlung lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, die zahlreiche Dokumente aus und über Tirol aufbewahrt.

Die Tirolerinnen und Tiroler waren über den Ausbruch des Krieges nicht erfreut, die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs waren noch lebendig und die Angehörigen der NS-Volksgemeinschaft wollten die Vorteile und Angebote der Diktatur ungestört nutzen, auch wenn ihre verbrecherische Seite von Anfang an sichtbar war. Das Regime verzichtete auf Jubelfeiern, seine Erzählung war die des Krieges, der dem Deutschen Reich aufgezwungen worden war. In den ersten Jahren nahmen viele Soldaten den Krieg als Reiseunternehmen wahr, als Gelegenheit, die Welt kennenzulernen, die Besatzungszeit zu genießen, intime Beziehungen mit Frauen des Feindes einzugehen und Pakete mit allerlei Kostbarkeiten nach Hause schicken zu können. Die Blitzsiege der Wehrmacht erzeugten eine euphorische Stimmung in Tirol und an der Front, Hitler stieg zu einer geradezu gottähnlichen Erscheinung auf, die Zustimmung zum Nationalsozialismus war schwindelerregend hoch. Von all dem ist im ersten Kapitel die Rede. Es zeigt am Beispiel von Anton Beck und Hermann Gmeiner die Möglichkeiten, die NS-Herrschaft und Krieg boten. Der eine ergriff mit dem Eintritt in die Leibstandarte SS Adolf Hitler die Chance, tiefer Armut und Perspektivenlosigkeit zu entgehen. Der andere identifizierte sich mit seinem Soldatendasein, mit tiefempfundener Kriegskameradschaft und mit Deutschland als Vaterland, obwohl er dem National-sozialismus fernstand. Bereits im Feldzug gegen Polen waren Tiroler Soldaten an Kriegsverbrechen beteiligt. Einzelne verweigerten sich dem, bis hin zum Bruch mit dem Regime und der Wehrmacht.

Das zweite Kapitel thematisiert die verheerenden militärischen Niederlagen in Stalingrad und Nordafrika, aber auch den Massenmord an italienischen Soldaten nach dem Frontwechsel Italiens. Im Dezember 1943 war es dann soweit. Der Krieg erreichte Tirol, von nun an fühlte sich ein großer Teil der Bevölkerung seines Lebens nicht mehr sicher. So wie Otto Spero, der nach einem Bombenangriff auf sein Flakgeschütz in Innsbruck den Tod vieler Kameraden beklagte, dachten viele: »Machtlos stand ich am Friedhof und traurig war ich auch. Ich stellte mir die Frage, wie viele Menschen werde ich noch sterben hören, sehen, und wann werde ich dran sein, schon morgen, in einer Woche, in einem Monat oder in einem Jahr vielleicht?«

Das dritte Kapitel (Beschwörung) verdeutlicht das Bemühen des NSRegimes, die Angehörigen der Volksgemeinschaft an die Errungenschaften des Nationalsozialismus zu erinnern. Es erneuerte seine Zukunftsversprechen und stellte ein goldenes Zeitalter nach gewonnenem Krieg in Aussicht. Dennoch verdüsterte sich die Stimmung zusehends, tiefe Zweifel am Endsieg erfassten in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 sogar Kernschichten der nationalsozialistischen Anhängerschaft. Das Attentat auf Hitler gab zwar dem verblassenden Führer-Mythos wieder Auftrieb, allerdings nur mehr kurzfristig. Männer, Frauen, Alte und Junge erfüllten weiterhin ihre Pflicht, wenngleich immer mehr mit immer weniger Begeisterung und Zuversicht. In Tirol hungerten ausländische Zwangsarbeitskräfte und Gefangene des Arbeitserziehungslagers Reichenau. Die Einheimischen fanden ihr Auslangen, nicht zuletzt deshalb, weil anderswo Menschen elend zugrunde gingen und der systematische Lebensmittelraub in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten den Tirolerinnen und Tirolern zugutekam. Aufwändig inszenierte Heldengedenkfeiern, Weihestunden für die Gefallenen, provisorisch errichtete Kriegerdenkmäler und Heldenbücher konnten mit zunehmenden Kriegsjahren über den Verlust der Ehemänner, Söhne, Verwandten und Bekannten immer weniger hinwegtrösten. Auch Jahrzehnte nach dem Krieg sind manchem Tiroler, der damals noch Kind war, »die Schreie des Elends« schmerzlich gegenwärtig, wenn die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen eintraf.

Im Sommer 1944 rückten die Alliierten so schnell vor, dass das Deutsche Reich kurz vor seinem Zusammenbruch stand. Das vierte (Mobilisierung) und fünfte Kapitel (Erschöpfung) zeigen, wie es diese tiefe Krise überwand, welche Verschiebungen damit im Zentrum der nationalsozialistischen Macht einhergingen, auf welche propagandistische Mittel das Regime setzte und in welch schockierendem Ausmaß es die Bevölkerung zu mobilisieren verstand. Ohne Zwangsarbeit ging gar nichts mehr und auch nicht ohne die Arbeitskraft und den militärischen Einsatz Minderjähriger. Nicht nur die Loyalität der Soldaten im Feld verlängerte einen längst verlorenen Krieg, sondern auch der enorme Beitrag von Frauen an der Heimatfront, ob sie ihn nun freiwillig oder unfreiwillig leisteten. Die Mobilisierung der letzten Reserven verlangte der Bevölkerung zeitweise Unmenschliches ab. Das Leben in Tirol wurde immer mühseliger, nervenzehrender, freudloser und schließlich, unter dem Eindruck des Bombenkrieges, geradezu unerträglich.

In der letzten Phase der nationalsozialistischen Herrschaft ging die Solidarität deutlich zurück, die Volksgemeinschaft zeigte tiefe Risse, immer mehr rückten die eigenen Interessen in den Vordergrund, auch unter denjenigen in der Partei, die die Volksgenossinnen und Volksgenossen auf einen Kampf bis zum Äußersten einstimmten. Nun führte das Regime den Tirolerinnen und Tirolern vor Augen, dass eine Niederlage im Krieg Versklavung bedeuten würde, die Ausrottung durch das internationale Judentum. Die NS-Diktatur und die von ihr gelenkte Presse brachten alle Kriegsereignisse in Zusammenhang mit diesem antisemitischen Deutungsrahmen: Die Juden mussten vernichtet werden, bevor sie Deutschland vernichteten, daher blieb nichts Anderes übrig, als den Krieg so lange zu führen, bis er gewonnen war.

Die Nationalsozialisten verließen sich in der Endphase nicht auf Angstund Durchhalteparolen, geschweige denn auf ihre längst verlorene Anziehungskraft. Das einzige Mittel, das ihnen noch ein Überleben sicherte und das Kriegsende hinauszögerte, war der nackte Terror. Das sechste Kapitel legt diese Gewaltherrschaft in der Provinz auf allen Ebenen offen, in der Gerichtsund Militärjustiz, in der Partei und Gestapo bis hin zum Todesmarsch jüdischer KZ-Häftlinge aus Dachau durch einzelne Ortschaften Tirols.

Die letzten Tage des Krieges, in denen es hierzulande noch zu Bodenkämpfen kam, zogen die Regionen Tirols in sehr unterschiedlichem Maß in Mitleidenschaft. Darauf geht das Kapitel über das Kriegsende in den Bezirken ein. Auch wenn auf einheimischer und gegnerischer Seite noch zahlreiche Tote zu beklagen waren, stand der Ausgang der Gefechte im Vorhinein fest. Die deutsche Armee war im Prozess des Zerfalls, die Kräfte, die Tirol noch verteidigen sollten, waren schwach und schlecht motiviert, Ausrüstung und Kriegsgerät nur noch mangelhaft vorhanden und die von Gauleiter Franz Hofer mit viel Aufwand und Inszenierung zusammengestellten Standschützen ohne Kampfmoral. Eine Alpenfestung, in der sich deutsche Elitesoldaten mit modernen Waffen zurückgezogen hätten, bereit zum erbitterten Widerstand, existierte nur am Reißbrett. Der Gauleiter unternahm mehrere Versuche, mit den Amerikanern in Kontakt zu treten, um einen Deal auszuhandeln, der sein politisches Überleben und das seiner Familie sicherte. Das Hirngespinst einer Alpenfestung war einer davon. Hofers Verhalten zu Kriegsende wird in diesem Kapitel einer detailreichen Analyse unterzogen.

Der Anteil des Tiroler Widerstandes an der Befreiung Innsbrucks war im Vergleich zur Entwicklung in anderen deutschen und österreichischen Städten etwas Besonderes. Voraussetzung dafür war der Einmarsch der Alliierten, ohne deren militärische Macht hätte die Widerstandsbewegung im Land nicht handeln können. Unter diesen Rahmenbedingungen ergriffen Männer wie Karl Gruber, Ludwig Steiner oder Werner Heine die Initiative und nutzten die Chance zu einer Machtübernahme im letzten Augenblick, als das NS-Regime sich bereits in Auflösung befand und seine Anführer dabei waren, zu flüchten. Der Umfang und die Qualität der widerständigen Aktivitäten von drei Agenten im Dienst des US-amerikanischen Geheimdienstes sind erst seit kurzem durch die Forschung von Peter Pirker ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gelangt. Der Tiroler Deserteur Franz Weber sowie Fred Mayer und Hans Wijnberg, beide jüdischer Herkunft, leisteten einen gewichtigen Beitrag für die...