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Die Erfindung der Null - Roman

Die Erfindung der Null - Roman

Michael Wildenhain

 

Verlag Klett-Cotta, 2020

ISBN 9783608120028 , 303 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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17,99 EUR

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Die Erfindung der Null - Roman


 

Induktionsschritt (1)


Am 22. Dezember, einen Tag vor Beginn der Weihnachtsferien, betrete ich den Seminarraum eines Instituts, das auf die Vorbereitung zum mündlichen wie schriftlichen Mathematikabitur spezialisiert ist und in dem ich seit über zwanzig Jahren als Nachhilfelehrer angestellt bin. Gelegen unterm Dach, ist es der größte und hellste der drei Unterrichtsräume meines Arbeitsplatzes in der Kanalstraße am Charlottenplatz. Ein schmales Fachwerkhaus mit aufgelassenem Dachstuhl, das dem Bohnenviertel zugerechnet wird.

Das Licht steht in den Scheiben der Zahnarztpraxis vis-à-vis und zeichnet einen Schattenwurf des flüchtig abgebeizten Tragwerks neben die Silhouette der neuen Regenrinne: verzinktes Stahlblech, weiß vom Frost, als grob schraffierter Haken auf der mit kreidestaubgewalkten Schwammresten nachlässig gewischten Tafel aus schieferblendeschwarz lackiertem Holz.

Soeben hat die Leitung, Herr und Frau Diplom-Mathematiker, zum Umtrunk geladen – man werde sich, bevorstehende Silberhochzeit, eine Auszeit gönnen. Sabbatical, ein halbes Jahr. »Sie, mein lieber Martin, halten ja hier im Haus die Fahne hoch.«

Obwohl ich mich beeile, das Glas Champagner, mit dem am Schluss der albernen Zusammenkunft angestoßen wird, in einem Zug zu leeren, komme ich zehn Minuten zu spät in den Unterricht.

Ebenso wie kürzlich, als ich das Plakat an dem Betonpfeiler entdeckt habe, der den Durchgang zur Kanalstraße markiert.

Die schräg in den nie geölten Angeln hängende Tür fällt mit einem Schlag ins Schloss. Ich stütze mich am vorspringenden Sturz über dem Rahmen ab. Nicht anders als gestern würdigen mich die Schüler, zwei Jungen, ein Mädchen, keines Blicks. Meine Verspätung nutzend, hat sich der Rest der Klasse offenkundig vorm Haus versammelt, um ungestört zu rauchen.

Die drei, die meine Frage: »Die andern?« schweigend übergehen, lassen keinen Moment ab von der Beschäftigung an jenem Teil der Tafel, der vom zurückgeworfnen Licht der Scheibenfront der Praxis noch nicht erreicht worden ist.

Bald nach dem Auftauchen der drei Mitte November – oft melden sich Schüler spät zu den Kursen an –, muss ich mich bei Gelegenheit nach den Gründen ihrer Teilnahme erkundigt haben. Zu ungewöhnlich kamen mir die drei Jugendlichen vor, für die das Amt die Kosten klaglos übernimmt.

»Wir wiederholen den Stoff.«

Zacharias’ Blick zu Juno, zu Lurek, eine Spur der Pose, die ihm damals schon eigen war. Juno, Lurek: hoben die Achseln und nickten nachdrücklich.

Zacharias. Ein Name, der mit hartem Z und hartem K und ohne S gesprochen wird, ein Junge aus Herat in Afghanistan, gut ein Jahr älter als seine Mitschüler. Jedem, der ihn fragt, gibt er von seiner Flucht in andrer Weise Auskunft. Unnahbar, dunkel. Nie ohne Juno und Lurek, der sich im Hintergrund hält.

Lurek. Speichelgesättigte Stimme, die ausschließlich Konsonanten kennt und die mir Übelkeit bereitet. Hätte jemand behauptet, der Junge wohne auf der Jugendfarm, dem Spielplatz an der Etzelstraße in einem der dürftigen Holzhäuser oder gar in einem Erdloch, hätte für mich kein Grund bestanden, daran zu zweifeln.

Lurek, sprachloser Schatten. Parterre an der Hohenheimer Straße, nur wenige Meter von der vielbefahrenen Fahrbahn entfernt: anderthalb Zimmer, Küche, bei seiner hochbetagten, stocktauben Großmutter.

Juno. Das Mädchen aus dem City-Hochhaus, schmuckloses Gebäude, kaum fünf Minuten Fußweg. Selten ein Frühstück. Bis zum frühen Nachmittag oft nur zwei Tassen Kaffee. Manchmal ein Milky Way. Oder ein Snickers.

Trotz ihrer Unverfrorenheit, trotz der fleckigen Leggins aus dem dünnen, hellen Kunststoff, der Gesäß und Schenkel wie eine eigens gefertigte Haut nachbildet, Kleidungsstück, das ich zu übersehen versuche, habe ich das Mädchen vor zwei Stunden, als es wie zufällig an dem chinesischen Restaurant auf der Charlottenstraße vorbeigeschlendert ist, an den Tisch gebeten, wo ich seit Jahren vor Unterrichtsbeginn zu Mittag esse. Ihr Appetit. Ihre wortlose Gier. Siebzehn Jahre sei sie alt. Körper einer Vierzehn-, höchstens Fünfzehnjährigen. Einsilbige Antworten. Auf meine selten gestellten Fragen. Flecken an beiden Oberarmen. Dunkel. Verschiedene Farben, changierende Schattierungen. Nach deren Herkunft mich zu erkundigen ich mir untersage. Kein Dank. Ihre oft akkurate Ausdrucksweise während des Unterrichts. Gewählte Formulierungen. Auch hier. Ihr häufig verblüffendes Wissen.

Vergessene Empfindung: ihre Schönheit. Verlorene Anmutung: mein Mitgefühl.

Schüler, wie ich sie in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nie unterrichtet habe. Geben sich einen Tag vor den Weihnachtsferien einem Spiel hin, das ich gestern das erste Mal bemerkt habe. Das mich derart verblüfft hat, dass ich der Beobachtung nicht habe trauen wollen – Zacharias, der sich beeilt hat, die Tafel abzuwischen.

Aufgewachsen, so die Auskunft des Anmeldebogens, in einem Vorort Teherans, nennt er – nur einen Tag nach der Irritation, just im Moment, als ich den Seminarraum betrete – neuerlich die Summenformel einer nicht gewöhnlichen geometrischen Reihe, diktiert einen Satz der Kombinatorik.

Lurek kramt einen Kreiderest aus dem Kasten unter der Tafel hervor, schreibt, ohne abzusetzen, mit ungelenken Fingern und kreischendem Nagel in der ihm eigenen Bedachtsamkeit den Beweis an die Tafel.

Hin und wieder dreht er sich zu Juno um, die bestätigend nickt oder das Gesicht missbilligend verzieht.

Dann wenden sich die drei wie auf ein Wort mir zu.

Ich überfliege die vollständige Induktion über die Menge der natürlichen Zahlen N. Keine Herausforderung für einen Mathematiker. Für Schüler, die Nachhilfe benötigen, nicht zu bewältigen. Die übrigen Schülerinnen des Seminars, ohne Interesse am Stoff und dumm wie Pappelsamen, rauchen oder schäkern auf dem Platz vor der Eingangstür mit dem einzigen Jungen des Kurses, dem einzigen außer Lurek und Zacharias. Auch dieser Junge dort unten auf der Kanalstraße ist kaum klüger als eine Scheibe Toast.

Zacharias betrachtet mich, einen Käfer, der unters Mikroskop geschoben wird.

»Sie waren mal Mathematiker. An Universitäten. In Hamburg und Berlin. Wir haben das im Internet über Sie gelesen.«

Die Spur des Schokoladenriegels in Junos rechtem Mundwinkel, als sie mit Nachdruck nickt.

Lurek, der seinen unförmigen Kopf ebenfalls auf und ab bewegt, ohne Zähne wie Lippen vorerst voneinander lösen zu können, während Zacharias mit leisem Triumph hinzufügt: »Vollständige Induktion ist ein Beweisverfahren, das nicht alle Mathematiker als gültig anerkennen.«

Bei dieser Feststellung klemmt sich Juno eine aus Kippenresten selbstgedrehte Zigarette hinter ihr linkes Ohr.

Mein Blick, bei dem ich mich beschämt ertappe: roséfarbene Leggins, die Laufmasche am Knie, auf beiden Oberschenkeln jeweils ein Kaffeefleck.

Indem der Schatten der verzinkten Stahlblechregenrinne wie ein Finger Gottes über die Zeilen von Lureks Beweis rutscht, beglaubigt er das Spiel der drei, während mir ein Schauer den Rücken herunterrinnt und ich mich fragen höre: »Wessen Idee?«

»Die hatten im Iran schon früher Folgen und Reihen, aber keine Beweise.«

Juno schnipst die Zigarette hinter ihrem Ohr hervor. Hilflos hebt Lurek die Schultern und senkt sie. Singt mit speichelsatter Stimme: »Ch, Hrr Gdlr.«

Eine Reihung von Lauten, die erwarten lässt, dass er sich übergeben wird.

Während Juno das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert, ihr Becken vorschiebt, umfasst ihre verfärbte, obere Zahnreihe einen Teil der Unterlippe.

»Wir möchten mehr über Mathe erfahren, über Mathematik.«

»Mehr als in dem Kurs hier.« Zacharias blickt mich aus dunklen Augen an.

Ich trete vor an die Tafel, als könnte der Beweis sich als gefälscht entpuppen, obwohl ich mit einem Blick die Schönheit des Arguments erkenne, die Klarheit der Abfolge umfassen kann. Kein Zögern, als ich frage: »Hättet ihr Interesse, nach Weihnachten hierher zu kommen? In den Ferien?«

»Nur wir drei?« Zacharias’ verwunschener Gesichtsausdruck.

»Ein Erweiterungskurs. Ein Sonderkurs. Wenn ihr wollt.«

Erneut der Tanz von Junos Becken, während Lurek, vergeblich wie meist, zu lächeln versucht und sich der Schatten des Regenrinnenfingers in das dunklere Abteil des Seminarraums verliert.

»Wir werden kommen.« Zacharias’ Augen glänzen: schwarz, geschliffne Kohle.

Zeichen, denke ich, Wunder – nach fünfundzwanzig fest verschlossenen Jahren ohne Ausweg.

Ich trete ans Fenster, sehe, wie sich eine großgewachsene,...